PP182, 6. Juli 2014: Sonntag. Wieder einmal zur Perversion, diesmal bei Lawrence.

(Arbeitswohnung, 8.04 Uhr.
Stille.)

Kaum zurück, gleich ein bißchen Chaos: Da nun heraus ist, daß ich meine Steuererklärungen selbst verfertige, was ich auch nicht mehr ändern will, muß ich sie früher abgeben als bislang; darüber lag gestern eine Mahnung mit neuem nahen Termin im Briefkasten. Wirft mich aus der Planung raus, weil auch noch der LeistenbruchsOP-Termin ansteht (morgen früh wieder Ärzte; >>>> nerv). Aber ich werd das heute noch angehen, auch gar nicht erst zu schieben versuchen, weil andernfalls alles andere gleich mit geschoben werden müßte, sowohl Hörstück wie Roman. Was vom Tisch ist, ist vom Tisch.

War >>>> eine gute Veranstaltung am Freitag abend; vor allem, eh man sich versah, war die Zeit schon vorüber. Da war bei weitem nicht alles gesagt, aber es wäre wohl nie alles gesagt gewesen. Maiwald ist ein ausgesprochen lebhafter Gesprächspartner, sehr gegenwärtig, in manchem anderer Meinung als ich, irritiert aber, nach seiner Lektüre einiger meiner Texte, daß wir in manchem auch einer sind. Es wurde spät nachher, wir saßen einiges zusammen, tranken auch, jedenfalls ich, eine Menge, so daß ich am nächsten Morgen dann doch nicht um fünf hochkam, um etwas zu tun, und während der Rückfahrt nach Berlin las ich eigentlich nur: >>>> Lawrence ff. „Die sieben Säulen der Weisheit“ ist ein seltsam verschobener Titel für seinen langen Aufstandsbericht; er nahm ihn auch, den Titel, von einem alten Projekt her, das er aufgegeben hatte. Wirklich passen tut er nicht, weil er ein Buch suggeriert, das vielleicht mit Saint-Exupérys „Citadelle“ verwandt wäre. Hochinteressant aber die Schmerzerzählung, als ihn der homosexuelle Bej, der ihn ins Bett haben will, wegen seiner Weigerung auspeitschen läßt; da dann, in der Climax, diese beiden Sätze:

Ich fand mich neben der Bank rücklings auf dem schmutzigen Fußboden liegend, kraftlos hingestreckt, nach Atem ringend und doch auf unbestimmte Art gestärkt. Ich hatte mich gezwungen, allen Schmerz bis in den Tod hinein kennenzulernen und, nicht mehr als Mitspieler, sondern als Zuschauer, mir vorgenommen, nicht darauf zu achten, wie mein Körper sich aufbäumte und jammerte. Bei allem wußte ich aber oder stellte mir vor, was um mich her vorging.
>>>> 441 (Kursivierungen von mir).

Hier ist wieder der mich seit Jahren interessierende Prozeß einer Pervertierung ausgedrückt, die auch faktische Geschehen quasi uminterpretiert, solche, die sich nicht ändern lassen; aber indem sie pervertiert werden, ermächtigt man sich ihrer, bekommt sie in die Hand, als wären es eigene Entscheidungen. Es ist deshalb psycho/logisch, wenn Lawrence fünf Zeilen darunter schreibt, ihn habe dann „eine köstliche Wärme, wahrscheinlich sexuell,“ durchflutet. Sowohl das Wort fluten als auch, in der Balance, die der Kopf herstellt, das Wort vielleicht verleihen dem eine enorme Gegenwärtigkeit; das vielleicht zeigt die Freiheit der Selbstermächtigung an, die ihm überhaupt erlaubt, über die Vorgänge zu sprechen. Im Gegensatz dazu macht, erinner ich mich, Leans Film um das Geschehen einen Bogen, läßt uns nur ahnen, wohl auch deshalb, um das sadistisch-masochistisch Pornographische zu vermeiden, das in diese Episode wirkt. Der Bej selbst ist übrigens ein sehr schwacher Mann; seine Stärke bezieht er allein aus seiner Machtposition als Befehlshaber. Das macht ihn besonders widerlich. Dafür wird der Sadismus seiner Schergen geerdet: „Die Soldaten, die nun“, so heißt es auf der folgenden Seite, „ungehindert sprechen konnten, belehrten mich, daß die Mannschaften die Lüste ihrer Offiziere leiden oder aber, so wie ich eben, mit noch größeren Leiden dafür bezahlen müßten.“ Das Wort belehrten ist seltsam hier, seine Verwendung könnte eine Übersetzungsschwäche sein; sollte im Original „I learned“ stehen, wäre „erfuhr ich“ vorzuziehen gewesen.

An das Kreuzfahrt-Hörstück wieder, nachmittags dann mit der Steuererklärungs-Buchhaltung anfangen. Die Löwin fliegt heute abend nach Wien zurück, sie kam heute früh kurz über Skype. Nachzutragen ist, daß etwas, das ich für eine Legende hielt, tatsächlich funktioniert: eine Frau allein über Stimulierung der Brustwarzen zum Höhepunkt, ja zu mehreren in Folge, zu bringen; das körperliche Zentrum der Lust blieb unberührt, hing gleichsam in der Luft, bäumte sich da, ebenfalls gleichsam. Wenn das geht, ob es dann vielleicht auch möglich ist, Orgasmen allein über Sprache zu bewirken? Man kann sich Wörter ja als kleine, als winzige Instrumente vorstellen, deren chemische Repräsentanz im Gehirn das, sozusagen, seelische Lustzentrum reizen. Etwa ist mir nicht unbekannt, daß bestimmte Gedichte, wenn man sie vorträgt, Verliebtheit verursachen können; noch auffälliger geschieht so etwas beim Klavierspiel. In der Musik sind die Töne diese Instrumente. Analog, nur ungekehrt, dazu der mich nach wie vor prägende Satz – im >>>> Bleibenden Thier trägt er, dort für das Cello-Vorspiel gesagt, eine ganze Elegie: „Nichts klingt mit geschlossenem Beckenboden.“

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“Wie viel liest du eigentlich täglich?“ fragte mich >>>> José Oliver vorgestern nacht. „Ich wundere mich immer über dieses geballte Wissen, wenn ich Die Dschungel lese.“ Tatsächlich lese ich viel zu wenig, sehe viel zu viele Filme statt dessen, unterdessen. Es ist dies ein deutliches Zeichen dafür, daß ich fliehe, meine Schwächen dahingaloppieren lasse, anstelle ihnen, geschweige beherzt, in die Zügel zu greifen. Das wird nun aber immer dringender. Denn was zu erledigen ist, türmt sich, türmt sich auf; ich mag es nicht über mich zusammenstürzen lassen. Andererseits, so sagte ich >>>> in Meru Mbega zur Löwin, braucht ein manches seine Zeit, oder ihre; ich mag nicht weiterhin zwingen. Das habe ich in meinem Leben genügend getan.

Musik also. Was hör ich heute? Musik und Arbeit und nachmittags vielleicht ein Spaziergang mit meiner quasi-Familie. Es ist Sommer.

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