Ein Mond geht in der Hallenkuppel zweifach auf. Die Großleinwand zeigt Wasserbilder, Blumenbilder, permanent wechselt die Lichtbedimmung des Saales. Strahlen von Kameraleuchten schießen auf, noch immer drängen Leute herein. Schließlich stehen, bzw. sitzen und hocken wir dicht an dicht.
Das >>>> Silent Green ist unterdessen einer der „angesagtesten“ Veranstaltungsorte Berlins jenseits der bürgerlich-konservativen Kunsttempel; hier gehen New Age, Pop und Techno, House und Hochkultur nicht nur zusammen, sondern bisweilen ineins. So war und ist es eine rundum überzeugende Idee der Deutschen Grammophon, ihr genialisches Format der >>>> „Yellow Lounge“ aus dem in anderer Weise perfekten >>>> Berghain eben hierhin zu verlegen. Vielleicht war die Anmietung dort zu teuer geworden. In jedem Fall hat das Konzept von Anfang an mit der sei es verklemmten, sei es sonstwie hölzernen Situation in bürgerlichen Konzerthäusern restlos aufgeräumt; sogar das Repräsentative spielt hier keine Rolle mehr, sondern beinahe alles fällt weg, das nicht auf die Künstler:innen selbst, bzw. ihre Künste bezogen wäre. Hier ist niemand hingekommen, weil es sich für Stand und Klasse so gehöre. Dennoch wurde mir, als ich das Gelände einmal umfuhr und den riesigen Schornstein sah, momenthaft etwas schummrig, in Deutschland zumal, also eben nicht nur wegen der quasi selbstverständlichen Morbidität, die erst ehemalige Todesstätten von Tieren zu Kulturzentren gemacht hat und jetzt auch die Entsorgungsstätten gestorbener Menschen. Doch tritt man in das clubnahe Gedränge unter den Lichtinstallationen und drückt sich in das wogende, bisweilen auflachende Gesprächsrauschen, verliert sich das bedrückte NachLuftSchnappen schnell. Außerdem liegt unter alledem, quasi ein stehender Fluß, der elektronische Pop, oder er fällt auf es herab: Die Yellow Lounge gibt einzig vor, es müßten elektronische Remixe „klassischer“ Musikstücke eingespielt werden. Unter anderm war dies gestern, im quasi Trance-, bzw. House-Stil, eine seltsame Variante der burlesken Trunkenheitsarie aus Purcells The Fairy Queen. Auf solchen Klängen schwammen dann, zwei Inseln gleich, die beiden Teile der eigentlichen Aufführung, durch die aber aus dem elektronischen Meer gespeiste Wasseradern führten.
Nun diente der Abend der Promotion der neuen CD Hélene Grimauds, >>>> Water:
Seltsamerweise wirkt Hélène Grimaud heute mädchenhafter als auf der >>>> Bach/Busoni-Aufnahme von vor fünfzehn Jahren, die mich im vergangenen September >>>> derart berückt hatte, daß ich das Portrait der Pianistin wochenlang auf meinem Desktop behielt. Nun war sie, ist sie vielleicht, gefälliger, scheint nicht mehr ganz die Konzentration allein auf die Musik zu haben, ist vielleicht kompromißbereit geworden, etwas, das der Aufnahme im Berliner Kammermusiksaal noch völlig abgeht. In ihrem Spiel freilich ist sie es nach wie vor nicht, das auch bei Gefahr eines, seltenen, Fehlanschlages den Ausdruck über die Virtuosität stellt; diese ist vielmehr jenem zu Diensten, und auch die Idee von „Reinheit“ tritt zurück. Grimaud ist keine Fundamentalistin. Andernfalls hätte sie sich gewiß die, ich kann es anders nicht sagen, grauenhaft verkitschte „Visual Art“ von >>>> Marta Bala nicht gefallen lassen, hingegen die von drei verschiedenen Orten aus mitgeschnittenen Aufnahmen der Pianistin, meist nur ihrer Hände, bisweilen ihres Gesichtes, auch der gleichsam Panoramen ihrerseits so musikalisch gemischt wurden, daß nicht nur ich von Zeit zu Zeit von der tatsächlichen Künstlerin zu ihrem technischen Abbild abgelenkt wurde. Immer wieder, selbst gegen unbequeme Lagen, drehte ich den Kopf in den Nacken.
Es ist dies eine möglicherweise paradigmatische Beobachtung, daß uns die technischen Abbilder unterdessen lebendiger dünken als je ihr Vorbild. Allein an der Größe der Leinwand kann dies kaum liegen. Vielmehr ist es, fürchte ich, eine bestimmte Art von Autorität, deren Wesen darin besteht, uns die Wahl „abzunehmen“: Der jeweilige Ausschnitt ist gesetzt, unser Auge wird geleitet. Fremdbestimmtheit, wofern in einer einverständigen, sich vertrauenden Menge erlebt, wird als erlösend empfunden.
‚Ich sitze ihr so nahe, daß ich ihre Haut riechen könnte‘, dachte ich. Was nicht der Fall war. „Ich sehe euch alle nicht“, sagte wiederum sie, „aber ich spüre euch.“ Eine erstaunlich tiefe Stimme. Und wie froh sie darüber sei, ihre CD gerade in Berlin spielen und vorführen zu können, „to perform it the first, perhaps the last time in it‘s original form“.
Der zweite Teil hatte begonnen.
Es war Viertel nach elf.
In der Pause war selbst zur Toilette kaum ein Durchkommen gewesen.
Nun entwickelte sich tatsächlich eine Art Dialog von Klavierspiel und Zuspielband; ich hatte sogar bisweilen den Eindruck, der elektronische Hall verfremde, wie bei präparierten Klavieren, auch den direkten Klang – besonders bei Janáčeks Im Nebel Nr. 1. Aber der hohe Raum tendiert von sich aus zu an ihren Rändern verfließenden Tönen; die Klänge lassen sich kaum sicher orten: für Clubatmosphären perfekt – für Franz Liszts Wasserspiele, vorher, freilich erst recht.
Die „Jeux d‘eaux à la Villa d‘Este“ haben mich schon auf der CD am meisten beeindruckt, doch live, zumal in einem solchen Saal, läßt sich‘s Liszts melodisch durchzogener, manchmal auch wühlender, wenn nicht beharrender Klangmalerei gar nicht mehr entziehen, dieser Mischung von Virtuosität mit dem Experiment einer klanglichen Zukunft aus Pathos und Kalkül. Da warf sich die Grimaud „als wie“ mit ganzem Leib hinein, träumte in den melancholischen Phasen, sang in den sehnsuchtsvollen, wütete im auftrumpfenden Akkordanschlag. Und Debussys La Cathédrale engloutie, das den Abend beschloß, wirkte wie ein Nachfahr, der die Harmonik noch weiter auflöste, bzw. von Liszt vorangetriebene Entwicklung in neue Harmonien perfektionierte – wobei freilich sämtliche Musiken des Abends, auch die elektronisch „modernen“ der Clubs, in der Tonalität blieben. Insofern konnte und kann von Moderne nicht wirklich die Rede sein, selbst Berios Wasserklavier ist schon als Komposition harmonisch recht zahm und von seinen großen elektronischen Musiken fast so weit entfernt wie die neuen elektronischen Klänge der House- und Trancemusiken und Nitin Sawhneys esoteroklebriges Geklimper.
Ecco.
Deutsche Grammphon
>>>> Yellow Lounge
Hélene Grimaud
>>>> Water