Es gewagt zu haben. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 14. Juli 2016. Und wi(e)derwagen?


Und du kummst so über mi
wia der vierzehnte Juli über Paris.
Wann das Feuerwerk di Nocht seziert.
Und alle Vivat! Vivat! schrei´n.

André Heller, Un dann bin i kan Liliputaner mehr
(1988)


[Arbeitswohnung, 8.20 Uhr
Marius Neset, London Sinfonietta, Snowmelt]

Ich hör nur die ersten Takte, horch hoch, denke: schon wieder so eine geniale Produktion von >>>> ACT:


(Erscheint am 26. August 2016)


Die CD lag gestern im Briefkasten; ich werde ganz sicher über sie schreiben; >>>> aber merken Sie sie sich schon einmal vor.

„Und dann bin i ka Liliputaner mehr“: zurück zu Heller, der auf mich, als ich in den Zwanzigern war, einen enormen Einfluß ausgeübt hat, ohne es zu wissen, selbstverständlich. Ich erinnere mich, ihm damals einmal geschrieben zu haben; vielleicht habe ich sogar Texte von mir beigelegt, aber jedenfalls nie eine Antwort bekommen. Wie auch? Ich war ein komplettes NoName, er berühmt. Es werden sich bei ihm Körbe voll solcher Post gestapelt haben.
Meine, man kann sagen, Liebe beruhte allerdings auf einem im Wortsinn Mißverständnis. Der Text geht nämlich, wienerisch, so weiter: „I wochs, i wochs, i wochs… (!)“, was ich falsch interpretierte, jedenfalls falsch hörte, nämlich nicht als „Ich wachse“, sondern „Ich wag es! (wog‘s!)“ – und genau das gab mir seinerzeit Mut. Es zu wagen wurde geradezu mein Lebensmotto: sich so wenig von den Gegebenheiten und also objektiv mangelnden Erfolgschancen einschüchtern zu lassen wie von jenen zahllosen Leuten, die mich damals schon einen Versager nannten; irgendwann werde sich alles wenden, ich müsse nur beharrlich genug sein.
Und das war ich, war‘s über Jahrzehnte. Erst jetzt ist die Luft raus… – wobei, als ich gestern auf dem langen Radweg von Gewitter, Güssen und auch ein bißchen Hagel überfallen wurde, so daß ich dann klitschnaß beim Termin ankam, rauschte der ganze Wille in mich zurück – für die Zeit der Radfahrt. Ich spürte Leben, roch den wogenden Park, an dem ich vorbeifuhr, war mit einem Mal wieder ganz eines mit der Welt. So daß ich abends >>>> zur Staatsoper abermals das Rad nahm, obwohl es bei meinem Aufbruch abermals regnete und auch etwas stürmte. (Insgesamt kam ich über den Tag auf knapp vierzig Kilometer Fahrt, was ich für gestern als genügende Trainingseinheit >>>> notiere).
Freund Broßmann SMSte, nachdem er >>>> mein resigniertes Arbeitsjournal von vorgestern gelesen hatte, ich solle mich nicht von meinem Hirnstoffwechsel krankmachen lassen, statt dessen die Tabletten wieder nehmen; er komme am Abend vorbei, nach meinem Staatsopernbesuch. Was er auch tat. Wir tranken nach 23 Uhr jeder einen Whisky, dann alkoholfreie Caipirinha, wobei ich es auch belassen habe. „Nein,“ sagte ich, „ich nehme keine Tabletten mehr, wenn heftige Regengüsse, drei Tage Neapel oder auch nur der tägliche Sport mich immer wieder aufleben lassen.“ So ist es kein Zufall, daß ich heute früh auf >>>> André Hellers Wagelied kam. Daß der erste Einfall mit dem 14. Juli zusammenhängt und also der oben zitierten Stelle, ist rein vordergründig, ist eine Rationalisierung meines Unbewußten, die die wirklichen, d.h. wirkenden Zusammenhänge verschleiern soll – und selbstredend Hellers Einfluß auf den jungen ANH ver-, sagen wir, stecken. Gerade, jemanden wie ihn zu mögen, galt seinerzeit in meinen Kreisen zumindest als „no/go“. Sei‘s drum, es ist nicht das einzige, das ich mir zuschulden kommen ließ. Übrigens war es schon damals auch sein, Hellers, Pathos, das mich nicht nur anzog, sondern rundum, seelisch, erfüllte.

*

Doch nun muß ich Konsequenzen ziehen, einen Job suchen, der mich und die meinen ernährt. Meine Zeit als freier Schriftsteller geht nach knapp drei Jahrzehnten, so empfinde ich es:, zuende. Das ist wahrscheinlich das für mich schwerste, dies zu akzeptieren. Selbstverständlich halte ich mich noch >>>> an Strohhalmen fest, aber ich kann an ihnen saugen, wie ich will, es zieht sich keinerlei Einkunft herauf.
So das Gespräch gestern mit dem befreundeten Schulleiter wegen möglicher Aufträge als Lehrer etwa für Migranten. Er gab sehr viele Hinweise, ich muß mich registrieren lassen, soll an Schulen vorsprechen, die Willkommensklassen haben usw. Schon das wird mir schwerfallen; ich muß über die Angst hinweg, auch hier immer nur abgewiesen zu werden. Ich mag einfach keine Klinken mehr putzen. Doch führt kein Weg daran vorbei. Außerdem ist es eine sinnvolle, auch gesellschaftlich nötige Arbeit,
Außerdem werde ich mich vorsorglich arbeitslos melden müssen, beim Job-Center (schon dieser „Name“ ist mir widerlich): um Hartz IV. Ob ich auf so etwas Anspruch habe, weiß ich dabei gar nicht; ich bin ja Freiberufler, obendrein Künstler. Aber ich muß irgendwie den September sichern, auch wenn solch staatliche Hilfe bedeuten kann, daß ich aus der Künstlersozialkasse fliege, in die ich danach vermutlich nicht wieder hineinkommen werde. Kurz, die Kollateralfolgen lassen sich nur schwer abschätzen. Einmal abgesehen davon, daß ich dastehe wie ein kompletter, siehe oben, Versager – etwas, das in den derzeit tiefstgrauen Momenten mein Selbstgefühl sowieso bestimmt. Wie den eigenen Stolz dann aufrechterhalten, welchen Grund hat er denn noch?
Solche Fragen gehen momentan ständig in mir herum. Was zu permanenten Zirkeln führt, gedanklichen Gefängnislaufrädern. Dabei, so schrieb ich‘s heute früh meiner Lektorin, bekomme ich nicht etwa gar nichts Poetisches hin, aber es gelingt mir nur unter der Voraussetzung eines Auftrages, wenn also sicher ist, daß meine Arbeit auch gewollt ist. Dies ist entscheidend neu; früher hat mich derartiges nicht geschert.

Außerdem, ich schrieb es schon, mich bei zwei Ghostwriter-Agenturen beworben, unter anderem >>>> textbroker.de; man nahm mich nun auch an. Aber dann kriegte ich mit, was man dort, es geht nur in Häkchen, „verdient“. Erstens handelt es sich mitnichten um Ghostwriting, sondern schlichtweg um die Arbeit eines Texters, sei‘s werblich, sei‘s darstellend; zum zweiten bekommt man als Einsteiger für eine Seite Text (ca. 800 Wörter) grad mal 6 Euro. Rechnen Sie sich den Stundenlohn aus, da für die Texte überdies genau recherchiert werden muß usw. Es handelt sich, kurz gesagt, um extreme Ausbeutung, die nur deshalb funktionieren kann, weil sie an Notlagen schmarozt.
Ich bin noch jetzt fassungslos. Dann doch wirklich besser in der Kneipe bedienen oder sogar sich an die PENNY-Kasse setzen. Zumal sämtliche Rechte an den Texten auf die Agentur übergehen. Fällt einem also ein Werbersatz wie „Mühe allein genügt nicht“ ein, der geradezu stehende Wendung wurde, auch wenn nur Kaffee beworben war, verdient das beauftragende Unternehmen Hunderttausende, der Finder aber wird entlohnt wie ein Fabrikarbeiter in der sog. Dritten Welt, bei zudem aber völlig anderen Grundkosten. Imgrunde müßten solche „Agenturen“ als widersittlich strafbeschwert werden.
– abhaken.

Zu dem Konzert von gestern abend will ich erst morgen etwas schreiben, wenn ich von >>>> der heutigen Aufführung erzählen werde; um hinzukommen wird es wohl ein nächstes Regenradeln werden. Und auch die Béart schaue ich heute nicht an. Sondern werde mich um diese Jobsachen kümmern. Und mittags zum Sport gehen, klar. Wer seinen Körper in Form hält, >>>> k a n n nicht gänzlich abstürzen.

Übrigens geistert nach wie vor die „Müll“-Erzählung in mir herum. Es kann gut sein, daß ich plötzlich anfange, sie niederzuschreiben.

**

[17.23 Uhr
Stockhausen, Klavierstücke]

>>>> Beim Sport gewesen, dann eine knappe dreiviertel Stunde geschlafen.
Die Entscheidung getroffen, d o c h keinen Antrag beim JobCenter zu stellen; die Folgen wären, >>>> wie ich eben Ramirer schrieb, unabsehbar nicht nur für mich, sondern auch für die quasiFamilie. Also zurück zu Notbriefen; irgendwelche Quellen für Künstler auftun, die zumindest solange greifen, bis sich etwas mit dem Lehren ergeben hat. Ich will ja sehr gerne was tun, würde auch in die sog. Entwicklungshilfe ins Ausland gehen. Wenn man denn brauchte, was ich kann. Es müßte halt nur das Auskommen gesichert sein.
In meinen Bereichen ist jedenfalls kein Hineinkommen mehr, nachdem nur noch ein Hinausfallen war in den vergangenen Jahren. Und, ja, daran halte ich fest, auch wenn mein Selbstbewußtsein ziemlich zerbröselt: Diese Lebensumstände öffentlich zu protokollieren, gehört in das Konzept Der Dschungel mitten hinein, und zwar, während sie, diese Umstände, sich entwickeln. Es gehört sogar in die Produktivitätstheorie von Kunst allgemein. Es kann, wer sie verstehen, gar nachvollziehen will, von ihnen nicht absehen wollen, wird sich den Leidnissen aussetzen müssen.

***

4 thoughts on “Es gewagt zu haben. Das Arbeitsjournal des Donnerstags, dem 14. Juli 2016. Und wi(e)derwagen?

  1. { 13.6.:
    Zweimal je 19 km Radfahren/ca. 2 h; ungefähr 1000 kCal.

    72,5 kg
    Körperfett 16,2%

    14.6.:
    Krafttraining Beine-Bauch-Rücken, ca. 400 kCal
    Aufwärmen Step 10min, Auslaufen 15 min[10,2/km/h], zus. 319 kCal

    Radfahrt abends (Schillertheater): 2 x 9,3 km; zus. ca. 500 kCal

    72,5 klg
    Körperfett 16,4%
    }

  2. das wachsen muss man immer auch wagen – daher ist das ein sehr schöner, stimmiger “verhörer”, der, wie manchmal in solchen fällen, tiefere schichten der bedeutung freilegt.

    sie jedenfalls haben sehr viel gewagt, und auch wenn die düsternis, mitten im sommer, über ihren aussichten liegt: gewachsen sind sie jedenfalls, und werden es weiterhin tun, gemeinsam mit ihrem werk…
    daran besteht kein zweifel.

    herzliche grüße aus dem regenfeuchten wien!

    1. @David Ramirer. Es ist ein ständiges Stimmungsauf- und -ab momentan. Die Entscheidung, Hartz IV zu beantragen, setzt mir um so mehr zu, als sie unabsehbare Folgen hätte, auch für meinen Sohn. Deshalb habe ich mich heute vormittag entschlossen, von diesem Gang doch noch einmal abzustehen. Aber beides, die Entscheidung wie ihr Verwerfen, machen mich hochnervös. Ich werde wohl erst noch einmal Briefe schreiben – also in eine uralte Künstlertradition treten. Wenn Sie an Bachs Bettelbriefe denken, aus denen Kagel >>> diese unendlich herzbeklemmende Passion geschrieben hat, wird Ihnen mein Grundgefühl unmittelbar klar sein. (Es ist dies kein Spiel, deshalb bette ich die Youtube-Aufnahme hier nicht ein.)

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