„Ygrasithese“. Untriest 75. Dienstag, der 28. April 2015.


Arbeitswohnung, 6.15 Uhr
Britten, Cello Symphony (Truls Mørk)


Noch immer, Liebste,

sitze ich über diesem Mailing zum Traumschiff, formuliere um, überlege weitere Empfänger; außerdem haben wir, mares Cheflektorin, meine Lektorin und ich, auf mein Betreiben hin noch einmal die Angaben zur Autorenbiografie überdacht und geändert, die in der hinteren Umschlagklappe stehen sollen. Dann las ich kurz in die bisherige Überarbeitung der Triestbriefe hinein, ging schwimmen und las >>>> den Witzel weiter, aus dem ich eben >>>> ein weiteres Zitat eingestellt habe, das zu meinem gegenwärtigen, wie soll ich‘s nennen? Weltgefühl? ziemlich paßt. Nein, ich suchte es nicht, sondern es stellte sich mir quasi in den Weg, so daß ich, um weiterlesen zu können, drüberspringen mußte. Dazu erzählte mir abends die Löwin von >>>> Kübler-Rossens fünf Stadien der Verarbeitung:

1 Leugnung & Verweigerung
2 Wut
3 Verhandlung
4 Depression
5 Akzeptanz
Die Wut fehlt mir. Auch ist eine Übertragung von Prozessen der Trennung auf solche des Sterbens durchaus spekulativ, wenngleich zumindest nicht ohne metaphorische Plausibilität – um so mehr, als mir kurz zuvor ein Manessebüchlein in die Hand gefallen war… Unfug, mein Blick war die Buchreihen entlanggestreift, und es leuchtete da in ihn hinein, so daß ich‘s herauszog: >>>> Alphonse Daudets Sappho. Unten auf dem Schmutztitel eine Widmung Dos aus dem Jahr 1997. Erst heute verstehe ich ihren subkutanen Sinn; so habe ich das Buch denn auch nie gelesen. Bücher haben ihre Zeit, dachte ich nun, sie machen sich uns bemerkbar, wenn es soweit ist. So werd ich‘s zwischen die Witzelseiten schieben – die mich nach wie vor begeistern; allein diese Seiten 362 bis 389 haben es in sich. Mir völlig unverständlich, Herz, wie man sich ihnen verweigern kann.

Gut.
Um zehn vor halb sechs aufgestanden. Mein Arbeitsrhythmus kehrt zurück. Noch nackt an die Pavoni, derweil die Computers hochfuhren, dann die Leggins an, drüber den Pullover. Die Tage sind wieder kühler, aber gestern dampften die Straßen vor Feuchtigkeit, dampfte die Luft über ihnen und zwischen den Häusern, stand und wogte tropendicht über den Wiesen des Thälmannparks, als ich zum Schwimmen radelte. Ich liebe das, merkte ich wieder. Bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit fehlt mir auch die Sonne nicht sehr, jedenfalls weniger als sonst. Ich scheine etwas Amphibisches zu haben, und muß „ygrasitheten“ – kann man das sagen? (υγρασία = Feuchtigkeit) -, um mich wohlzufühlen. Vom Mairegen, hieß es in meinem Großelternhaus, wachsen die Haare… freilich war nur das Haar gemeint.
Ein zweites Mal Brittens Cellosinfonie. Morgenpfeife. Wobei ich derzeit meinen Tabakkonsum stark einschränke, schon wegen des wieder aufgenommenen Sports. Statt dessen mehr und mehr die eCigarren. Funktioniert ziemlich gut. Ich muß ja auch sparen: Noch ist mir, um schnell Einkünfte zu generieren, nix eingefallen. Also verkneif ich‘s mir, neue Cigarillos zu kaufen. Imgrunde wird davon nur mein Selbstbild beschädigt, die Inszenierung von Selbst. Außerdem stinkt man so nicht; ein ziemlicher Vorteil. Versinken, für die Jungen.
Abfolgen.
Der 22. Juni 1963 ist einmal absolut konkret gewesen. Jetzt ist er ebenso Fiktion wie der 22. Juni 2063, ist pure, sozusagen, Literatur. Wenn man ihn beschreibt. Für meinen Sohn, zum Beispiel, war er nie, aber der 22. Juni 2063 wird es sein, anders als, wahrscheinlicherweise, für Dich und mich. Na gut, Du kannst ihn noch, trifft das Wort? erreichen. Nimm dann eines meiner Bücher, bitte, aus dem Regel, wie gestern ich mit Daudets tat, die Triestbriefe vielleicht, sollten sie denn erschienen sein. Es kann aber auch ein anderes sein. Dein Haar ist weiß wie Lilienduft. Deine Hände sind beinah schon Erde. Aber die Augen haben die vollschwarze Feuchte ihrer Jugend bewahrt. Wenn Seele irgendwo ist, dann wohl in ihnen.

Nun nehm ich mir noch einmal das Mailing vor. Heute früh soll es rausgehn. Und mein kleiner frecher Text zu Mozart ist im >>>> L erschienen. Gestern kamen die Belegexemplare. Von denen tüte ich eines gleich ein und schick‘s Dir nach Triest. Auf dem Weg zum Taining komme ich sowieso an einem Postamt vorbei. Ansonsten wird‘s heute wohl wieder ein Brittentag für mich werden, viel früher Britten und aber auch sonst, wahrscheinlich, nur orchestral. Leichtigkeit der Neoklassik.

A.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .