Un ballo in maschera, eine Überflutung: Wiederholungskunst. Im Arbeitsjournal des Freitags, dem 13. November 2015. Mit Tobias Sommers Jagen 135.


[Arbeitswohnung, 12.07 Uhr
Verdi, Un ballo in maschera (Solti für Karajan, Salzburg 1989)]

Ich wollte nicht schreiben, bevor ich nicht >>>> Tobias Sommers Roman Jagen 135 „aus“gelesen hätte, in den ich gestern spätabends bis zur Nacht nun gänzlich hineingefallen war, nachdem ich die Lektüre dreivier Tage lang unterbrochen hatte:


Das Buch ist ausgezeichnet. Mehr will ich noch nicht erzählen, weil ich vorhabe, eine gesonderte Rezension zu schreiben; da mag ich meine Glühpfeile nicht vorher verschießen. So viel aber ist sicher, daß, wenn Sommer derart stringent weiterarbeitet, aus ihm einer der ganzgroßen Romanciers unserer Gegenwart werden kann – wie es auch >>>> Marcus Braun geworden wäre, hätte er sich literarisch nicht lange schon, nun sogar bis ins Ausland, zurückgezogen.

Aber hierum soll es heute nicht gehen, und auch, was ich >>>> zu Brisseau noch anzumerken habe, gerade nach dem gleichermaßen spannenden wie lustbesetzten >>>> Dialog mit Gaga Nielsen, das schreibe ich lieber direkt dort unter den Kommentarbaum. Auch dabei geht es, u.a., um Musik,

die mich gestern wieder erfaßte, so daß ich, bewußt vom Schreibtisch entfernt im Musikstuhl sitzend, tatsächlich geweint habe, als ich zunehmend überflutet zu- und zuhörte. Dreimal diese Oper hintereinander, in zwei verschiedenen Einspielungen. Meine Boxen glühten, feuerten, wurden praller und praller und schnitten sich Räume in die Wand hinter ihnen, worin sich der Klang anfüllte und anfüllte. Mit einem Mal, nach all den Jahren, die mir diese Oper verschlossen geblieben war, begriff ich sie – übrigens, und auch das bewußt, ohne mich um die Handlung zu kümmern. Das tat ich erst später (und ärgerte mich dann doch noch ein bißchen). Aber ich will immer erst die Musik-für-sich erfahren; erst, wenn sie selbst zu mir gesprochen hat, will ich wissen, für was sie zugleich das Sprachrohr ist. Wie auch in der Dichtung interessiert mich ein „Plot“ immer zuletzt.
Ja, ich weinte. Kennen Sie das, wenn die Tränen von allein laufen, ohne daß man irgendwie „drückt“? Es ist ein tonloses Weinen, das wie Wasser aus einer Quelle dringt und Verschüttetes mit heraufträgt, das man gar nicht erkennen, wissen, muß, um von ihm befreit zu werden – jedenfalls in der Zeit des Zuhörens, das seinerseits nicht passiv ist, sondern durch den ganzen Körper geht.
Un ballo in maschera. Daß Otello und Falstaff grandios sind, war mir seit erstem Hören klar, ebenso Simone Boccanegra und (vor allem in Carlos Kleibers Interpretation) die Traviata – aber der Maskenball? Hm. Und wie oft habe ich‘s versucht! Wobei mir, wegen meines Desinteresses an der Szene, konkrete Opernbesuche so gut wie nie helfen; sie verstellen eher den Zugang. Eigentlich mag ich eine Oper nur dann ansehen, wenn ich sie schon durch und durch kenne, und eben allein übers Hören. So ging es mir mit dem Tristan, so ging es mir mit Salomé. Wobei: Hofmannsthal ist hier durchaus eine Ausnahme. Denn seine, na gut, bleiben wir dabei, „Plots“ sind derart mit seiner Dichtkunst verwoben, daß die Szene fast immer zur Miterfüllung wird, es sei denn, daß sich eine Regie vergewaltigend über das Textbuch stülpt. Oft genug erlebt, selten allerdings bei Hofmannsthal. Kam aber a u c h vor.
In den vergangenen drei Tagen habe ich Un ballo in maschera knapp zehmal hintereinander gehört, drang tiefer und tiefer in die Strukturen, und abermals, wie ich einem geliebten Menschen schrieb, wurde mir bewußt, was der jedenfalls erzählenden Dichtung fast durchweg verschlossen bleibt: das Wiederkennen, anagnorisis, von der schon Bloch gesprochen hat (atembenehmender Vortrag über Elektra und Orest), daß alles Erkennen Wiedererkennen sei. Genau deshalb verwendet das Alte Testament diesen Begriff, also „sich erkennen“, für den Liebesakt: Und sie erkannten einander. Es ist die Musik, die dies in die sinnlichste Kunst, die wir kennen, überträgt, es austrägt in ihr. Und wenn wir uns ihr öffnen, der Musik, und bereit sind, meint sie nur uns.
Weshalb ich mich aber schließlich doch etwas geärgert habe? Weil der – Mann, Schweißwort!: – „Plot“ der bürgerlichen Ehemoral die Hand reicht, die am Unglück der Liebe und der Leidenschaften, weil sie ein Besitzstandsverhältnis ist, die allergrößte Schuld trägt. Freilich spiegelt Verdi die tatsächlichen Moralnöte der Zeit und schreibt deshalb wirklich für die Menschen, was man von seinem Antipoden, Wagner, so unbezweifelbar leider n i c h t sagen kann, Genie hin, Genie her. Dennoch macht meine Relativierung den Genuß ein wenig sauer. Aber damit müssen wir bei Kunst leben, daß sich unsere Moralen, Freiheitswillen und sonstigen Ansprüche mit denen der Künstler und der Kunst-selbst nicht unbedingt decken, ja oft gegenständig sind.
Ambivalenzen zu ertragen: die Forderung, der humanistische Anspruch. Und dennoch ist auch in ihr die Überflutung möglich: κάθαρσις.

In Liebe:
ANH bei S o l t i :


4 thoughts on “Un ballo in maschera, eine Überflutung: Wiederholungskunst. Im Arbeitsjournal des Freitags, dem 13. November 2015. Mit Tobias Sommers Jagen 135.

    1. ambivalenz ist die schizzopphrenie, das gespaltensein in der lüge.
      die lüge ist reine ambivalenz.
      der ambivalenz reisnste auftrittform ist die lüge.
      die lüge will ja nur gut tun, gutes tun.
      die lüge ist selbstlos.
      die selbstlosigkeit der lüge kann als lüge wahrgenommen sein.

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