Handwerk & Achtung: PP73, Napoli, 2 gennaio 2014: Giovedì.

Und nun ist alles wieder normal:

Habe meinen Morgengang hinter mir, nachdem ich gestern nacht noch einmal auf der Golfpromenade war, östlich des Castellos dell‘Ovo, alles zu Fuß, Kilometer um Kilometer, die ein wenig ausgleichen, daß ich einiges esse, aber keinen Sport treibe. Dies wär das nächste, um daheim zu sein, einen Laufparcours haben, wohl auch ein Studio. Und eben, sich hinzusetzen, um zu arbeiten, nicht mehr dauernd herumzulaufen, um „sightzusee‘en“, einfach da sein, nicht weniger, auch nicht mehr, so, wie das ab morgen mittag dann bei >>>> Parallalie sein wird, dem Freund, wo wir uns vorlesen und sprechen werden bei Wein ab fünf Uhr nachmittags. Ich will nicht vergessen, eine Flasche vom napoletanischen Bauern mitzubringen; sowieso ist dann morgen früh einiges einzukaufen von hier zwei Gassen weiter: Calamari, Totani, Cozze, vielleicht einige Gamberi und die aus dem hohen und armspannsbreiten offenen Faß geschöpften scharfen Oliven .
Die Sonne begrüßte mich warm und hell, jetzt bezieht es sich etwas, leichter Regen soll fallen, fällt tröpfchenweise, manchmal tupfe ich ein Wasserperlchen vom Laptop, harmlos, den Geräten nicht Feind. (Abermals das Widerstreben, direkte Fotografien zu machen, nur in die Menge hinein oder auf Fassaden halte ich drauf; muß eine andere Haltung entwickeln, wenn es denn mit dem Bildband etwas werden soll, Bilder und kleine Texte, mal ein Gedicht, mal eine Überlegung. Und bestätigt im Innern: Dächer Neapels, wobei die Spanne darin sein muß, die in die Erde, in die Unterhöhlungen führt. Zu den Toten, die Zwiesprache mit den Lebenden halten.)
Völlige Irritation der schwarzen Sonnenbrillenverkäufer, daß ich auf einem ganz bestimmten Modell beharre, und heiter, wie mich einer dann fragt: „Anche senza marcha?“, also ohne gefaktes Designer-Logo? nix Ray Ban, interessiert mich alles nicht. Und er pest davon, ich möge eine Minute warten, aus der dann zehn Minuten werden, weil er bei seinen Kollegen nach diesem Modell fragt, von dem er nur ein einziges Exemplar dahatte, und wie er in die Fälscher-Werkstatt läuft, um zu fragen, ob da noch solche Modelle in Arbeit… eine ganze Industrie der Kleinfälschens, Fendi, Ray Ban, Nike, drauf auf die Blender, und die Kunden fühlen sich, als gehörten nun auch sie dem Haus der Hohenzollern an, Neuer Hohenzollern, Neuer Aragonesen, Neuer Karliten.
Wichtig wäre auch ein Gedicht über den Müll und das Plastik: ganz Italien ist von der buntem Plaste überschwemmt, besonders die Kinder schwimmen darin, in Spielzeugfluten bis in die Lunaparks; und eben der Müll. Ich stellte mir vor, die Gassen und Straßen wären frei davon, welch ein anderes Bild das ergäbe, wären nur geputzt und hygienisiert. Was mich am napoletanischen Müll fasziniert, mich ihm geradezu gewogen macht, das ist, daß er hier nicht versteckt ist, daß nicht versteckt wird, was wir produzieren, daß mir nicht Spurenlosigkeit vorgetäuscht wird, sondern die Härte ist die Härte (und die Süße ist die Süße). Als ich heimflanierte vom Golf und diesmal nicht den Rettifilo nahm, sondern, am Molo Beverello vorbei, dem großen Fährhafen mit seiner prächtigen alten Kapitanerie, hinter dem wuchtigen Castel Nuovo die Ausfallstraße, lagen vor den Fünfzigerjahrebauten der dortigen Firmen, direkt an die hohen Scheiben stoßend, auf untergelegten flachgetretenen Packkartonagen die Obdachlosen zum Schlaf, auf alten Matratzen unter alten Decken, steckten sich aus, warteten für den nächsten Morgen, um im Traum wenige Stunden Erlösung zu finden. Es roch scharf nach ihnen. Sie waren sehr friedlich, Mensch neben Mensch, eine düstere Kette des Elends den grausam nüchternen Hafenanlagen gegenüber und der Mauer, die sie, ihre Freihandelszonen, von der Stadt kilometerlang trennt. Frei ist der Handel aber sowieso dort, Schmuggelhandel, und die Schuhverkäufer, die im Marktbereich der gebogenen engen Via Candida ihre zu Ständen auslaufenden Ladengeschäfte betreiben, bieten die zu Drittweltbedingungen gleich hier in Neapels Scondigliano, in Neapels Terzo Mondo und den anderen Vorstädten produzierten Designermodelle mit dem Hinweis an: Scarpe italiane, no cinese. (Ich kaufe, wider mein schlechtes Gewissen, in Neapel jedesmal Schuhe, so auch heute früh zwei Paar. Man bekommt nirgends schönere und sorgsamer gefertigte, jedenfalls zu diesem Preis. Das ist keine gültige Ausrede, freilich, ebenso wenig, wie, daß man die italienischen Markenschuhe aus denselben Werkstätten in Deutschland bekommt, wenn man im Luxusladen einkaufen geht: auch die dortigen Waren sind unter den elenden Bedingungen produziert worden wie die hiesigen, fünfzig Cents pro Stunde, über meine Damen gepeilt. Nur daß wir in den wirklich reichen Ländern, zu denen Deutschland mit Nachruck gehört, das Zehnfache zahlen. Die Differenz kommt nicht den Produzierenden zugute, sondern der Camorra und den großen Firmen. Um von H&M besser zu schweigen: dort fünf Cents pro Stunde?
Vielleicht, daß ich den Lohn wenigstens durch Achtung entgelte, die ich vor gutem Handwerk habe. So, wie der Schneider, von dem >>>> Saviano erzählt, daß er, der extrem unter Wert bezahlte, als Angelina Jolie auf dem roten Teppich von Cannes sein Kleid trug, seines, ja!, von ihm persönlich gefertigt, voller Stolz ausrief: „Das habe i c h gemacht!“ – Und ich, lieber verehrter Schuster, habe nicht wirklich Geld, mehr aber, freilich, sicher als Sie; ich möchte Ihnen hiermit versichern, daß ich Ihre Schuhe mit Ihrem Stolz tragen werde und mich an ihnen erfreuen und sie achten werde, wie man gutes Handwerk zu achten h a t. Und wenn es denn ginge, wenn ich Ihren Namen wüßte und er wäre als Monogramm auf die Schuhe gelabelt, das entfernte ich n i c h t.)

(12.48 Uhr.)

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Auf der Terrasse also wieder:

Und auch das Mittagessen ist geregelt: ob ich die Minestrone mitessen möge, fragt mich Michele gerade; der gesamte Allogio duftet heute morgen nach ihr. Also keine zusätzliche Geldausgabe für den Pranzo; das holt die Schuhkosten ein bißchen wieder rein. (Auch bei den Anzügen war ich versucht, konnte aber an mich halten).
(Abermals überschlagen, was mich preiswerter käme: eine Miniaturwohnug in Neapel mieten oder hier im Allogio unterkommen, wenn ich in Neapel bin; bei drei bis vier Wochen pro Jahr, sogar bei zwei oder drei Monaten rechnet er sich besser. Aufenthalte darüber hinaus sind derzeit unrealistisch. Es gibt auch noch die Woche in Paris, und die sechswöchige Seereise steht mir bevor, und wenn es mit >>>> Goethe klappt, wenn Goethe entsprechend entschieden hat, werde ich für das Europaprojekt viel unterwegs sein.)
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Hier nur sein. Hier arbeiten. Dächer Neapels. N o c h eine weitere Erzählung kam mir in den Sinn. Wobei es mir imgrunde um den ganzen Golf geht, von Sorrento über Capri bis Procida, Baia, Solfatara, Napoli.
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An das Gedicht über den Müll gehen.
Das Plastikgedicht.

Und dieses Gewimmel, Menschengewimmel! Das Beharren, Sichbeharren, Sein und immer Weiterwerden, das Sichvermehren: schroffer Gegenentwurf zu den Sportfilmen, die in meiner Muckibude von den Bildschirmen künden, daß die ganze Welt ein Spielplatz sei, keine Welle zu hoch, um sie nicht lässigst zu durchsurfen, kein Fels zu überhängig, um ihn nicht mit bloßen Händen und Turnschuhen zu unterklettern und auf ihn zu klettern, kein Schneehang zu steil, den man nicht herabjagt: die Olympiaden ausgerichtet von Swatch, von RedBull, von den anderen Fürstenhäusern des Kapitalismus. Was da rein physisch zuwegegebracht wird, von deren, um im Bild zu bleiben, Rittern (und Ritterinnen) und mit welcher geradezu existenzspöttischen Gestik, wäre vor einhundert Jahren völlig unvorstellbar gewesen. Welch Lebensaufwand allein für das Training! Hier dagegen der Aufwand, um rein zu überleben… Man kann die Differenzen gar nicht scharf genug benennen; dafür ist eine Ästhetik zu finden, eine, die nicht wider das andere das nächste ausspart. Andernfalls ist Kunst sinnlos, der Dichter nichts als Entertainer.

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