Auren & Ökonomie: Stadtteile. PP234, 29. September 2014: Montag.

(5.36 Uhr, Arbeitswohnung.
Britten, Erstes Streichquartett. In den Kopfhörern.)

Gestern war ein Sonntag. Zuletzt, glaube ich, hatte ich so einen, als es noch meine „>>>> Familientage“ gab, mein Sohn also noch klein war. Ein Tag ganz ohne Arbeit. Das war schön.
Sonne. Freunde kamen mich besuchen. Ich las ein wenig, sah einen Film. Aß einen Wolfsbarsch.
Ging vor Mitternacht schlafen, stand um fünf nun auf, bequem.
Erste Morgenpfeife.
Wenn du tausend Euro brauchst, kann ich sie dir leihen, sagte nachts die Löwin. Aber ich werde es auch ohne das, wieder, hinbekommen, Hörstückverzögerung hin, Hörstückverzögerung her. Zuversicht hatte ich immer, mein Leben lang. Ohne das gäbe es die oben aufgelisteten Bücher nicht oder vielleicht einzwei von ihnen. Ich bin es nur aus den drei letzten Jahren nicht mehr gewöhnt, knapp von Monat zu Monat zu springen. Schon oft wiederholt, den folgenden Satz, gell? „Ein gutes Pferd springt knapp.“ So, wie ich‘s gestern US sagte, als wir bereits nachmittags um vier (!) ein Helles tranken: Ehe ich wieder in ein abhängiges Angestelltenverhältnis gehe, leide ich lieber Hunger. Was eine ziemliche Übertreibung von mir war, zugegeben. Aber es zeigt die Richtung an. Frei sein wollen, ein freier Mann sein wollen, und es bleiben.
Das Netzwerk funktioniert nach wie vor. In der Arbeitsleere gestern früh dachte ich: am besten gleich die nächste Erzählung schreiben. Es liegen hier aus den zwei vergangenen Jahren drei Entwürfe herum, für, sagen wir, Novellen. Und ungefähr noch zwanzig aus beiden vergangenen Jahrzehnten. Das Problem ist, daß dann die Redakteurin anruft und sagt: Alles im grünen Bereich, dann legen Sie mal los. So daß ich den wiederaufgenommenen Text abermals liegen lassen müßte. Dauernde Neuansätze bekommen Erzählungen nicht gut, ob es sich um Romane oder um kleinere Arbeiten handelt.
Besser also, heute früh, mit der >>>> Chamber Music weitermachen. Das spitzt zumindest schon mal den rhythmischen Bleistift, freilich den des Semantischen gleichfalls. Übrigens liegt auch die „Neue Fröhliche Wissenschaft“ noch unerfüllt herum; Herbsts „Maximen der Lebensweisheit“ sind das, sozusagen. Eine gewisse Lebenstollheit.

[Britten, Zweites Streichquartett. Endellion-Quartett. Vinyl.]
Er wurde 63. Ich meine Benjamin Britten. Wenn man das als, sagen wir, Dreißigjähriger erfährt, denkt man, na, is‘ ja noch ziemlich lange hin. Von mir aus betrachtet, sind es allerdings nur noch knapp vier Jahre. Da ist die Perspektive dann doch eine ziemliche andere. Von mir aus betrachtet, ist Gustav Mahler bereits seit acht Jahren tot. Mein Vater wiederum hätte grad noch zweidrei vor sich, meine Mutter immerhin noch anderthalb Jahrzehnte. So springt man über eine Hürde nach der anderen, und sie folgen jetzt ausnehmend schnell aufeinander. Davon vergeht die Zeit noch ein Stückchen più velovemente. Interessant ist die Beobachtung, daß, je öfter wir eine Strecke fahren, sie uns um so kürzer vorkommt, auch wenn sie „objektiv“ immer dieselbe ist. Es gibt kein Litermaß des Lebens, das wir, wenn wir aus ihm auschenken, um jedes Ausschenken leerer werden sehen können, so daß die verbleibende Milch eine immer gemessene bleibt. Kein solcher Kelch geht bestimmt zur Neige, und falls doch, dann vor unseren Augen verborgen. So wissen wir nie, was noch drin ist: Ein Grund zur Zuversicht, sofern wir nicht schwer krank sind.
Es war ein Sonn- und Sonnentag gestern. Man brauchte erst abends einen Mantel, und selbst da nur einen leichten. Ich werde zunehmend jahreszeitenfühlig. Den Herbst zu mögen, ist etwas für sehr junge Leute. Einer engen Freundin mußte ich einmal versprechen, in die Hand, nie älter als 44 zu werden; bis einundfünzig habe ich das tatsächlich durchgehalten. Es war sogar leicht. Jetzt muß ich erstmal über meinen Vater springen, danach werde ich meine Mutter anvisieren. Dann Picasso. Sò. (Das Problem, indes, wiederum daran besteht in dem Umstand, daß sich aus der Einteilung von Leben in Abschnitte, die zu bewältigen sind – oder zu erfüllen, je nach Optimismusgrad –, abermals eine Beschleunigung ergibt. Denn der Charakter eines Abschnitts als Abschnitt gibt ihm das Vertraute bekannter Wegstrecken; es reicht, daß wir das Vertrautsein setzen, um es im inneren Gefühl vertraut tatsächlich zu haben. Und ecco damit wird die Spanne subjektiv „kürzer“.
„Subjektive Zeit“: eine Kategorie der Erfahrung.)

Morgenmeditation. Mit geht die >>>> Poesie als Lebensform, Sie merken es, immer weiter nach: in Wörtern meditieren. Dieses ist ziemlich weit weg von allem Die Welt verändern wollen; weit weg von der Dichtung als politischem „Engagement“. Etwa drang durch die Gespräche dieses Wochenendes immer wieder der Umstand, daß sich Szenestadtteile verändern, weil ihre Aura Menschen anzieht, die nicht an ihr mitwirken, aber von ihr partizipieren wollen. Anders als die, die sie schaffen, haben sie Geld und bestimmen dadurch diese Aura schließlich. Sie verändern und zerstören sie. Dann steigen die Mietpreise, und diejenigen, die die Aura schufen, müssen emigrieren. Im Village, NYC, war das so, auf Montparnasse war das so. Die Künstler, die das Niveau da schufen, könnten sich heute kaum mehr einen Café dort leisten. Auf dem Prenzlauer Berg ist das so. Der Kollwitzplatz ist innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre für jeden unlebbar geworden, der sich nicht anpaßt. Ich erinnere mich gut. Es ging damit los, daß aus einem Fenster gebrüllt wurde: „Ruhe! Hier leben arbeitende Menschen!“ Ich habe zurückgeschrien: „Dann ziehnSe doch wieder heim nach Friedenau!“ Woraufhin eine wassergefüllte Tüte auf unsere Kneipenbänke runtergeworfen wurde. ‚Arschloch‘, dachte ich, ‚weshalb suchste dir denn diesen Stadtteil aus?‘ Und ‚Schmarotzer‘, dachte ich, ‚willst Teil am Leben haben, aber wenndes sein könntest, isses dir zu laut.‘
Kreuzberg, das hintere, hat bis heute gerettet, daß dort am ersten Mai die Autos brennen und keine Fensterscheibe sicher ist. So lange das so bleibt, wird es dort eine Disneyfication nicht geben. Indes auf dem Prenzlauer Berg zu viele Kinder sind, die man schützen muß, um Straßenschlachten als gangbaren Widerstand akzeptieren zu können. Reifen aufschneiden lassen sich gleichwohl.
Die großen Lebensmittelketten gehen folgendermaßen vor. Da hier besonders von eingebürgerten ehemalsAusländern die Ladenschlußzeiten unterlaufen werden, so daß man halt auch nachts um halb drei seine Tomaten noch einkaufen kann, eröffnen diese Ketten Filialen mit offizieller 24-Stunden-Genehmigung. Darin unterbieten sie die Preise der kleinen Einzelhändler, können das auch. Daraufhin läuft denen die Kundschaft weg, einfach, weil sie sparen muß. Sind sie eingegangen, wird die Filiale wieder dichtgemacht. – Man muß das einen Verdrängungskrieg nennen. Er folgt der Logik der Kapitalkonzentration. Imgrunde ist es eine Spiegel der globalen Prozesse. Minimundus Prenzlauer Berg. Das hintere Kreuzberg dagegen ist nach wie vor Baskenland. Oder Nordirland.
Das Unheil beginnt fast immer damit, daß jemand „seine Ruhe“ haben will, aber in Aufbruchsgebiete zieht. Weil es in der Tat dort spannender ist als daheim in, sagen wir, München. Da zieht dann München immer mit und breitet sich aus, zieht nämlich nächstes und wieder nächstes München nach sich. Sofern man ihm nicht die Reifen dauernd aufsticht. Nichts, gar nichts ist so lebensfeindlich wie bürgerliche Norm. Sie ist möglichkeitenfeindlich.
Andererseits brauchen wir sie. Sie stellt den ökonomischen Mehrwert, den die künstlerische Produktion benötigt, damit die Künstler nicht, symbolisch gesprochen, verhungern. Und auch nicht symbolisch gesprochen.

Es gab in meinen ersten Berliner Jahren in jedem Herbst Obdachlose, die an den Straßenecken frisch gepflückte Pilze verkauften, meistens Maronen. Diese Privatverkäufer sind restlos verschwunden.

Morgencigarillo.

[Britten, Drittes Streichquartett.]

***
[11.13 Uhr.]

Mit dem Entwurf der Übersetzung von Chamber Music XX fertiggeworden; jetzt wird auf >>>> des Freundes Variante gewartet. – Ein guter Anruf Dos, die bereits ein Drittel des Traumschiffs gelesen hat. In die der Text, sagt sie, tief hineingeht. Bisher gab es gar keine andere Reaktion. Um so mehr wird es darauf ankommen, gerade diesen Roman vor einem nächsten, das zu erwarten steht, Verschwiegenwerden zu bewahren. Wie wir das hinbekommen können, darüber werde ich mit dem >>>> Verlag intensiv sprechen müssen. „Das Buch muß nur publik werden, alles andere wird von allein geschehen.“ So am Telefon die Löwin. An diesem „nur“ hängt aber alles.
Montale wieder vorgenommen. Ossi di seppia 7 im ganzen übersetzen. Nicht nur die eine von mir für das Traumschiff-Motto übersetzte Strophe. Reimprobleme, die >>>> Ferber beiseitegetan hat. Für mich hat der Reim zunehmend dieselbe Bedeutung wie für Parallalie die Anzahl der Silben.

[Schnittke, Zweites Streichquartett (1980),
Leonardo-Quartett (Oktober 1983).]

***

(17.28 Uhr.
Finzi, Klarinettenkonzert,
zwischen die Streichquartette geschoben;
die LP geriet mir „versehentlich“ in die Finger.)

Montale übersetzen:

Seit halb drei sitz ich dran. Morgen stelle ich Ihnen den Entwurf ein.
Jetzt muß mich was einkaufen; mein Junge ißt heute abend bei mir, und später bekommt auch Broßmann davon, der gegen 21.30 Uhr einrollen will.
Also, erst mal abbrechen. Aber roh steht das Ding nun auch schon.
***

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