Laudatio auf Christopher Ecker. Friedrich-Hebbel-Preis 2015. Gehalten am 27. März 2015 im Hebbelmuseum Wesselburen.

Sehr verehrte Damen,
sehr geehrte Herren,

Christopher Ecker arbeitet an einem Geheimnis. Es ist keines, das aus persönlicher Erfahrung entsteht, sei es einem besonderen Leiden oder dunklen Schicksal, sei es einem Erleuchtungs- oder besonderen Lusterlebnis. Vielmehr steigt es aus der Literatur selbst auf, sofern man bereit ist, ihr und nicht einer eigenen Absicht zu folgen, ob nun einer Botschaft, die zu vermitteln wäre, ob, daß man sein Publikum mehr oder minder ablenkend unterhalten wollte. Genau hier verläuft die Grenze von Eckers Dichtungen zur anderen, der sogenannten Realistischen Literatur – einer, und es ist die derzeit favorisierte, auf die durchaus zutrifft, was 1844 Friedrich Hebbel, nämlich in seinem Pariser Vorwort zu Maria Magdalena, ausgesprochen polemisch formuliert hat. Denn was er zur dramatischen Kunst sagt, läßt sich sehr wohl auf die des Romans übertragen. „Damit“, schreibt Hebbel in Bezug auf die „bisher nicht durchaus in einem lebendigen Organis­mus gesättigt aufgegangenen, sondern zum Teil nur in einem Scheinkörper erstarrt gewesenen und durch die letzte große Geschichts-Bewegung entfesselten Elemente, durcheinander flutend und sich gegenseitig bekämpfend“ – und er hat eine geforderte „neue Form der Menschheit“ im Blick -, – also

damit ist nun freilich der Übelstand verknüpft, daß die dramatische Kunst sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einlassen muß, da das Bre­chen der Weltzustände ja nur in der Gebrochenheit der individuellen erscheinen kann, und da ein Erdbeben sich nicht anders darstellen läßt, als durch das Zusammenstürzen der Kirchen und Häuser und die ungebändigt hereindringenden Fluten des Meers. Ich nenne es natürlich nur mit Rücksicht auf die harmlosen Seelen, die ein Trauerspiel und ein Kartenspiel unbewußt auf einen und densel­ben Zweck reduzieren, einen Übelstand, denn diesen wird unheimlich zumute, wenn Spadille nicht mehr Spadille sein soll, sie wollen wohl neue Kombinationen im Spiel, aber keine neue Regel, sie verwünschen den Hexenmeister, der ihnen diese aufdringt, oder doch zeigt, daß sie möglich ist, und sehen sich nach dem Gevatter Handwerker um, der die Blätter wohl anders mischt, auch wohl hin und wieder, denn Abwechselung muß sein, einen neuen Trumpf einsetzt, aber im übrigen die altehr­würdige Erfindung des Ur-Ur-Großvaters, wie das Natur-Gesetz selbst, respektiert. Hier wäre es am Ort, aus dem halben Scherz in einen bittern ganzen Ernst überzugehen, denn es ist nicht zu sagen, bis zu welchem Grade eine zum Teil unzurechnungsfähige und unmündige, zum Teil aber auch per­fide Kritik, sich den erbärmlichen Theater-Verhältnissen unserer Tage und dem beschränkten Ge­sichtskreis des großen Haufens akkommodierend, die einfachen Grundbegriffe der dramatischen Kunst, von denen man glauben sollte, daß sie, nachdem sich ihre Kraft und Wahrheit vier Jahrtau­sende hindurch bewährte, unantastbar seien, wie das Einmaleins, verwirrt und auf den Kopf gestellt hat.

Und etwas darunter schreibt Hebbel weiter, Zitat,

(…) aber jene Kunst, die, wie al­les Höchste, nur dann überhaupt etwas ist, wenn sie das, was sie sein soll, ganz ist, muß sich jetzt, wie über eine Narrheit, darüber hudeln lassen, daß sie ihre einzige, ihre erste und letzte Aufgabe, im Auge behält, statt es sich bequem zu machen und für den Karfunkel den Kiesel zu bieten, für ein tiefsinniges und unergründliches Lebens-Symbol ein gemeines Lebens-Rätsel, das mit der gelösten Spannung ins Nichts zerplatzt, und, außerstande, auch nur die dürftigste Seele für einen Moment zu sättigen, nichts erweckt, als den Hungerruf: was Neues! was Neues!1

Christopher Ecker, in nahezu allen seinen Büchern – ausgenommen vielleicht die zentral auf den geradezu klassischen Übelstand der literarischen Kritik, aber auch der allgemeinen der Künste durchaus boshaft zentrierte „Madonna“ von 2007 – h a t diese von Hebbel so streitbereit geforderte Aufgabe im Blick, und zwar mit einer auch persönlichen Konsequenz, was nämlich die Umstände seiner künstletiscvhen Berufsausübung anbelangt. Er wolle sich, erzählte er mir, auf keinen Fall vom Markt abhängig machen – womit wir wieder bei dem grassierenden literarischen Realismus sind, den ich >>>> in anderen Zusammenhängen ein Mißverständnis der Einfachheit genannt habe. Denn für realistisch gilt, was wir kennen, durchaus aber nicht, was das menschliche Handeln und unsere Ontologie tatsächlich bestimmt. Etwa kann eine darauf mit Recht Anspruch erhebende Literatur, die heutige Wirklichkeit zu beschreiben, die neuen Medien nicht ausklammern, schon gar nicht sie abwehren. Tut sie es, hat sie jeden Grund verloren, sich eine zeitgenössisch-realistische zu nennen. Nicht anders steht es bei Fragen der Psychologie. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß psychologisch gearbeitete Texte spätestens seit dem Dekonstruktivismus verpönt sind – und zwar sowohl auf dem Theater wie in der erzählenden Literatur. Statt psychologischer, geschweige psychoanalytischer Durchdringung wird nach dem nachvollziehbaren und möglichst auch unkompliziert verfilmbaren Plot gerufen und dieser Ruf bedient.
Im Gegensatz dazu spreche ich von „Graben“, bzw. „Ausgraben“ als dem treibenden Movens der Literatur. Romandichter wie Christopher Ecker scheuen deshalb den einfachen Plot. Ihre Poetik geht in die Tiefe, ahnt Schächte, und sucht sie, nämlich unter der Handlung, die, gäbe man ihr die Priorität, die Straßen immer schon kennte, die entlanggegangen werden müssen – will sagen: Die meisten derzeit gefeaturten Romane folgen Treatments, an deren Ausarbeitungsbeginn die bereits fertige Meinung, nicht selten sogar eine Erhebung oder Mutmaßung über tatsächliche oder scheinbare Leserbedürfnisse steht. Sind sind oft um bestimmten Zeitthemen gruppierte : Hitlerdeutschland, Judenverfolgung, ‘68 und die Folgen, Mauerfall; dazu noch ideologisch flankierte Themen wie zum Beispiel Gender. Der Dichter aber, wenn er es ist, hat, scheibt Hebbel weiter, „keine Wahl, er hat nicht einmal die Wahl, ob er ein Werk überhaupt hervorbringen will, oder nicht, denn das einmal lebendig Gewordene läßt sich nicht zurückverdauen, es läßt sich nicht wieder in Blut verwandeln, sondern muß in freier Selbständigkeit hervortreten, und eine unterdrückte oder unmögliche geistige Entbindung kann ebenso gut, wie eine leibliche, die Vernichtung, sei es nun durch den Tod, oder durch den Wahnsinn, nach sich ziehen.“ Und Hebbel fügt hinzu, „man denke an Goethes Jugend-Genossen Lenz, an Hölderlin, an Grabbe“. Eines anderen, für die Prosa wohl höchsten, hat er drei Jahre vorher in einem Gedicht gedacht:
Er war ein Dichter und ein Mann wie einer,
Er brauchte selbst dem Höchsten nicht zu weichen,
An Kraft sind wenige ihm zu vergleichen,
An unerhörtem Unglück, glaub‘ ich, keiner.
Er stieg empor, die Welt ward klein und kleiner,
Und auf der Höhe, die wir nicht durch Schleichen,
Die wir nur fliegend, oder nie erreichen,
Ward über ihm der Äther immer reiner.
Doch als er nun die Welt nicht mehr erblickte,
Da hatte sie ihn längst nicht mehr gesehen
Und frech ihm selbst das Dasein abgesprochen!
Nun mußt‘ er darben, wie er einst erstickte,
Ihm blieb nichts übrig, als zurück zu gehen,
Doch lieber hat er seine Form zerbrochen.2

Die Rede hier ist von Heinrich von Kleist. Aber alle sie standen zu ihrer jeweiligen Zeitgenossen-Poetik wie Christopher Ecker zur heutigen. Da er ihr Schicksal nicht teilen mag, wurde er, um sich wenigstens ökonomisch abzusichern, Lehrer. Wie er diese Tätigkeit – er erfüllt sie, vernahm ich, mit Engagement und Können – mit seiner enormen literarischen Produktivität vereinbart, ist mir ein Rätsel. Alleine dafür gebührte ihm Achtung.
Aber ich will zum Geheimnis zurück. Christopher Ecker gehört zu jenen Autoren, die in der deutschen Literaturgeschichte neben dem offiziellen Kanon einen inoffiziellen fortführen, einen gleichsam parallelen, wenn nicht parallelweltlichen und die sich darum weniger in die Menge einer tatsächlichen Leserschaft hineingeschrieben haben und immer weiter hineinschreiben, sondern, wie Arno Schmidt es formuliert hat, über die Zeiten hinweg von Hand zu Hand weitergereicht werden. Einst berühmte, dann fast vergessene Autoren wie Jean Paul gehören dazu; abgesehen von seinem „Berlin Alexanderplatz“ gehört Döblin dazu – um nur an sein kaum rezipiertes „Berge, Meere und Giganten“ zu erinnern; Wolf von Niebelschütz gehört dazu; Albert Vigoleis Thelen gehört dazu; Heinrich Schirmbeck, der im Februar einhundert Jahre alt geworden wäre, könnte noch dazugehören. Es gibt weitere Namen, die ich jetzt nur nicht aufzählen mag. Abgesehen von Jean Paul verbindet sie, daß sie zur Ästhetik ihrer Zeit wie Querköpfe standen, die sie meist auch gewesen sind. Bisweilen unter ihnen, zum Beispiel Manfred Hausmanns, gibt es aber auch leisere Namen. Doch nur so, daß sich Ecker in diesen klandestinen Kanon schreibt, läßt sich erklären, weshalb sein Werk nicht längst ins Zentrum unseres Feuilletons gelangt ist und auf dem Karussell der Literaturpreise mitfährt, und zwar ohne nur einmal abzusteigen. Daß er heute den Hebbelpreis verliehen bekommt, ist zwar wohltuend, aber bezeichnend genug; man muß in seinem Hebbel schon ein bißchen suchen, um die Verbindungslinie zu ziehen. Es ist eine der Unbedingtheit, weniger der Ästhetik. Doch gerade das macht diesen Kanon neben dem Kanon aus. Andererseits scheut der Betrieb auch nicht davor zurück, ausgerechnet einem Dirk von Petersdorff den Kleistpreis zu zuzusprechen oder den Döblinpreis an Katja Lange-Müller, die beide ehrenwerte Leute – letztere hat sogar einen großen sympathischen Witz -, aber von der ästhetischen Bedeutung der Preisnamensgeber Lichtjahre entfernt sind. In Hebbels und Eckers Fall ist das geradezu glückhaft anders und darum wirklich ein Anlaß, ganz tief aufzuatmen, dankbarst mehrfach aus und ein. Man könnte sagen, in der Kombination dieser beiden habe der Irrtum einmal ins Schwarze getroffen und das auch noch ganz in die Mitte.Und abermals zurück zum Geheimnis, das nicht wie in einem Krimi immer schon gleich mitgebracht wird, dessen Autor Täter und Motive längst kennt, doch sie den Leser:innen anfangs verschleiert, um allmählich aufzudecken, was absichtsvoll konstruiert worden ist. Ich bin mir sehr sicher, daß Ecker die humoristisch-grandiose Entsorgungsszene, in der zur Seebestattung vorgesehene Urnen in einem Weiher versenkt werden sollen, doch schwimmen und schwimmen sie oben, noch gar nicht kannte, als er sein Buch begann und vielleicht sogar noch nicht einmal ganz, als er sie niederschrieb, ebenso wenig wie die Dame, die in einem Pariser Hotelzimmer Hühner hält, die, als sie entweichen, in den Gängen eingefangen werden müssen. Doch selbst wenn solche Szenen zuvor skizziert worden sein sollten, ihre Kraft kommt aus dem Schreibfluß, kommt aus einer Einversenkung, die geradezu unvermittelt und für den Autor selbst verblüffend ist, ihn manchmal auch erschreckt, in jedem Fall etwas ihm Fremdes hat, etwas durchaus Entsubjektiviertes – als hätte man selbst es gar nicht geschrieben. Ich meine so frappierend apodiktische Sätze wie auf der >>>> Fahlmannseite 220: „Ein zu pathetischer Wind, fürchte ich, aber letztendlich sind alle Wahrheiten so lächerlich banal, daß man nur in Rätseln darüber sprechen darf, und je weiter sich die Rätsel von den Antworten entfernen, desto erträglicher wird unser Reden.“ Oder in der Urnenszene-direkt, S. 790: „Vaters Urne zerfällt im Molcher See, die Asche verbindet sich mit dem Wasser, das Wasser verdunstet, bildet Wolken, bildet schwere, schwarze Regenwolken, die nicht vom Fleck kommen, und schließlich, Blitze, Donnerschläge, regnet Vater als dunkle Kommunion auf die Stadt.“ Es ist, meine Damen und Herren, durchaus unheimlich, wie der persönliche Vater hier an den mosaischen anklingt und sich damit geradezu archetypisch ein ganzer kulturhistorischer Nexus aus der so bizarren wie extrem komischen Realszene formt. – „Um was geht‘s denn so in Ihren Geschichten?“ fragt wenig später einer der beiden Polizisten. Und Fahlmann antwortet mit Ecker: „Um Leute, denen der Boden unter den Füßen weggleitet.“ Genau das aber ist es, was der sogenannte Realismus nicht will, der vielmehr auf die Sicherheit seine Leser bedacht ist, zumindest auf die der erfüllten Erwartung. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß insofern auch Fantasy, Science Fiction, die Krimis sowieso, zur sog. Realistischen Literatur gehören, weil sie nämlich streng in den Rahmen ihrer Vorgaben bleiben und insofern kalkulierbar sind. Dies ist bei Christopher Ecker prinzipiell anders.
Beinahe jede seiner Erzählungen macht die Kategorien durchlässig, geht sozusagen genauso durch ihre Wände, wie der Held der >>>> Letzten Kränkung im Boden verschwindet – durch einen nicht zufälligerweise an das weibliche Geschlecht erinnernden Spalt, der sogar Schamlippen hat. Die ganze Novelle kommt einem wie eine riesige Allegorie auf das Geburtstrauma vor; tatsächlich hat Ecker in ihr sogar expressis verbis – und zwar bis in den Titel hinein – >>>> Freuds Theorie der drei Menschheitskränkungen um eine vierte fortgeschrieben. Ab der Seite 97 finden wir denn auch ein gleichsam Credo der eckerschen Poetologie, worin jede Figur von ihr „verborgenen Regungen gesteuert wird, die wie gigantische Seeungeheuer in der Tiefe des Innenlebens lauern und mit ihren Tentakeln und Scheren unentwegt hinauf ins Bewußtsein greifen.“
Hier gilt, was die therapeutische Technik des Klarträumens Patienten empfiehlt, die von immergleichen Albträumen heimgesucht werden, – daß man, anstelle so schnell wie möglich an der Tür vorbeizueilen, hinter der das Unheil lauert, stehenbleiben und sich umdrehen sollte, um diesem Nachtmar direkt in das Gesicht zu sehen. Nur so, durchs Anschauen, läßt sich das Unheil, ich verwende den folgenden Begriff bewußt, bannen. Genau das ist der in Phantastischen Literaturen in Bewegung gesetzte Prozeß. Indem wir sehen, vermögen wir, Namen zu geben, und indem wir wiederum das tun, verfügen wir über das Unheil. Thomas Mann, fast ganz zu Anfang seiner „Geschichten Jaakobs“ , beschreibt diese Form der Selbstermächtigung – besser noch: der Selbstentohnmachtung – so: „Auch die Tiere schämen sich und kneifen den Schwanz ein, weil wir sie wissen und über ihren Namen befehlen, und die brüllende Gegenwart ihres Einzeltums entkräften, indem wir ihn ihr entgegenhalten.“3
Doch auch dieses Verfahren, so zeigt es uns Ecker – und darin ist er realistisch, nicht die sog. Realistische Literatur – , ist brüchig und stellt das Als-ob als ein Fakt hin, ein Verhalten, das uns unsererseits an der Tür vorbeieilen läßt, anstelle daß wir hinter sie schauen. Vielmehr sind wir, so die Seite 116 der Letzten Kränkung, „Figuren in einem Spiel, dessen Bedeutung wir nicht einmal erahnen, und das Mächte, die wir weder erkennen noch begreifen können, mit wiederum anderen Mächten spielen, die erstere selbst kaum erkennen und begreifen können.“ Wobei selbstverständlich die durch diese ihre Begriffsfindung angeschauten Mächte ebensolche Modelle sind, fast möchte ich sie mit Kant „Kausalitäten aus Freiheit“ nennen, wie es die über viele Jahrhunderte hinweg durchaus lebenspraktikable Vorstellung von Göttern und Göttinnen war. Ihre Fiktionen konnten tatsächlich schützen, wie neuerdings, ebenfalls unter Bezug auf Freud, Robert Pfaller gezeigt hat.4 Der von ihm zu Recht beklagte Verinnerlichungsprozeß, aufgrund dessen gesellschaftliche, dem privaten Schutz der Einzelnen dienende Verhaltensrituale verödet und aufgelöst werden – auch Hebbel, siehe oben, beklagte es schon – , wird in Eckers Dichtung gerade umgedreht und das Innerliche, Innerste, als ein Objektives in die Welt zurückgehoben – auch dies eine der Phantastischen Dichtung ganz eigene Bewegung. Deshalb zeigt sich die Kraft der speziell eckerschen Ästhetik genau dort, wo er profanste Alltagsrealitäten als dunkle Spiegelbilder eines aus sich selbst Ausgegrabenen, bzw. noch zu Hebenden zeigt. Er muß dafür nur, aber entschieden diszipliniert, dem Schreibprozeß folgen. Wovon er erzählt, indes, ist immer schon da.
Eine phantastische literarische Arbeit ist derjenigen zu vergleichen, die wir alle in unseren Träumen leisten, nur daß sie durch ihre Formulierung bewußtgemacht wird. Deshalb bedürfen solche Texte fast immer der Interpretation, die ebenso fast immer nie genau trifft, sondern in einem ungefähren Raum verbleibt. Etwa leben auch die Dichtungen Franz Kakas, von ihrer hohen Stilkunst abgesehen, bis heute davon – und auch er war so wenig wie Borges ein Mann, der ein nennenswert abenteuerliches oder sonstwie erlebnisgesättigtes Leben gehabt hat. Auch bei ihm entstand beinahe alles aus der inneren Welt, in die bis auf den Grund von Ahnungen hinabgestiegen werden muß, wo sie – jede – einen derart übersubjektiven, ja geradezu kollektiven Charakter bekommt, daß wir Späteren dazu neigen, die Texte als Vorahnung zu lesen – in Kafkas Fall, um nur Die Strafkolonie zu nehmen, des heraufdräuenden Faschismus. Aber auch das bleibt letztlich Auslegung.
Wieder Ecker auslegend, ließe sich über zum Beispiel „Fahlmann“ sagen, der nicht nur die Grenzen der Geschehensräume auflöst, sondern auch das Zeitfundament der Sukzession, also eigentlich Zeit-selber zum Raum macht, nämlich zu einem Kontinuum, – ließe sich sagen, daß die uns unterdessen über zum Beispiel das Internet sehr bekannte Auflösung der noch vor zwanzig Jahren geradezu dinghaften Grenzen des Kommunizierens auf eine Weise gespiegelt und gestaltet wird, die die Neuen Medien, ja überhaupt Medialität völlig erfaßt, auch wenn sie sie nicht nennen muß. Denn auf der Erzähloberfläche spielt sie überhaupt keine Rolle. Darunter aber eben doch.
Hinzu kommt eine andere, eine spezielle Modernität. Denn der Fahlmann denkt expressis verbis die Bedingungen seiner eigenen Entstehung mit, und zwar in den langen Gesprächen zweier Protagonisten. Damit schließt Ecker direkt an ein Paradigma der Avantgarden zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts an, das heißt, er geht nicht, um den ohnedies unscharfen Begriff n o c h unschärfer zu verwenden, postmodern oder postmodernistisch über sie hinweg, sondern schließt eine Lücke, die besonders der Hitlerfaschismus verschuldet hat, auf den aus politisch allerdings verständlichen Gründen das geradezu Dogma eines, sagen wir, sozialen Realismus gefolgt ist. Die Berührungsangst gegenüber Phantastischen Literaturen ist nicht von ungefähr ein deutsches, bzw. deutschsprachiges Phänomen; weder der angelsächsische noch der romanische und da speziell der spanische Sprachraum kennt es auch nur ungefährer Weise. Entsprechend waren sie, diese Literaturen, – und sind es beinah noch immer – hierzulande nur dann akzeptabel oder sogar gerühmt, wenn sie nicht aus Deutschland kamen, sondern übersetzt werden müssen. Ein deutscher Gabriel Márquez hätte bei uns nicht die geringste Anerkennung gefunden; wahrscheinlich wäre er ebenso verschwiegen worden, wie es in der umittelbaren Gegenwart ein deutscher Thomas, sagen wir, Pynchon würde. Nicht zuletzt dieses Umstandes halber setzt die Verleihung des Friedrich-Hebbel-Preises an Christopher Ecker ein Zeichen. Sie hebt die Bedeutung dieses Romanciers über jede nur-regionale Anerkennung hoch hinaus und zeugt deshalb, was die Beachtung ästhetischer Qualitäten betrifft, von ausgesprochenem, nicht nur so genanntem Realitätssinn. Tatsächlich spielt Ecker sowohl in konstruierender Macht als stilistischem Vermögen in der ersten Liga der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.Lassen Sie mich noch einmal auf Friedrich Hebbel und von da aus auf das Geheimnis zurückkommen, von dem ich eingangs sprach, und mit einer frühen kleinen Prosa Christopher Eckers abschließen, die es, dieses Geheimnis, direkt, wenn auch nur gleichnishaft benennt.
(…) die dramatische Kunst

schreibt Hebbel5 und seine Perspektive läßt sich sehr wohl auf den Roman übertragen,

soll (…), wie alle Poesie, die sich nicht auf Superfötation und Arabeskenwesen beschränkt, zeitgemäß sein,

weshalb er, Hebbel, seine Dramen auch als künstlerische Op­fer der Zeit bezeichnet habe,

denn

fährt er fort

ich bin mir bewußt, daß die individuellen Lebens-Prozesse, die ich darstellte und noch darstellen werde, mit den jetzt obschwebenden allgemeinen Prinzipien-Fragen in engster Verbindung stehen, und obgleich es mich nicht unangenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher fast ausschließlich meine Gestalten ins Auge faßte, und die Ideen, die sie repräsentie­ren, unberücksichtigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht den besten Beweis für die wirk­liche Lebendigkeit dieser Gestalten erblickte, so muß ich nun doch wünschen, daß dies ein Ende nehmen, und daß man auch dem zweiten Faktor meiner Dichtungen einige Würdigung widerfahren lassen möge, da sich natürlich ein ganz anderes Urteil über Anlage und Ausführung ergibt, wenn man sie bloß in Bezug auf die behandelte Anekdote betrachtet, als wenn man sie nach dem zu be­wältigenden Ideen-Kern, der manches notwendig machen kann, was für jene überflüssig ist, bemißt.

Dieser Ideenkern ist bei Ecker das Phantastische als quasi Hochprojektion eines permanent wirkenden Unbewußten auf die Leinwand des Bewußtseins, in anderen Worten: eine Übersetzung ins romanpoetische Bild. Bereits in einem frühen Prosastück, das sich in seiner 2006 bei Gollenstein erschienenen Erzählsammlung >>>> „Der Hafen von Herakleion“ findet, nimmt Ecker darauf Bezug; man kann den kleinen Text durchaus als einen Nukleus seiner Poetik lesen. Er heißt „Der Makel“ und geht so:

Der Makel, den ihr zu erkennen glaubt“, sagte er, und ich wußte, daß er weniger scherzte als sonst, „ist keineswegs ein Makel.“ Sein Gesicht nahm diesen triumphierenden Ausdruck an, der mich immer an ein Kind denken ließ, das soeben ein Rätsel gelöst hat, gestellt von jemandem, der nicht glaubte, daß es von einem Kind gelöst werden konnte. „Der Makel“, hub er erneut an und deutete auf das Gemälde, vor dem, wie ich feststellte, nur ich selbst stand, denn er befand sich nicht mehr im Saal, und ich war mir auf einmal auch nicht mehr sicher, ob ich seine Stimme hörte oder mir nur vorstellte, er spräche zu mir, wie er es früher vermutlich oft getan hatte, „oder der Fleck“, er schnaubte unwillig. „Betrachte ihn genauer, Christopher! Ähnelt diese schadhafte, nein, vermeintlich schadhafte Stelle nicht einem Schatten? Deinem Schatten?“ Erschrocken wich ich vor dem Gemälde zurück, eine Hand in Erwartung eines Hindernisses nach hinten ausgestreckt, die andere – es war beinahe wohltuend – schützend über die Augen gelegt.

Und nun, in der das kurze Stück beendenden Klammerbemerkung schaut er das Rätsel selbst an – womit wir wieder beim Namen wären:

(Dem Museum, in dem sich dies ereignete, einen Namen zu geben, ist nicht der Zweck, aber ein interessanter Nebeneffekt dieser Skizze.)

Offener und damit unwägbarer läßt sich ein Text kaum beenden und spiegelt damit uns auf uns.

Lieber Christopher Ecker, ich gratuliere Ihnen aus vollem Herzen zum Friedrich-Hebbel-Preis 2015.

____________
ANH, März 2015
Berlin

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