Nie geheilt das rasende Begehren. Premiere: Der feurige Engel von Sergej Prokovief in der Inszenierung Benedict Andrews an der Komischen Oper Berlin, dirigiert von Henrik Nánási.

[Bilder >>>> dort.
Foto im Saal: ANH/iPhone.]

Welch ein sängerischer Parforceritt Svetlana Sozdatelevas!
Fast ununterbrochen während der über zwei Stunden währenden Aufführung hat ihre Stimme, und mit welchen Anforderungen!, präsent zu sein. Alleine das wäre einen Jubel wert, auch wenn einen die absolute Zwangsläufigkeit des Geschehens solchen Jubel in den Rachen gleich wieder zurückstopft: Der Teufel selbst scheint Prokofievs Feuriger Engel zu sein – wär er denn nicht, was die Inszenierung durchaus denken läßt, nur das Innenbild eines nie erfüllten, furchtbar christlich in Sünde umgemünzten Begehrens. So daß es pervertieren muß. Wo keine Freiheit der Sinne, zumal der sexuellen, wird schließlich selbst der Feuertod in einen Befreiungsakt umverfälscht. Das ist das Grauenhafte an dieser Oper, wie unbedingt sie das zeigt, mit welcher unerbittlich voranstampfenden Logik.
Als kleines Mädchen hatte Renata eine Engelserscheinung, mit der sie vertraut umging, und sie mit ihr, bis die Pubertät kam und Innigkeit auch Körperliches wollte. Sei es denn nicht ganz, fragt Renata, ein organischer Ablauf der Dinge, daß Nähe sich vollenden wolle? Woraufhin sie weggestoßen wird, alleingelassen von dem, wer immer das gewesen, Engel.
Seither sucht sie ihn, fand ihn in einer Projektion, die ihr indes ihr Begehren abermals zur Sünde machte. Der Regisseur, Benedict Andrews interpretiert diesen Mann, Graf Heinrich, in der Maske eines Priesters, was von Anfang an Renatas Vergeblichkeit mehr als nur illustriert; später tritt dieser Graf denn auch als Inquisitor auf, der für die unterdessen ins Kloster gegangene Frau den Scheiterhaufen fordert, weil ihr tobendes Verlangen längst auf die Mitschwestern übergesprungen ist, eine folie à deux à mille, für die es in der Operngeschichte eine gewaltige Entsprechung gibt: Krzysztof Pendereckis nach Aubins Aufzeichnungen komponierten „Teufel von Loudon“. Anders als dort im Beichtiger Grandier, findet sich bei Prokofiev für den sexuellen Massenwahn aber nicht wirklich ein Objekt des Begehrens, sondern dieses bleibt eines der reinen Vorstellung. Der theologische Skandal daran ist, daß dasselbe von dem gesagt werden kann, der den Kreuzestod starb: Somit balanzieren sich Gut und Böse gleichberechtigt aus, weshalb es inszenatorisch hoch sinnvoll ist, den geforderten Feuertod mit einem selbstgewählten zur Deckung zu bringen. Gleichsam wird er, der doch bestrafen soll (und, „natürlich“, reinigen), zum Triumph. Das genau entspricht aber der Doktrin der Inquisition. Diesen Zusammenhang zu erfassen, ist allerdings dem Publikum überlassen.
Das hat sich vielleicht ein wenig zu viel von dem aufschießenden Feuerzauber zu Ende der Inszenierung vereinnahmen lassen. Betroffenheit, Schockiertheit sogar, wäre angemessen gewesen und abermals, sich um die Dynamik scheinmoralischer Verklemmtheit, ja Niederdrückung Gedanken zu machen, besonders in einer Zeit – sie ist unsere Gegenwart – , in der „Correctness“ zur ultimativen gesellschaftlichen Handelsmaxime geworden ist.
Es ist, in der Interpretation dieses Musiktheaters an der Komischen Oper, das besonders Auffällige, wie Renatas vorgeblicher Wahn auf nahezu alle überspringt, die ihr nahekommen. Das geht bis zum – auch kompositorisch radikal gestalteten – Klopfen der Geister, bzw. des Verführers, den auch der nächste um Renata Werbende vernimmt und woran er so sehr, ebenfalls vor Verlangen, ertaubt, daß er selbst vorm Morden nicht zurückschreckt, wenn er die Frau, die ihn aber gar nicht will, damit gewinnen kann. Wie pervers die Dynamik ist, wird spätestens dann klar, wenn sie ihn, Ruprecht, wieder von sich stößt, nachdem er sich um ihretwillen auf ein Duell eingelassen hat, dabei schwer verwundet und von ihr, die „reuig“ zu sein schien, gepflegt wird. Denn kaum, daß er wieder auf den Beinen ist, verläßt sie ihn – abermals wegen des Feurigen Engels, den sie seit früher Jugend sucht. Und zieht sich in das Kloster zurück, in dessen bescheidenem ergebenen Leben sie Heilung erhofft. Statt dessen übernehmen die Schwestern ihren Wahn, spiegeln ihn auf sie zurück und rufen die Frau als ihre Heilige an. So wird der Inquisitor geholt – das ist für die Ordnung der Kirche ebenso unerbittlich logisch wie für die Verklemmung ihr, wo immer es geht, perverser Ausbruch.
Prokofiev hat das treibende Sehnsuchtsmoment in drängende Streicherklangflächen gelegt, die immer wieder voll Heilsversprechen sind, aber in der Ungefährheit ihrer Tonalität auch verwirrend, und unstet, sekundiert im zweiten Akt von den Klopfschlägen, die Schläge wirklich sind, fatale, zudem ein „Spiel“, ein verzerrtes, mit der christlichen Dreizahl. Die Oper legt es nahe, daß tatsächlich der Teufel es treibt. Die Inszenierung hingegen, modern, erhebt Einspruch, denn er, der Teufel, legt seine Maske ab, bei Tisch. Das gehört zu den großen Momenten dieser Regie, eben n i c h t ein Schauermärchen zu zeigen noch gar eine leibhaftige Existenz des Bösen zu konzedieren, sondern immer eine Lesart offenzuhalten, die auf persönliche Traumata rückgespiegelt ist. Andererseits läßt sich der Regisseur im Programmheft vernehmen, es komme ihm s c h o n darauf an, ein Heiliges zu zeigen. Darüber, sicher, kann man streiten; es überwächst die Inszenierung aber eben nicht; sie funktioniert auch ohne dieses – vor allem auch deshalb, weil durch den Auftritt vieler wirklicher, zum Teil recht kleiner Mädchen – und pubertierender, bis sie Frau sind – die psychopathologische Lesart, die gesunderseits einfach nur eine der Adoleszenz ist, an das Heilige nicht verraten wird. Auch diese Mädchen rollen sich schon.
Gestalterisch arbeiten Andrews und sein Bühnenbildner Johannes Schütz in sozusagen abstrakter Anlehnung an Bilder Edvard Hoppers; auch hier aber wieder herrscht eine dem US-Amerikaner noch ganz fremde Modulität vor: Das Ansehen wird in, ecco!, Module zerlegt, aus denen sowohl Trennwände und Gänge als auch Klosterzellen werden können; anders als bei jenem wird auch sakral inszeniert, etwa vermittels auf der Drehbühne rotierender Kerzen usw., die eben immer auch auf ein religiöses Moment verweisen, inkl. auf den Teufel als Antichrist. Damit wird die Interpretation und vor allem die Deutungs-Besetzung der Geschehen gleichsam überhöht – nicht, weil dies wirklich notwendig wäre, sondern weil das die Unerfülltheit – zumindest irgendwie – aushalten läßt, ja ihr einen Sinn und damit Wert verleiht. Exakt das ist die Dynamik der hier herrschenden Perversion, einer tatsächlich religiösen, in der Renata schließlich verbrennt, verbrennen muß. Was passiert, ist von allem Anfang an aussichtslos: Genau darüber lacht der Teufel. Der bei Prokofiev, deutlich zitiert, als Mefistofeles auftritt, begleitet von einem gänzlich desillusionierten ebenfalls zitierten Faust, denen beiden sich Renatas verstoßener Niemals-Geliebter Ruprecht endlich anschließt. Evez Abdulla spielt und singt ihn, an seiner Liebe schließlich zerbrochen, mit der ganzen sehnsuchtsvollen Männlichkeit eines verdischen Troubadours; auch er hat einen sängerischen Parforce-Ritt sondergleichen: Hetzjagd fürwahr.
So hetzt die Musik denn voran, atemholend ganz selten in lyrischen Partien, die zudem schnell überwölbt werden von den Schlägen des Schlagwerks und den, wie bei Tschaikowski, „fatalen“ Themen; sozusagen ist gar keine Zeit, sich zu besinnen: Man strömt mit Gewalt dem gewaltsamen Ende zu. Das ist beeindruckend, hat aber den Nachteil, daß die musikalischen Themen auch uns, den Hörer:inne:n, keine Minute Besinnung lassen; mit jedem neuen Akt weniger; der erste ließ uns noch Zeit für Renatas große, nie freilich abgeschlossene Sehnsuchtsarien.
Auch über uns also, das Publikum, rast das und wölbt sich hinweg. Es braucht gewiß, um dieses Stück wirklich zu erfassen, einiges wiederholte Hören. Dafür, wenn man sich dem Unheil aussetzen will, ist mehrmaliges Hineingehen unbedingt erfordert – oder wir besorgen uns eine Vergleichsaufnahme, machen uns vertraut und sehen die Inszenierung dann noch einmal an. Die Frage aber ist, ob sich dann das aus der Kunst Erhoffte: Reinigung, Erlösung, eigene Befreiung angesichts des Elends anderer, wirklich auch einstellt, oder ob wir nicht, weil eben selbst überwölbt, nur sprachlos ausgesetzt bleiben. Ich kann Ihnen da keine Gewißheit geben, werde es selbst erst ausprobieren müssen: indem ich tiefer in dieses Stück eindringe, als bei einem erstmaligen Erleben möglich ist. Was schließlich wird „hängen“ bleiben, dauerhaft, außer den vielen heftig stürzenden Linien in Geigen und Violinen, so daß auch diese Oper eine Repräsentanz in unserm Innern bezieht? Darum, genau darum, geht es doch immer in Kunst und nicht um einen gelungenen Abend allein. Ein solcher freilich war er ohne Zweifel. Davon sprach deutlich der Jubel nachher.
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Henrik Nánási dirigiert sich mit stravinskischem Frühlingsopfer-Furor durch die Partitur, läßt das Orchester auftrumpfen, sich hochbeugen, stürzen; es gibt selbst an den gefährlichen, weil sentimental retardierenden Stellen kein Verschleppen. Und wenn Renata voll Begehren träumt, gibt er ihr allen Schmelz, den das slavische Melos kennt, läßt er sie ihm Klanggestalt verleihen, ohne ihn mäßigend, sagen wir: „vornehm“, zu kultivieren. Genau das macht diesen Umbruch von Begehren in Grausamkeit tonbildlich offenbar: Wer Unrecht erfuhr, wird Unrecht begehen. – Daß Mefistofeles eben daran sein Vergnügen hat, führt mit eitelstem Lachen, nämlich ungoethesch antiharmonisch, Dmitry Golovin mit offenbarem eigenen Vergnügen vor. Es sind diese Momente, die einem hier immer wieder den Atem nehmen, viel weniger, als der doch recht bieder, geradezu calvinistisch anmutende Inquisitor Jens Larsens: zu deutlich seine, des Inquisitors, Angst vor dem Trieb, als daß man ihm das Machtkalkül eines Savonarolas abnehmen würde. In der Komischen Oper läßt ein Kleinbürger meucheln, nicht ein Macchiavellist, der sich an den rolligen Nonnen noch bedienen würde, die er der Staats- und Kirchenraison halber auf den Scheiterhaufen bringt. Bereits als Graf Heinrich machte er eine allein nur verklemmte Figur, der gegenüber Svetlana Sozdatelavas Renata wie eine Heilige tatsächlich wirkt und nicht wie das, was sie ist: eine schon als Mädchen tief verwundete und ob der Verwundung wieder und wieder, von ihrer Sehnsucht, gestoßene, auf ewig verlassene Frau. Die eben deshalb hilloses Mädchen für immer geblieben.
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[Besprochen ist die Premiere vom 19. Januar 2014.
Der Feurige Engel >>>> auf der Website der Komischen Oper.]



Sergej S. Prokofjew
DER FEURIGE ENGEL
Oper in 5 Akten (1955)
Libretto von Sergej Prokofjew, nach dem Roman Огненный ангел (1908)
von Waleri Jakowlewitsch Brjussow

Inszenierung Benedict Andrews – Bühnenbild – Johannes Schütz
Kostüme Victoria Behr – Dramaturgie Pavel B. Jiracek – Chöre David Cavelius
Lichtdesign Diego Leetz

Svetlana Sozdateleva – Evez Abdulla – Christiane Oertel – Dmitry Golovnin
Alexey Antonov – Jens Larsen – Xenia Vyaznikova – Christoph Späth
Máté Gál – Hans-Peter Scheidegger – Bernhard Hansky

Chorsolisten, Komparsen und Zusatzchor der Komischen Oper Berlin.
Orchester der Komischen Oper Berlin.
Henrik Nánási

Die nächsten Aufführungen:
Do 23.1.2014
So 2. und So 16.2.2014
So 2.3.2014
Do 10.7.2014
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