Bleisee. Seemüd in der Biskaya. Der achtunddreißigste auf den neunundreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See, nämlich PP167: Freitag, der 8. Mai 2014.

>(8.05 Uhr.
MS Astor, Kabine 227.)

Wir fahren auf den Kanal zu. Die Biscaya war ruhig, sehr ruhig, zu ruhig für meinen Geschmack. Daß sie auch kalt war, damit war zu rechnen. Schweres Gewässer, ganz selten gestern ein Sonnenstrahl, eigentlich gar keiner. Der frische West aber frischte nicht auf, ließ nur das Wasser lasten. Ich ging bis zu den Ohren eingehüllt, Pullover zweidrei Schals Lederjacke lange Jeans Sneakers, und spürte, wie ich Minute um Minute an Farbe verlor. Antriebsschwach, wieder den Sport ausfallen lassen, es ist diese Lichtlosigkeit gar nichts für mich. Wenn wenigstens Sturm gewesen wäre!
Das Schiff bereitet sich auf den Wechsel vor; in Lissabon kam bereits deutsche Crew an Bord, seit Santa Cruz reist jemand der deutschen Eignerfirma mit; in Harvich, übermorgen, wechselt quasi die gesamte Besatzung, insbesondere des Sevices, weil in Bremerhaven am Montag die deutschen Reisegäste kommen; da soll man eingearbeitet sein. Ist mir übrigens schleierhaft, wie man in der beginnenden Wärme des deutschen Frühjahrs eine Reise in die Kälte buchen kann: ans Nordkap und erstmal um Großbritannien herum, dann über Spitzbergen in die Behringsee bis Alaska und Canada. Ich steh draußen auf dem Achterdeck und fröstel. Gestern nacht kam es mir vor, als hätte ich Fieber, während ich gleichzeitig bibberte. Doch über Nacht hab ich das weggeschlafen. Es war, wie ich‘s auch dachte, seelisch.
Alles im Umbruch nun, wie geschrieben. Für die Wintersaison war das Schiff an ein englisches Unternehmen verchartert worden. Jetzt werden die englischsprachigen Bücher aus der Bibliothek genommen und die deutschen wieder einsortiert; einige auch vom Entertainment helfen dabei mit. Während an Deck mit besonderem Nachdruck renoviert, gemalert, bepinselt wird, Planken werden ausgebrochen und ersetzt, die Tische und Stühle kontrolliert. Wenn die australischen Passagiere von Bord sind am Sonntag, wird alles wie Edelweiß glänzen. Einige neue Passagiere werden die Überfahrt nach Bremerhaven mitmachen, aber insgesamt seien es nur, bis gestern, sechzig, hörte ich. Man hat Emails an die jetzigen Passagiere verschickt, Sonderangebot, für alle, die die Passage noch mitmachen möchten, 99 Britische Pfund. „Das kam leider etwas spät“, sagt meine Schweizer Freundin D. „Ist doch längst gebucht, mein Flug von Gatwick nach Zürich.“
***

Abermals eine Stunde die Uhr vorgesellt, meine Kompaß-App im Ifönchen fängt zu protestieren an. Immerhin, jetzt sind wir, Sie und ich, wieder zeitidentisch. Das Irrste aber ist, daß mir schon heute Lisboa wie ein Traum vorkommt, doch wie ein mächtiger, übermächtiger, der sich fast völlig über Santa Cruz gelegt hat. Ich war doch so be-, im Wortsinn, geistert! Jetzt ist da nur noch Lissabon, im Geist. Und Port Louis, Mauritius, ist geblieben, mit ebensolcher Plastizität. Alles andere verrinnt, verblaßt, schon jetzt, als hätte ich eine Woche lang Reisesendungen im Fernsehn gesehen. Sogar Kapstadt. Ich werde die Fotos brauchen, wenn ich mich erinnern will. Von Cabo Verde bleibt das von Max Ernst gemalte Wrack unter See. Ich stand heute morgen in der fast schon Nordseefrische, nippte von meinem plörrigen Kaffee, rauchte einen Cigarillo und versuchte, Kilometer für Kilometer meiner Reise noch einmal nachzuvollziehen, in angemessener Chronologie. Chronos verweigert sich aber; statt dessen schimmern Zeitflächen auf, die keine Stetigkeit kennen. Eine Straßenecke in Hongkong, der Gemeinschaftsraum des Sundancer‘s in Freemantler sowie die Südmole da, ganz Port Louis, aber schon der Indische Ozean schmilzt auf kaum einen Tag zusammen, auf bisweilige Güsse schwerwarmen Regens, dann die Wale vorm Kap der Guten Hoffnung, von Kapstadt die gräßliche Waterfront und der Schwarze Markt, der zweidrittels vor sich hinschlief, sowie einige Gesichter von Händlern, mit denen ich feilschte. Da bin ich aber bereits in der Wüste: Heute morgen kommt mir mein Ritt auf dem Kamel länger vor als alle meine Seetage zusammen. Wie also wird das für Lanmeister sein, der das Schiff doch niemals verläßt? (Bekannte, von den Landgängen, bringen ihm bisweilen ein Souvenir mit an Bord, die stellt er in seiner Kajüte auf, um sie zu betrachten. Ich wiederum habe begonnen, Stefan Maus‘ nur als eBook erschienenen Roman „Die reinen Herzen“ zu lesen; elegant formuliert mit manchmal einem allzu stark gewollten Hang zur allerdings so virtuos gehandhabten Witzigkeit, daß man befürchten muß, es sei, was als Satire daherkommt, eine ziemlich finstere Realität. Aber dazu werde ich, nach Abschluß der Lektüre, noch gesondert schreiben. Ich habe mich auf den ersten hundert Seiten gefragt, wieso dieser Text offenbar keinen Verlag gefunden hat; daß Maus literarisch schreiben kann, ist auf ersten Blick klar; es hätte aber ein fremdes Auge mit darübergehen sollen; das ist ein bißchen schade, daß das, so spüre ich, nicht geschehen ist. Aber daran liegt es nicht. Sondern daran – nach weiteren hundert Seiten gab es für mich keinen Zweifel mehr -, daß der deutsche Literaturbetrieb solch eine geballte Ladung Sexualität nicht verträgt, vor allem, wenn sie derb und spöttisch zugleich daherkommt und nennt, was benutzt wird. und außerdem sich noch mit Politik, oder sagen wir: Abrechnung, nicht nur sozusagen dauerpaart, worinnen wiederum „die Kirche“ einige Rollen mitspielt. Der Betrieb ist bis in seine Grundfesten prüde, woraus notwendigerweise folgt, daß er bigott ist. Wenn dann noch jemand nicht ‚politisch korrekt‘ schreibt…. – Es ist eine entschiedene Stärke des übrigens sehr unterhaltsam zu lesenden Romans, daß Stefan Maus genau dies nicht tut: „korrekt“ schreiben. Correctness ist, und zwar immer, Tartuffe. So kriegen Sie von mir sogar noch ein Bonmot heut früh. Seien Sie dankbar! Correctness ist Tartuffe. Sie dürfen das weiterverwenden, auch wenn Sie die Quelle nicht nennen. Von Unholdsherzen: Ihr Herbst.

Bleisee. Ich bin seemüd seit gestern.

***

Ah nein, n o c h eins, ich notierte das aber vorgestern schon:

… daß sich alternde Frauen wie Püppis kleiden, ist nicht peinlich, weil sie aufs Alter zugehen, sondern weil sich die Püppis so kleiden. Das müßten sie, diese Frauen, in ihren Lebensjahren nämlich gelernt haben. Mode gewordene Dummheit ist im Alter nicht mehr entschuldbar. (Spitzenstülpchen über den Knöcheln und Dolores-Blume im schütteren Haar.)

*

(‘s wird Zeit für meinen Dreitagebart wieder, Bräune krieg ich eh nicht mehr.)
*

6 thoughts on “Bleisee. Seemüd in der Biskaya. Der achtunddreißigste auf den neunundreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See, nämlich PP167: Freitag, der 8. Mai 2014.

  1. Stefan Maus’ reine Herzen. Die Internetverbindung ist zu schlecht, um Ihnen den Link auf das eBuch zu legen; die Amazon-Seite öffnet sich nicht. Tut mir leid, aber Sie können sie ganz sicher auch ohne meine Hilfe suchen.
    ANH

  2. Falsch verbunden? Wir haben die Poetik des Herrn Herbst offenbar falsch verstanden, sonst würden die Kommentare doch nicht gelöscht werden, oder???

    1. @Mascha. Kommentare wurden gelöscht? Ich bin erstaunt. Solche, die man ernstnehmen müßte? Kann ich mir nicht vorstellen. Müll freilich gehört auf den – Müll. Oder kippen Sie bei sich zuhause Abfall vor Ihren Eßtisch? Ganz sicher nicht. Und ins Bett wahrscheinlich auch nicht. Ich denke, daß auch Sie spülen, wenn Sie sich in der Toilette erleichtert haben.

  3. AHA! Nein, doch nicht…. ich dachte im zeitalter des recyclings ist MÜLL ein wahrer goldschatz geworden!? Gewusst wie, kann man damit sehr reich werden. Und dann ist ja auch noch das Problem WOHIN mit dem Müll, der keine Verwendung mehr findet? Runtergespült ist ja auch nur aus den Augen aus dem Sinn. Im Text gings ja auch um “Kehricht”, passt ja zum Thema…. Na dann Schiff ahoi!

  4. Zehn Jahre Lieber Alban Nikolai Herbst,

    bald schauen Sie und Ihre Blog-Leserinnen 😉 auf zehn Jahre “Die Dschungel. Anderswelt” zurück. (Ich hoffe, ich irre mich nicht.) Vielleicht können Sie rückblickend etwas dazu sagen. Mich persönlich würden besonders die Anfänge interessieren, die Schwierigkeiten, mit denen Sie dabei zu kämpfen hatten, die Schreibdisziplin, die Sie an den Tag legen. Ist diese Disziplin ein Opfer, das Sie bringen, oder geht ihr eine Notwendigkeit voraus, mit der Sie eher Leichtigkeit verbinden?

    Mit Dank für Ihre tagtäglichen Gedanken und mit herzlichen Grüßen, Ihr
    AB

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .