Zu Dylan fällt mir nichts mehr ein. Im Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 15. Oktober 2016.



[Arbeitswohnung, 7.49 Uhr]

Aber vielleicht nimmt er den Preis nicht an. Dann wär es eine Hoffnung, und er hätte, der Herr Dylan, alle Hochachtung verdient und bekäm sie auch von m i r, gerade weil er die künstlerische Valenz seiner lyrics, im Vergleich mit andrer Lyrik, einzuschätzen wüßte; Geld hat er eh genug, Berühmtheit auch, das braucht er alles nicht noch nobelitiert. Und ließe nun die Jury wissen, es falle ihm zu ihr nichts ein – nichts, außer diesen Wertspruch abzulehnen.

Zu Hitler falle ihm nichts mehr ein, schrieb Karl Kraus 1934 und dann die monumentale >>>> Dritte Walpurgisnacht, die erst an die zwei Jahrzehnte später, posthum nämlich, erschien; 1936 aber zitierte er in >>>> Der Fackel daraus; er wollte klarmachen, weshalb weiterzuschreiben keinen Sinn mehr für ihn hatte. Wiewohl er es ja tat. Im selben Jahr wurde er niedergestochen.
Mir nun fällt zu Dylan nichts mehr ein. Aber ich werde keine dreihundert Seiten daraus machen, zum einen, weil der Anlaß nicht wirklich vergleichbar ist; Bob Dylan rief nie zum Völkermord auf, im Gegenteil. Doch mit seinen Liedern auf der Zunge wurden in My Lay Frauen von Handgranaten penetriert, die man dann hochgehen ließ. Es waren ziemlich sentimentale GIs, die es taten. Der von Adorno formulierte Anspruch an Kunst war da schon hoch, an Kunst wohlgemerkt: nämlich so gestaltet zu sein, daß sich nicht abermals ein Mißbrauch mit ihr treiben lasse: Schubert am Abend in Auschwitz. Der Anspruch an Kunst hatte sich gewandelt; sie ward fortan an Verantwortung geknüpft – eine aber nicht nur der Inhalte, die man vermitteln wollte, sondern vor allem der Form, psychologisch gesprochen: der von ihr vertretenen Strukturen und Muster.
Das Bedürfnis nach „Großer Verbindung“ aber blieb bestehen, in welche Katastrophen auch immer die letzte deutsche geführt hatte. Da gemeinschaftliches Aufgehobensein in Deutschland nicht mehr ging, suchten die jungen Deutschen sie nun im verhältnismäßig schuldlosen Ausland, was, daß es schuldlos sei, freilich gar nicht stimmt. Doch der Pop war geboren, man wiegte sich, und wiegt sich noch, in einem Gemeinschaftsgefühl, das schnell, rasend schnell, sämtliche Lebensbereiche erfaßte und alles auf >>>> die Warenform herunterbrach: Pop ist ja nicht nur Musik, sondern auch Mode und vor allem Verhalten, kurz: ein Lebensstil, an dem sich‘s gut verdienen läßt, wenn a l l e ihn pflegen. Der Außenseiter wird zur Unperson, damit jeder Widerstand obsolet. So daß selbst Dylan, wo er sich anfangs widerständig gab, schließlich zum Mainstream wurde, der wiederum nun | den Widerstand gefühlig-rückschau‘nd integriert: „retro“ ward „in“ und jeder Stachel weggeschliffen. Der >>>> von Stromberg zitierte Irvin Welsh hat völlig recht: Der Preis prämiert die Selbstnostalgie der Verleiher, für die Dylan eine Identifkationsfigur ihrer Jugend ist; ich spreche, wohlgemerkt, nicht von Dylan Thomas, sondern von einem, der – um einen seiner berühmtesten Texte zu nehmen – Verse wie die folgenden schrieb:

Once upon a time you dressed so fine
Threw the bums a dime in your prime, didn’t you?
People call, say, “Beware doll, you’re bound to fall”
You thought they were all kiddin’ you

You used to laugh about
Everybody that was a-hangin’ out
Now you don’t talk so loud
Now you don’t seem so proud
About having to be scrounging your next meal

How does it feel
How does it feel
To be without a home
Like a complete unknown
Like a rolling stone?


Wo ist hier künstlerisch-formale Valenz, dichterisch?

>>>> Dylan Thomas dagegen:

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

Though wise men at their end know dark is right,
Because their words had forked no lightning they
Do not go gentle into that good night.

Good men, the last wave by, crying how bright
Their frail deeds might have danced in a green bay,
Rage, rage against the dying of the light.


Oder vergleichen Sie >>>> Wolfgang Hilbig (der – anders als jemals ich – Dylan geliebt hat):
ich sehe die frauen vom geld geliebt
die männer verheert vom zuhaus der häuser
und ich erinnere mich
des sands der strand bis an die sterne das lager
aufwärts die see die fichten hinter der düne
mager in den nächtlichen wind gerettet
vor der sonne

Oder um eine F r a u zu nehmen, eine noch junge, aber bedeutende Dichterin, >>>> Katharina Schultens:
vielleicht doch etwas aus dem überfluss
ein bündel roter trauben eine schale toter augen
die schale ist ein tal. den augen wachsen blicke
sie staksen drauf bestürzt durchs gras

Aber wenn man denn schon einen Liedermacher nimmt (deren Verse eben meist nur mit der Musik funktionieren und schon deshalb Dichtung nicht sind), weshalb dann nicht den poetisch viel stärkeren Leonard Cohen oder Joni Mitchell, auf >>>> die bereits Bruno Lampe hinwies? Oder, >>>> mit Diadorim, Frank Zappa?

All diese Fragen verfehlen das Eigentliche. Die Jury begeistert nicht die Kunst, sondern Marktrelevanz, und nur, weil man sentimental ist und das Feigenblättchen der rechten – was „linken“ bedeutet (worunter in Schweden sinnigerweise die Sozialdemokratie verstanden wird) – Gesinnung trägt (schon, damit die Kameras nicht die nackten Geschlechtsteile sehen, die Hirn und Meinung genauso haben wie die Körper), — nur darum ist es nicht zum fürchterlichsten gekommen, daß nämlich J. K. Rowling den Preis bekam. Dabei wäre das doch eine F r a u, immerhin, gewesen!

„Pop ist die Ästhetik des Kapitalismus“, wie ich es >>>> schon vor Jahren unter einer viel und kontrovers diskutierten Filmkritik formuliert habe: Am „Fall Dylan“ (an Dylans Fall) erweist sich die Wahrheit des Satzes geradezu ikonographisch. Auch deshalb ist ein „egal“, das sich Diadorim von mir gewünscht hat, in diesem Fall nicht am Platz, so wenig, wie daß Kraus zu Hitler nichts einfiel, dem ja viel zu ihm einfiel. – Nein, „Hitler“ meint nicht Hitler, sondern Strukturen. Ich meine, wenn ich argumentiere, i m m e r Strukturen, nie Einzelfälle, nie Personen. Deshalb mein Verweis, deshalb das Zitat. Der Preis an Dylan nobelitiert den Untergang der (westlichen) politischen Utopien und hebt die Warenform, in dem sie sie verklärt, in den Parnaß. Die Entscheidung ist in übelstem Sinn „modern“. Da liegt der Skandal dieser Preisvergabe, und sie i s t ein Skandal. Denn sie streicht jegliche künstlerische Anstrengung durch, streicht die tägliche Balance durch, die von künstlerischen Entscheidungen verlangt wird, streicht auch das Wagnis des Mißlingens durch und die Ungewißheit des Alleinebleibens, die Künstlerinnen und Künstler auf sich nehmen müssen, wenn sie sich nicht nach der Decke strecken.
Dem alten Herrn Dylan sei beinah jede Ehrung gegönnt: Hier wird er zeigen müssen, ob er, wie einst Sartre, begreift, zu was man ihn gern machte. Was er aber vielleicht schon ist: Verrat an sich selbst und an einer ganzen Generation, zweier, dreier Generationen, die sich auch selbst verraten möchten. Auf daß Geschichte | getilgt sei. Was bleibt, ist der totalitäre Konsens: handelbare Austauschbarkeit.

ANH, Oktober 2016

51 thoughts on “Zu Dylan fällt mir nichts mehr ein. Im Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 15. Oktober 2016.

  1. Ich hätte es wissen müssen… Zu welcher Musik noch alles gemeuchelt wurde, das frag dich auch mal bei Wagner et al. Echt keine nerven, den xten Aufguss deiner antipopsuada zu lesen. Der Witz ist doch eh, dass der Nobelpreis höchst selten eine Schnittmenge mit den heute noch als wichtig erachteten Autorinnen bildet. Viele blieben völlig preislos. Komm mal aus deinem reflexhaften Autopilot, den kennen alle!

    1. @diadorim zur “Suada”: Sag mal, hast Du ‘nen Knall? Es geht hier nicht um Persönliches.
      Außerdem denkst Du nicht genau: Adornos – bis heute argmentativ – unwiderlegte Forderung ist nach Auschwitz und als eine Folge von Auschwitz formuliert worden – also die Frage nach der Verantwortlichkeit von Kunst. Außer bei Heine und Kraus – und später, zeitgleich mit Adorno, bei Th.Mann – stand sie vorher gar nicht auf der Agenda. Deshalb ist sie auf frühere Künstler nicht anwendbar (auch wenn etwa Beethoven sie sehr genau im Blick hatte; deshalb die Steichung der Widmung seiner dritten Sinfonie).
      Von Adorno formuliert wurde der Anspruch, eine Kunst so zu schaffen, daß sie nicht mehr mißbrauchbar ist. Für mich ist dies tatsächlich seit jeher Antrieb gewesen, und ich meine, daß meine Arbeiten – wie die vieler anderer auch – diesen Anspruch zumindest umzusetzen versucht haben, d.h. verzichtet auf massenwirksame, in jedem Fall rhetorische Strukturen, die gerade der Pop immer wieder verwendet. Meine Gegnerschaft zu ihm ist eine ästhetische. Daß sein Siegesmarsch quer durch die Marktsegmente analysierbar ist und daß an ihm Milliarden genau von denen verdient werden, gegen die man sich angeblich stellt, hat mit einer “Suada” nichts zu tun, sondern mit dem, um ein weiteres Mal Ernst Bloch zu zitieren, “Hauptbuch des Kapitalismus”. Wie die sich politisch “widerständig” dünkenden Anhänger des Pops diesen weltbeherrschenden Umstand verleugnen können und also nichts gegen ihn tun, ästhetisch, wird mir ein ewiges Rätsel bleiben.
      Also bring bitte ein Argument und laß die persönlichen Attacken beiseite. Ansonsten kann ich Dich als Diskussionsteilnehmerin nicht ernstnehmen. Daß Du mit Deinen beiden vorletzten Sätzen freilich (fast) recht hast, unterstreicht meine Perspektive sogar noch: Ich schaue auf das, was jetzt geschieht. Alles andere wird eine Literatur- und Kunstgeschichte bewerten, von der wir allenfalls eine aus Deduktionen gewonnene Ahnung haben. Die “reinen” Texte Dylans aber lassen sich >>>> gut jetzt schon nachlesen und also auch poetisch analysieren.

    2. der preis braucht dylan mehr, als dylan den preis, die akademie verschafft sich damit vor allem auch selbst presse und aufmerksamkeit und wieder geltung, davon könnten künftige preisträger*innen nicht minder profitieren. orthodox war ich noch nie, ich höre, was mir gefällt, an qualitätsstandards glaube ich nicht, die jahrzehnte zurückliegen, kein mensch kann in die zukunft sehen. der handle, den du mit dem pop führst, verkennt ja auch seit jahren, dass er in seinen entstehungszeiten nicht selten der pop vergangener jahre war, der genau so vermarktet und vermäzenatet wurde, herrscher verschafften sich damit geltung und prestige. die relativ kurze zeit, in der überhaupt pop entstehen konnte und warum und dass das durchaus demokratische und dilettantische züge tragen durfte (punk zb) die will ich loben und preisen. erlaubt ist, was gefällt, und ich werde auch keinem helene fischer verbieten, ich würde halt immer nur sagen, not my cup of tea und birth of the cool isses nicht, aber wer drauf steht, bitte schön. adorno zu musik, evil, null jazz wäre denkbar, adorno absolut setzen, evilst. mach, wie du willst, schweden macht ja auch, wie es will. so bob dylan, der nicht zu meinen faborites gehört, aber bei dem sich mir auch wenig sträubt, wenn ich ihn höre, kann ich nur sagen, richtig so, denn es ist mehr als eine person ausgezeichnet worden, es sind songschreiber als dichter alle gleich mitgekürt und scheden signalisiert damit, hey, ihr seid nicht nur unterhaltung für uns. und, klar hab ich n knall, aber der ist deutlich kleiner als deiner, aber wenn pk hier nicht so gern streiten mag mit dir, ist das verständlich, ich hab nur jetzt auch anderes zu tun, allerdings belebt es das geschäft hier doch wieder gleich. ich hatte nur irgendwie gedacht, du biegst noch mal um die ecke mit einem versuch, zappa ist ja schon mal kein schlechter anfang, auf dessen seite ich auch deutlicher stehe und nicht, weil der auch in sinfonien gemacht hat, sondern weil er die deutlich durchgeknallteren texte abgeliefert hat, noch lieber wäre mir captain beefheart, aber man kann die und bach hören, helene fischer dann vermutlich eher nicht, aber beefheart und bach total machbar herr nachbar. und von lewis caroll btw wurde eine figur erschaffen, humpty dumpty, der zeigte, alles kann missbraucht werden, es ist nur dir frage, wich is to be master, man kann die worte alles heißen lassen. der kapitalismus zeigt auch, man kann jeden zum star machen, segen wie fluch. letztlich zeigte jesus das ja wohl auch, du musst halt nur ein paar jünger haben, die dabei helfen, deinen ruf in die welt zu tragen, und wenn das, was du sagst, auf gegenliebe trifft, heißt auch, nichts zu schwierig machen, darum hat die religion in ihren geschichten ja auch großen erfolg gehabt, zumindest in ihren heruntergebrochene versionen, dann läufts. ich bin jetzt auf korsika, der duft steigt mir in die nase, ich bin schon geanz benebelt, heut abend singe ich jacques brel und schicke gute grüße nach berlin oder oder oder.

  2. Mircea Cartarescu hat überrascht und auch enttäuscht auf die Vergabe des Literaturnobelpreises an Bob Dylan reagiert.
    Erstmals erhält ein Songwriter den Preis für Literatur.
    “Niemand bestreitet, dass er ​ein genialer Musiker und ein großer Dichter ist, ich selbst habe ihn übersetzt”, schrieb Cartarescu bei Facebook. “Aber es tut mir so Leid um die wahren Schriftsteller, Adonis, Ngugi, DeLillo und weitere 2-3, die den Preis beinahe in der Tasche hatten.”

    1. @diadorim (ff), nun zur “Reinheit”. Und abermals wirst Du polemisch, anstelle zu argumentieren.

      Aber bitte, ich bin hellhörig, wenn Du mir Verse Dylans zitierst, die ohne Musik einen Dichter aus ihm machen. Mit der Musik, nun, dann analysieren wir doch mal die Partituren; auch dazu wäre ich bereit. Aber selbst wenn eine von ihnen hielte, wär’s immer noch die Frage, ob dann nicht ein Musiknobelpreis angemessen wäre und ob im Vergleich mit anderen Komponisten, wobei ich selbst einen “nur” mit Jazz- und Rockmusikern zuließe. Soweit ich’s überschaue, ist Dylan komplett in einer Harmonik und sogar Rhythmik verfangen geblieben, über die schon Mozart hinauswar.

    2. kann ich nicht, mir gefällts einfach, nicht so herausragend gut, wie es vielleicht anderen gefällt, aber glaubst du, ich war auf einigen punkkonzerten, da fragt irgendwer nach harmonik, wenn mdc (million dead cops, amis und eine der gefragtesten punkbands in den achtzigern) alle punks deutschlands versammelt kriegten in der zeche carl in essen. es geht doch um etwas ganz anderes, sie verkörperten offenbar eine art generationsgefühl, weltweit, und das tat dylan wohl in einem noch viel größeren maße. und ich bin überzeugt für mozart galt das nicht minder. und natürlich lassen sich auch bei dylan und mdc musikalische leistungen finden, sicher nicht vorwiegend im handwerk, aber das handwerk hat auch nicht coltrane berühmt gemacht, sondern die art und weise wie er sich gegen es stellte, nachdem er anfangs wirklich auch das real book durchgeblasen hat auf sehr konventionelle weise, irgendwann grüßt dich das murmeltier einfach täglich und dann willst du es nur noch anders machen, aber nicht schon wieder nur virtuos, oder perfekt gefügt. das ist doch komplett irre, zu meinen, man könne über irgendwas hinaus sein. dann ist auch jeder renaissance palast über das bauhaus hinaus, kann man so sehen, aber schmucklose bodentiefe fenster und die frankfurter küche brachten andere vorzüge. du dürftest kein museum für gegenwartskunst besuchen, denn dann wird rembrandt in jedem fall immer besser gewesen sein.

  3. für und wider der Zornesröte Ich will so gerne widersprechen, ich will so gern abnicken. Allein, ich bin befangen. Die Befangenheit rührt eben aus meiner Nostalgie… diese ist mir jugendlicherseits implantiert … mein Freund singt Bob Dylan Lieder, wir trinken viel, wir lachen viel, und doch hatte ich damals schon das Gefühl, es ist eine Kitschwolke um mich herum, er will mich verführen mit einer Art von Singsang, der nicht meiner Wirklichkeit entspricht, sondern Nebelgötter Happy Peace und Love und Guilty um mich versprüht. Als nun vorgestern, oder war es erst gestern, die Preisgabe Nobelpreis Bob Dylan hieß, war ich erstmal froh … für meinen Freund. Für mich war ich das seltsamerweise nicht, denn musikalisch konnte ich dem Troubadour noch nie etwas abgewinnen, es war Wortgestammel, Textgestammel, nichtmal gute Popmusik – aber Kult. Kult nicht im Sinn von Kultur, sondern von Religion. Dieser Religion bin ich nie verfallen, dafür anderen.
    Diesmal war ich gleichzeitig trotzdem froh. Denn nun ist mir nochmal klar geworden. Der Nobelpreis für Literatur kehrt unterstes zu oberst? Es wurden Autoren gekürt, die ich gelesen habe, oder die ich nie gelesen hätte. Aber überzeugt davon, dass wirklich der oder die ausgezeichnet würde, der oder die etwas im Sinn der Sprache vorangetrieben hätte, konnte ich nie sein, und seit gestern, oder war es vorgestern, weiß ich einmal mehr, es gibt keine Literatur im Sinn einer Fortsetzung oder Erweiterung von Literatur, sie steht für sich, so oder so. Heute haben sie ausgezeichnet, dass Literatur Popmusik sei mit anderen Mitteln. Ich bin nie zurechtgekommen mit den sogenannten Popliteraten, und sollte man Texte der Popmusiker auszeichnen wollen, könnte man auch Rammstein oder Depeche Mode dafür heranzüchten, oder heranziehen … was soll das ganze Theater um die Literatur noch, wenn ein Troubadour gewinnt. Ich bin deswegen froh über diesen Preis, da er mir deutlich macht, es gibt keine Maßstäbe an Literatur … gestern erst gesehen im Literarischen Quartett… es gibt sie wirklich nur noch durch die paar wenigen Vertreter ihrer Disziplin, Kunst, Art oder Sprache … schade nur, dass ein Glavinic nichtmal wirklich sagen kann, was er denkt oder fühlt … oder hat er nur seinen Flaschengeist vorbei geschickt? Und nicht mehr ernstzunehmen, dass ein Moralist wie MB ständig behaupten darf, er sei moralinfrei … und erheiternd fast, dass es offenbar doch noch soetwas gibt wie gut und schlecht, und dumm nur, dass zwischen diesem Gut und Schlecht keine Unterscheidung mehr getroffen werden kann, denn heute dies morgen das, anything goes und shit happens sind die Leitkulturen dieser Zeit … und der Nobelpreis an Bob Dylan ist dieses Jahr in meinen Augen deswegen richtig gesetzt, weil er mir endlich deutlich sagt: Es gibt keine Literatur, der man glauben darf. Es gibt keine Sprache, der man trauen kann. Es gibt keine Musik, die nicht schlecht genug ist, es trotzdem nach ganz oben zu schaffen. (“Mehr Punk wagen!”) Wir machen uns lustig über Flötentöne eines Papagei und hören Flötentöne eines Bob Dylan und nennen das Literatur/Lyrik. Was wollt ihr mehr. Das ist die Wahrheit. Ob Kind, ob Opa, ob Mutter oder Baby, schreit doch so laut ihr könnt, (“Alles ist Kunst!”) vielleicht hört euch jemand … es ist dies endlich mal eine echte/ehrliche Aussage: Die Literatur folgt dem Erfolg. Und sonst gar nichts. Alle anderen dürfen weiterschreiben. Ob gehört, gelesen oder verrissen … verworfen oder gestählt, verzweifelt oder belächelt … ein Endpunkt sozusagen. Alles nochmal von vorn. Wir können ausatmen. Es gibt keine Kriterien außer dem des Kommerz? Also schaffen wir uns neue. Wir können all die zurückliegenden Nobelpreise als Geschenk betrachten … zum ewigen Vergessen weggelobt. Also wurde auch mal ein Schlusspunkt gesetzt unter dieses Bob Dylansche Weltbeklagen und Besingen. Ich empfinde den Preis daher als konsequent und eine der echtheitigsten Aussagen der letzten Monate. Da brauchen wir uns nicht mehr um sowas wie Bob Dylan oder Thomas Dylan mehr bemühen … der Preis für Lyrik wurde dem schlechteren der beiden übervergeben! Nun öffnen sich die Türen. Und hinfort hinfort mit der Moral vom Besseren und Dürftigen. Es stimmt schon, was die Jungs da gestern im Quartett herausgelassen haben: Literatur muss etwas in mir auslösen. Und wenn Literatur weh tun darf, lieber ANB, dann auch, dass Dylan sowas gewinnt. Abgesehen davon. Das Licht warf seinen Schatten nicht etwa auf Dylan, sondern auf die Preisverleiher … und der Ernst der Weltenlage ist damit nunmal komplett nicht tangiert, sondern eher garniert. (Auch Nostalgie kann weh tun!) Somit fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Es gibt Events in dieser unserer Belletage, die sind nichtmal ihren Namen wert. Ein Tür- wie Augenöffner war das. Und Bob Dylan sollte ihn annehmen. Damit einfürallemal diese Art von Text keine Chance mehr hat zu gewinnen. By the way. Zwei nette Kalauer hat er besungen: You can always come back, but you can’t come back all the way und: Don’t criticize what you can’t understand. Insofern, nein, verstanden habe ich ihn nie. Gemocht auch nicht. Aber für meinen Freund freut es mich trotzdem sehr! Ein typischer Inbetween und Sowohlalsauchtext … ich weiß. Aber im Kern sagt er mir: Die Preise die da im Buchkosmos vergeben werden sind was für Eintagsfliegen und für solche die Wimpel, Abzeichen und sonstige Milliönchen sammeln … können aber nicht verhindern, dass trotzdem gute Bücher entstehen! Lieber ANB, ich lese gerade Traumschiff, und das ist mit Verlaub allemal besser geschrieben als Dylan singen kann. Dylan ließ ich mir immer schenken und sauge es im Netz. Traumschiff habe ich gekauft und bezahlt und lese es sogar! Gibt es kein schöneres Kompliment? Bitte danke. Gern geschehen! Schöne Zeit noch wünsche ich beim Abtragen von Zornesröte und dem Sich-widmen der wieder wichtigeren Sachen!

    1. Guter Kommentar Als Provokation gefällt mir die Entscheidung für Bob Dylan richtig gut, ich vermute Dylan selbst wird das noch krönen mit einer Ablehnung.
      Alle Preisverleihungen sind ungerecht und Theaterveranstaltungen voller Lug und Trug, wahrscheinlich wird in Frankfurt demnächst der Krankenbericht eines Psychos den Buchpreis bekommen.
      Von Dylan kenne ich nur ein Lied, ich glaube, das hat Marlene auch gesungen. Ein schönes Lied, ein Friedenslied.
      Gestern habe ich im Fernsehen ebenfalls das Literarische Quartett gesehen und heute mir das Buch des albanischen Autors bestellt.
      Die Runde war übrigens klug genug nicht auf den Nobelpreis einzugehen.
      Hier die Erwähnung der Morde mit den Handgranaten war absolut unnötig und irgendwie billig, sorry. Das musste ich loswerden.

    2. @Felix “…wahrscheinlich wird in Frankfurt demnächst der Krankenbericht eines Psychos den Buchpreis bekommen.”

      Dieser Satz ist so menschenverachtend und falsch, dass mir dazu gerade auch (s.o.) nichts mehr einfällt…

    3. Als Psychos bezeichnen sich viele der Kranken selbst. Mein Urteil basiert auf die Besprechungen in dieser Fernsehsendung. Zwei Autoren, die dieses Buch gelesen haben, hatten das ganz gut heraus gearbeitet. Literatur ist das nicht. Menschenverachtend sind wohl eher Verleger, die so eine Krankengeschichte auf den Markt bringen. Bedient werden da Leser mit niederen Instinkten. Das gehört in die Hände eines Arztes, und der Autor kann bestimmt nichts dafür, denn er ist schwer erkrankt. Man tut ihm auch keinen Gefallen.
      Die Verrisse, die kommen werden, sind mit Sicherheit vernichtender als mein beiläufiger Satz. Das ist auch “Literaturbetrieb”.
      Man macht damit Geschäfte und Profit, nichts weiter.
      Schon klar, dass Ihnen dazu nichts mehr einfällt, wahrscheinlich werden Sie es mit einem wohligen Schaudern lesen, eben nicht so krank zu sein, sorry, das ist menschenverachtend. Man gönnt sich dann ein wenig Mitleid, nicht wahr, denn man ist ja ein guter Mensch. Und das genießt man.

    4. “Als Psychos bezeichnen sich viele der Kranken selbst” Aha, und Sie bezeichnen Afroamerikaner auch als “Nigger”, weil manche von ihnen das selbst tun? Sorry, Sie haben ja wohl eine Vollmeise!

    5. Was Ihre Frage angeht, “Sie bezeichnen Afroamerikaner auch als “Nigger”, weil manche von ihnen das selbst tun?”, nein, das tue ich nicht, Ich bin ja kein Afroamerikaner, aber nach Ihrer Logik bin ich vielleicht auch ein Psycho :-)))
      Würden Sie sich denn in diesem Fall für “Vollmeise” entschuldigen?

    6. Was ist Literatur? – die Frage stellt sich offenbar täglich neu. Zur Auffrischung meiner Germanistikkenntnisse von vor dreißig Jahren habe ich den hier gefunden: http://finno-ugristik.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/abt_finno-ugristik/Lehre/STEOP/StEOP_Skript__Einf%C3%BChrung_in_die_Literaturwissenschaft.pdf … Zu Melle: Wenn er nun gar nicht erkrankt wäre, sondern nur fiktionialisiert hätte, dass er manisch depressiv sei … wäre es dann Literatur? Ich kann die Meinung, es handle sich hier nicht um Literatur, sondern um einen Marketing-Gag des Rowohlt Verlags überhaupt nicht teilen. Ich habe selbst zwei Jahre in der Psychiatrie gearbeitet und alles, was zu diesesm Thema öffentlich gemacht wird, verdient meinen Respekt, im Gegenteil, es wird viel zu wenig zu diesem Thema so öffentlich gemacht, dass man es auch lesen kann. Und in Melles Fall konnte ich es sehr gut lesen, nicht vor dem Hintergrund des voyeuristischen Nervenkitzels, sondern aus Betroffenheit, aus Scham (immerhin gibt er sehr viele in meinen Augen aphoristische Hinweise – und dass es sich bei dieser Art der Krankheit um einen Teufelskreis handelt und: das macht das Buch dann für mich zum literarischen Werk: daraus ergeben sich für mich Reflexe auf unsere Zeit, unsere Werte, unsere Denkansätze: so gesehen eine große Allegorie – das kapputte Gehirn als Spiegel seines Umfelds – ob die/der dann noch angemessen ist oder zeitgemäß, das müssen dann andere beurteilen. Im gleichen Atemzug wurde Goetz Irre als Literatur dargestellt (in der Senung). Da kann man dann ebenso seine Zweifel zu haben. Undsoweiter.)
      Vielleicht bin ich auch nur zu naiv für derart avantgardistische Übersichten und Durchsichten. Kehre ich zurück zu Bob Dylan und seinem verdienten wie entsetzlichen Nobelpreis und /Entsetzen erzeugenden. Literatur ist immer auch was der Reziepient aus ihr macht. Und wenn nun Jesus zu singen angefangen hat, so ist es eben noch nicht glaubwürdig. wenn aber Paulus daraus einen Auftrag erhält … er möge dieser Botschaft folgen … und Briefe schreibt … Briefe Briefe Briefe … sind die nun weniger LIteratur als Peter Handkes Aufstellung des 1. Fc Nürnberg? Ist das überhaupt noch Literatur? Wo anfangen, wo aufhören? Ist dieses ganze Gestammel des Paulus nicht auch eine furchterregende Übertreibung? Ist Bobby Dylan dagen nicht sogar eine Wohltat, obwohl auftretend wie Jesus? Ich bleibe, was das angeht, insgesamt skeptisch: vor allem gegenüber denen, die soetwas wie Messlatten an Literatur legen, die ich nicht mehr (an)erkennen kann. Ich habe neulich nochmal versucht Adornos Minima Moralia zu lesen. Es ist dies ein Meisterwerk eines Texte, der mehr Musik zu sein scheint als Literatur – denn beim besten Willen, ich habe vieles einfach nicht entschlüsseln können. Und da es so verschlüsselt daher kommt, könnte man ebenso glauben, es sei dies keine Literatur? Tja. Ratlos werde ich immer bei solchen Fragen und Behauptungen. Literatur sei dann wohl doch das, was Freude bereitet ? Sinn macht ? Avantgarde ist ? Was Neues will ? Die Spiegel ent oder verhüllen ? … hoho – die Gegenaussage steht auch: Literatur muss weh tun. Und von Paulus, über Dylan, zu Melle … ja … es tut/tat weh. Wünsche einen guten Start in die Woche! (Wie witzig, nun heißt mein Captcha auch noch road – on the road also. *)

    7. und recht hast du … ANH wird wohl richtig gelegen haben … Stockholmer Komitee hat es vorläufig aufgegeben, Kontakt zu Bob Dylan aufzunehmen. (Für das ANB in meinem ersten Kommentar möcht ich mich insofern entschuldigen, als ANB ohne ANBob nicht sichtbar geworden ist … nein, ich hatte mich einfach vertippt …) Bin nun auch froh, dass Melle ewiger Vizekusen bleibt … so kommt er raus aus der Schusslinie. Zu Kirchhoff heißt es jetzt, das sei trotzdem kein Selbstläufer, weil “nur” eine Novelle. Nächstes Jahr ist dann auch hier ein*e Lyriker*in dran? / Lese gerade wieder ein bisschen im Legendärschreibhefte 58, die Jubiläumsausgabe, schon wieder so far away http://bobdylan.com/songs/long-ago-far-away/

  4. Inwiefern ein Nobelpreis an eine avantgardistische Dichterin (oder gar einen anderen alten weißen Mann) nun den Nobelpreis (oder einen anderen der tausenden von Literaturpreisen) weniger zum nachgerade exakten Ausdruck der Poppisierung der Literatur, ihre Reduzierung auf den Markencharakter von Kunst, auf einen totalitären Konsens gemacht hätte, das würde ich dann doch gern noch hören. Sie könnten nun ja auch dankbar sein, dass dieser Kelch an Dylan Thomas – wobei Dylan Thomas, pardon, ist genauso Pop wie Bob Dylan, wenn ich da etwa an den Gag des 1995er Blockbusters „Dangerous Minds“ denke, der die beiden, genau wie Sie, zusammendenkt. Auch Dylan Thomas‘ Ästhetik ist offensichtlich, ähnlich wie die Bob Dylans, nicht vor Vereinnahmung durch die Masse gefeit – wäre Adorno ein sozial besorgter Klassenlehrer wie Michelle Pfeiffer in jenem Kitschfilm, würde er vermutlich über beide entsetzt den Kopf schütteln.

  5. Ich rege mich erst über den Nobelpreis auf, wenn Sie, Herbst, ihn bekommen.
    Also nie.
    Des ist der wahre Grund, der Sie ausflippen lässt, dass Sie schon wieder in die Röhre schaun, erzählns mir nix, ich kenn Sie doch!
    Sie sind ein neidischer Kleinkrämer, kleingeistig, vernagelt, verbittert und humorlos.

    1. ich hab ihn ja auch nicht gekriegt, und jeder preis, der an mir vorbei geht, kann meistens auch wenig anderes als blind und taub sein! nobel, dachte ich nur einen moment, als herta müller ihn bekam, guckma, unmöglich ist es nicht, aber, ich bin ja mit nem halben minibüchner angefangen, nach hinten muss ja noch luft sein und wenn nicht, ich hab noch ne gitarre, wünscht euch das nicht!

    2. was schreiben Sie denn so, smile, gibt es denn einen Link? ich meine, Herta Müller habe ich mir auch gekauft und nicht bereut 🙂

    3. ja, dann aber mal ganz fix diadorims werke bestellt, sehr empfehlen kann ich the origin of senses, da ist auch viel zum gucken drin von einem anderen radikalgenie, lesen muss man ja bei künftigen nobelpreisträger*innen eh nicht mehr so viel. ich seh mich und anh ja immer in relation zu anderen schreibstübler*innen, wo ich dann sagen würde, na ja, wenn xyz die preise nur so hinterhergeschmissen werden, warum uns eigentlich nicht auch? alban, nehme ich an, sieht das anders. kenner behaupten, uns fehlen die sekundärtugenden, was gar nicht stimmt, wir haben künstlerallüren und attitüden und pflegen sie, was wir nicht so gut können, wenn uns die galle geht, die klappe halten, wir lassen es nur jeweils anders raus, gern auch mal gegeneinander. immerhin gibt dylan mal wieder anlass zu diskussionen, während es ja sonst oft nur heißt, hä? wer? aha ahso interessant. ich mag ja überraschungen und delillo, pynchon, roth brauchen ihn mit sicherheit ähnlich dringlich wie dylan, nämlich gar nicht. ich nehme auch an, alle haben andere ziele. nur hanser hofft jedes jahr wieder, dass es mal wieder ihr lizenzeinkaufsnäschen vergoldet. natürlich beißt sich jetzt gerade der buchhandel in den allerwertesten, nur reclam und detering freuen sich n bein ab.

    4. okay danke, ich habe da was gefunden bei amazon und schaue mir das an. “Album”. Sollte ich begeistert sein, schreibe ich Ihnen eine Rezension und schlage Sie natürlich für den nächsten Nobelpreis vor. Das klappt dann schon :-))

  6. Alles sehr bedenkenswert. Dylan möchte ich garnicht kommentieren. Eine Bemerkung aber doch zu Adorno. Weil der hier immer wieder aufpoppt. Adorno hat einen Anspruch an Kunst formuliert. Ja. Aber wer ist denn Adorno. Der von Gott eingesetzte Weltenerklärer? Dass die Musik, die er liebte und wertschätze von Nazischergen gehört und wertgeschätzt wurde, ist ihm sicher übel aufgestoßen. Insbesondere da der Musik die Aufgabe zugedacht war, die Welt möge doch bitteschön an ihrem Wesen genesen. Irgendwie dumm, dass das nicht nur nicht passierte, sondern die Protagonisten der größten Katastrophe der jüngeren Geschichte mit einem Ohr an ebendieser Musik hingen. Woraus ja nur folgen kann, dass sich wenigstens die Musik künftiger Komponisten bitteschön nicht mehr missbrauchen lassen solle. Dabei könnte ja e i n e Lehre aus Ausschwitz sein, dass die dem Künstler zugedachte Rolle als Seismograph und Läuterer der modernen Welt eine gigantische Überforderung darstellt. Eine Projektion geltungsbedürftiger und komplexbehafteter Geisteswissenschaftler. Was auch immer. Dass der Kapitalismus alles aufsaugt, was nicht niet- und nagelfest ist – dies ist ja gerade sein Erfolgsmodell – kann doch nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass nur berechtigt und schätzenswert ist, was er verschmäht. Interessant wäre übrigens in diesem Zusammenhang mal die Frage, warum der Kapitalismus moderne Kunst liebt, moderne Musik (im Sinne Adornos) aber hasst. Niemand käme doch auf die Idee, moderne Malerei sei per se keine Kunst, weil sich so herrlich damit spekulieren lässt. Und wäre Nono plötzlich verdächtig, wenn sich herausstellte, irgendein Diktator hörte und sei es aus einer Marotte heraus seine Musik? Ich habe da eher den Verdacht, der Kapitalismus macht mit uns allen dies: er stellt die Kirche vors Dorf und überhöht unsere Achtung vor der Kunst.

  7. @ Der Dilettant: Es geht in diesem Kontext nicht darum, die Welt zu erklären und die erste Ursache zu erforschen und Adorno ist auch nicht der von Gott gesetzte Weltenerklärer, sondern in bezug auf Dylan stellen sich bestimmte Fragen, was eigentlich Kunst und was Ware ist und insbesondere, was Dichtung bzw. Kunst im Zeitalter von Pop heute bedeutet. Wozu es sinnvoll ist, die Ästhetik Adornos heranzuziehen. Denn keine andere Kunsttheorie hat schärfer den Warencharakter von Kunst ins Auge gefaßt und keine Ästhetik plädierte vehementer dafür, daß Kunst einen Wahrheitsanspruch enthält und sich nicht bloß auf Effekte und Affektion reduzieren läßt, wie wir es bis in die Gegenwartsdebatten hinein erleben müssen, wo Begriffe wie ästhetische Erfahrung und Rezeptionshaltungen des subjektiven Für-Schickhaltens Urstände feiern. Irgendwann wird man dem Publikum auch Helene Fischer „Atemlos“ als Lyrik verkaufen. Wirkung zumindest zeitigt dieser Song.

    Zunächst übrigens weist Adorno der Musik gar keine Aufgabe oder einen irgendwie in Gesellschaft politisch eingreifenden Anspruch zu, Adorno ist keine Schillerschüler und Kunst keine moralische Lehranstalt, schon gar nicht fungiert sie als ärztliche Kurmittel der Weltgenessung. Das ist schlichtweg falsch. Weiterhin sieht Adorno den Künstler kaum als Läuterer; ansonsten hätte Adorno sich für engagierte Künstlern wie Sartre stark gemacht. Das Gegenteil aber ist der Fall. Gerade dort, wo der Künstler politische Intentionen ins Werk preßt, mißlingt das Kunstwerk. Daß Kunst nicht mißbrauchbar sein sollte, heißt bei Adorno lediglich, daß sie sich nicht in den Dienst irgendeiner Sache stellt. Auch nicht der vermeintlich guten. Gelungene Kunst der Moderne nach Auschwitz ist von der Grundfarbe schwarz, heißt es bei Adorno an einer Stelle seiner „Ästhetischen Theorie“. Wieweit man dieses Diktum ins Heute transformieren muß und unter gegenwärtigen Bedingungen zu denken habe, wäre zu überlegen. Von Auschwitz trennen uns über 70 Jahre. Dennoch kann man diesen Satz von der Grundfarbe schwarz als eine Metapher verstehen.

    Wer mehr zu Adorno und dem Pop möchte, dem gönne ich diesen Link. In wenigen Sätzen bringt Adorno das System Pop und das Läppische daran auf den Punkt.

    https://www.youtube.com/watch?v=Xd7Fhaji8ow&feature=youtu.be

    Ich habe in meinem Blog schon mehrfach darauf verwiesen, weil sich in diesem Zitat in nuce die Mechanismen der Kulturindustrie und des Pop zeigen. Unbedingt hörenswert.

    1. Danke@bersarin für diesen Youtube-Link.
      Ich verstehe nicht so recht, wie man nach den seither gemachten Erfahrungen den in Rede stehenden Pop-Sachverhalt überhaupt noch affirmativ diskutieren kann. Es gehört eine ungeheure Verleugnungskraft dazu, deren offenbare Existenz aber zeigt, wie tief die Totalität der Marktes die Seelen längst geprägt hat.
      Und danke auch für den Link auf >>>> Sieglinde Geisels sehr vorsichtig-sanften Versuch einer poetischen Analyse.

      Ah, und weil von Heinrich Böll die Rede war. Ich bin nicht unbedingt sein Anhänger, aber Die verlorene Ehre der Katharina Blum und wenigstens noch Ansichten eines Clowns sind Meisterwerke. Das unterscheidet Böll von Dylan tief, auch wenn ich lieber Uwe Johnson als Literaturnobelpreisträger gesehen hätte. In jedem Fall ist ein Streit über solche Schriftsteller ergebiger als selbst noch die Ablehnung Dylans (als Nobelpreisträger). Schon diese – und auch meine – Ablehnung mißt ihm viel zu viel poetischen Wert bei – als würde man darüber diskutieren, ob sich ein Sattelschlepper als Segelflieger eigne. Wenn man ihn dafür aufs Rollfeld zieht, hat daran freilich er nicht schuld.

  8. Zu Adorno allerdings… …, also konkreter: Adorno als moralische Instanz, fällt mir dann doch Walter Benjamin ein.

    Und mit Welsh ist zu diesem Literaturnobelpreis alles nötige gesagt. 😉 Allgemeiner: zur tatsächlichen Relevanz der Nobelpreise außerhalb der Naturwissenschaften. Mein Hahn jedenfalls kräht danach nicht.

  9. Groß und Klein Ich stimme der Bewertung weitgehend zu, lehne sie aber als solche ab. Literatur, Kunst, Musik ist aber einem bestimmten Niveau gegeneinander inkommensurabel. Ja, Joni Mitchel, z.B., fiel mir auch ein, aber von welchem Punkt aus will man die eine über den anderen stellen? Persönliches Gefallen ist ja kein Maßstab. Man kann ja auch sagen: Wenn Böll den Nobelpreis gekriegt hat, dann doch bitte Dylan schon lange. Und so kann man eben Dylan viele, viele andere gegenüberstellen und dann sieht, was manchen groß erscheint, klein aus.
    Im Topf waren diesmal über 200 (!) Schriftsteller aus ich weiß nicht wie vielen Ländern. Einen einzigen sop hoch über alle anderen zu stellen, ist per se unangemessen, ein relatives Fehlurteil und finanziell ungerecht.
    Von Adorno her über den Nobelpreis nachzudenken, halte ich aus einem Grund für relevant. In einer Zeit, in der das tiefere Lesen von allen Seiten durch Unterhaltungskonsum angegriffen wird, ist die Auszeichnung dieses “Sing-&Danceman” falsch, überflüssig, wenn man so will ein Verrat.
    Das sage ich, obwohl ich andererseits meine, dass Dylan durchaus auch für die Literatur als ein Vorbild an Eigenwilligkeit taugt. Ihn für seine Anschlüsse an die amerikanische Liedgut-Tradition auszuzeichnen negiert allerdings gerade das Gute, was wir an ihm einst hatten: die Disruption des niedlichen Singsangs und das Suhlen der Popmusik im Banalen. Aber das war einmal und inzwischen müht er sich ab, wie Sinatra zu klingen.
    Aber wie auch immer, der Nobelpreis wie der deutsche Buchpreis ist – wie immer schon – in Gefahr, eine kulturwirtschaftliche statt einer literarischen Bedeutung zu haben. Das war in den letzten Jahren beim Nobelpreis eher anders, die Entscheidungen trafen Unbekannte, die Verlagskonzerne wurden oft auf dem falschen Fuß erwischt.

    1. vielleicht greift ja auch dieses blog durch unterhaltungskonsum an? ich glaube nicht an die grenzen von u und e, sie sind künstlich, sie gehorchen nur anderen töpfen und verteilungsschlüsseln. da kann man den verrat höchstens daran sehen, dass schweden umverteilt hat. was man bislang als gesichert annahm, schweden zeichnet literatur aus, von der kaum je jemand irgendwas gehört und gelesen hat, haben sie dieses mal anders gehalten. wohl auch nicht zuletzt, damit diskussionen wie diese hier mal wieder entstehen. im nächsten jahr geht es dann doch eh weiter wie gehabt, aber man schaut vielleicht wieder ein wenig genauer hin, ganz so blöd ist diese strategie nicht!

    2. ich sehe überhaupt keine gefahr, in einem land, wo jeder opernsitz hochsubventioniert ist, kann man sich auch genauso fragen, warum eigentlich immer nur die theater, philharmonien und die opernhäuser, warum nicht literatur? warum müssen lyriker*innen und ihre verlage darben und selber sehen, wo sie bleiben, aber theater und oper kriegen immer noch die meisten subventionen? warum einen sir simon rattle für viel geld? warum darf der pop das nicht mit gleichem recht angreifen? warum nicht lesebühnen in ähnlichem maße fördern wie theater, philharmonien und lyrikverlagsförderungen ins leben rufen? kann man sich genau so gut fragen. das beruht alles auch nur darauf, weil es aufgrund von lobbyarbeit so geworden ist, annotuck annodunnemals. und wenn man schon adorno anführen will, dann vielleicht doch einen seiner besten sätze: und, wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles. und times they re a changin’ und alles ist auch adorno nie gewesen. da liegt dylan nicht so weit von adorno weg, nur dylans satzstellung. ich hab mir übrigens in diesem jahr noch sinatra gekauft, vinyl, brasilianische pressung und diditte es auch immer schon ganz gern my way, und die sex pistols ja auch. genaugenommen ist der gedanke eben grundfalsch, kunst, egal welche, müsse von ihrem verkauf leben, da aber ein buch- und kunsthandel auch nichts anderes suggeriert und praktiziert inzwischen, sehe ich den kapitalismus nahezu überall walten, nicht nur beim pop. es ist nur die frage, wer ist die zielgruppe. wenn aber eine gesellschaft entscheidet, sie möchte auch dinge auf dem schirm haben, auf die sie selber nicht so ohne weiteres käme, baut sie instanzen ein, die dafür sorgen, und da ist der nobelpreis nur eine, subventionen können andere sein, aber sind die frei von lobbyisten, keinesfalls! genaugenommen war der pop eine antwort auf ein sonst nicht zu enterndes hoheitsgebiet voller dünkel und lobbyismus, er hat sich sein publikum eben selbst gesucht. ganz so blöd war das nicht.

    3. Da haben Sie auch wieder Recht, insbesondere bei dem Punkt, dass Hochkultur noch zu keiner Zeit und in keiner Gesellschaft ohne Zuschüsse ausgekommen wäre. Wobei der Unterschied zwischen Lyrik und Oper oder Film(!) in den Produktionskosten liegt, nicht im Schreiben des Scripts. Und mit einem Buch können Sie aus dem Nichts zu einem Vermögen kommen, aber im Operngeschäft schaffen das nur die Nachsänger, sozusagen für die Coverversionssänger, ein Geld herausspringen kann. Die Kulturökonomie ist generell verwickelt und noch unglücklicher geregelt als die allgemeine Reproduktion – es gibt zumal in einer Zeit, wo Prominenz das neue Öl ist, abstruse Einkommenshyperbeln, gegen die die Spreizung zwischen Arbeiter und Vorstand bei VW ein Klacks ist. Dass der Pop eine Antwort war auf den Dünkel und Bürgern vorbehaltenen Konzertsälen? Nein, das wohl eher nicht. Pop ist letztlich Volksmusik, da kommt es her.

    4. @diadorim und FritzIv … einer Volksmusik, die in Deutschland desavouiert worden war. Ecco. Man wollte sie aber behalten und ließ sich deshalb kulturell kolonialisieren, freiwillig. Gab selbst die eigene Sprache auf. Wiewohl im Lied derselbe Kitsch, sprach sich “I love you” glatter als “Ich liebe dich”. Derart groß scheint der Verlust empfunden worden zu sein. Mit dem großen Wir-Gefühl hat auch der (diktatorische Staats)”Kommunismus” seine im Wortsinn schlagenden Spiele gespielt.

      Aber was, diadorim, die Theater anbelangt. Auch hier empfiehlt sich ein etwas tieferes Nachdenken. Es sind ja nicht die Produktionen so teuer, sondern der gesamte Apparat aus oft hunderten Angestellten ist es, die alle mit Recht sozialversichert sein wollen und sein müssen; an den städtischen und staatlichen Theatern, Opern- und Konzerthäusern hängen hunderte Familien, von denen der Schnürmeister bis zu denen der Bühnenbildbauer, grandioser Handwerker oft, die hier noch einen nichtentfremdeten Arbeitsbereich finden, etwa in den Tischlereien. Und und und. Auch Orchestermusiker sind Angestellte mit den Rechten anderer Angestellter. Insofern hinkt der Vergleich mit dem Literaturbetrieb komplett, von großen Verlagen einmal abgesehen; doch Staatsverlage haben wir im Kunstbereich nicht, anders als Österreich. Es würde uns auch nicht weiterhelfen. Und wenn wir jetzt mal die Honorare selbst von Starsängern und -solisten und -dirigenten mit denen im dem Pop so lieben Filmgeschäft vergleichen, schauen jene durchaus in die Röhre. Was die übrigen, nichtstaatlichen und -städtischen Theater anbelangt, so hängen sie am dürren Futtertuch wie wir.

    5. klar hängen viele arbeitsplätze am theater, nicht umsonst scherzen die ja selbst schwarzhumorig, hauptsache der oberbeleuchter ist noch sozialversichert, nicht wenige schauspieler*innen sind es nämlich längst nicht mehr.
      ich sehe und höre kategoriensprünge zwischen den herzbuben, helene fischer und bob dylan oder zappa. ist eigentlich auch extrem latte. sie hören, was sie hören wollen und ich höre, was ich hören will. gerade in der musik tut sich unglaublich viel, da es nämlich, dank des internets enorm viele plattformen der verbreitung inzwischen gibt und einige findige nasen, die da unterwegs sind und eine unbekannte nach der anderen zu tage fördern, für eine viel kürzere zeit, dann verschwinden sie alle wieder und neue kommen nach, aber das zeigt für mich, es gibt eben keinen kanon, es gibt viele, die gutes und sehr gutes zu wege bringen, von den meisten erfährt eine größere öffentlichkeit nie. das ist in der schriftstellerei nicht anders. die frage ist nicht, ob etwas gutes entsteht und wie, die frage ist, wie findet es an die öffentlichkeit. ein buch verlegen reicht zb dafür nicht, dann erst fängt die arbeit an. sprich, sind verlage mit manpower dahinter oder nicht, wenn nicht, kriegt man es selten über eine bestimmte wahrnehmungsschwelle.

    1. Man kann nicht nur, man muß das sogar. Kritik und Rant. Gegen falsche Lyrik immer ranten. Je intellektueller, desto besser. Gehört Dylan eigentlich zur Fraktion Pimp my Lyrics with Bedeutung? Da bin ich mir noch nicht sicher.

      Eine interessante, weil konkrete Analyse zu Dylans Texten im Detail liefert Sieglinde Geisel bei srf-Kultur:

      http://www.srf.ch/kultur/literatur/wie-dichtet-dylan-5-songs-unter-der-lupe

      Der Artikel zeigt ganz gut anhand einiger Beispiele die Dürftigkeit und das Trivale mancher Dylan-Verse.

  10. wo bitte ist aber die richtige musik im falschen, das muss mir adorno dann auch mal verraten. adorno hat viel gesehen und richtig beschrieben, aber adorno kannte die zukunft, unsere gegenwart, nicht. und was, fragt man sich dazu, steht denn außerhalb eines handel und wandels. auch ein alban verschenkt seine bücher nicht. indieverlage verkaufen sie auch. wo bitte ist denn dann die grenze zu ziehen, zwischen kulturindustrie und wahrhaftiger kunst? und vielleicht ist vieles durchdrungen von kitsch, auch das scheinbar so widerständige und verquere. hör dir doch mal holly herndon zb an. da ist viel mitreflektiert, von dem könnte adorno noch lernen, und dafür braucht es nachfolgende generationen, die nicht ewig an adorno kleben, sondern ihre helden erschaffen und mitbringen, so kommt es mir vor. ihnen zuzuhören und zuzulesen lehrt auch einiges.

  11. Bob Dylan – dieser Preis ist einfach nur eine Variante des Stockholm-Syndroms. Diesmal im Feld der Literatur. Der Betrieb identifiziert sich mit dem Aggressor Pop.

    1. immer noch besser als mit helene fischer! das nobelpreiskomitee als opfer seiner eigenen wirkungslosigkeit und bürgerlichen kunstvorstellungen möchte sich jetzt doch gern ein bisschen popularisieren lassen. well well well. ich kann mir schlimmeres vorstellen!
      nur muss man fairerweise sagen, das opfer hat sich in diesem fall den täter selbst herbeizitiert, der vermutlich nicht mal mitspielen will, denn er geht weiterhin nicht ans telefon. das ist nahezu wie einen überfall fingieren und sich schon mal selbst in den wandschrank sperren.

    2. Spricht in der Tat f ü r Dylan. Jetzt dürfen die Juror:inn:en selbst zur Preisvergabe anreisen und die Auszeichnung vielleicht sogar selbst entgegennehmen. Was, geschähe es, viel viel Wahrheit hätte (Wahrheit in emphatischem Sinn).

    3. “Der Betrieb identifiziert sich mit dem Aggressor Pop.”

      Solch leere Rhetorik entsteht, wenn Sie zwei dieser Kampfbegriffe ineinanderrühren: War der Betrieb nicht selbst schon Pop – also von *innen*, warum sollte der “Pop” diesem nun als Aggressor also von *außen* gegenüberstehen?

      Es ist nicht so, dass ich nicht genügend Adorno gelesen hätte, um nicht wenigstens ein wenig Sympathie und Achtung für dessen Ästhetik zu empfinden.

      Das heutige Problem ist in meinen Augen nur nicht mehr “Pop” oder der Positivismus, der schon längst seinen Endsieg davon getragen hat. Irgendwie hat die Aufklärung ja schon die zweite Stufe gezündet und vielleicht tut daher ein zweiter expressionistischer Schrei, ein ästhetischer Widerstand bitter Not, der unseren Seelen, dem Individuum erneut Befreiung zum Atmen verschaffte. Aber Sie brauchen doch neue Mittel. Sie können sich doch nicht mehr wie Adorno oder Goethe im Faust II dahinstellen und das ganze seufzend, mit eine bisschen Kulturpessimisus von oben herab abtun. Dazu ist es doch schon zu virulent geworden, zu allumgebend, hat sich die Ästhetik des Anorganisch-Mechanischen schon zu tief in unseren Alltag gegraben: schauen Sie nur auf die glatten Oberflächen der Apfelgeräte, die Netz- und App-Interfaces, die Bildästhetik und Thematiken in Ex Machina oder Westworld.

      Ob es dann besser wäre mit Schiller oder Kittler sich voll in den aufklärerischen Idealismus, das Bitgefeuer zu stürzen, weiß ich auch nicht, aber mit dem Abwehrspruch “Pop” können Sie die Ideen und Ideologien rund um das WWW, Google, die Open-Source-Bewegung oder Tesla doch schwerlich fassen oder bannen… Vielleicht dann, wenn John Carmack (http://kotaku.com/5975610/the-exceptional-beauty-of-doom-3s-source-code) den nächsten Nobelpreis für Literatur bekommen hat…

    4. Aphorismen, und das solltest Sie eigentlich wissen, Phorkyas, sind auf den ersten Blick immer leere Rhetorik, weil sie mit wenigen Begriffen eine Sache zuspitzen. Lesen Sie Lichtenberg oder Karl Kraus – die sind voll davon. Und trotzdem (nein: gerade deshalb) funktioniert es und aus diesem Grunde, weil der Aphorismus eine Erkenntnis grell aufscheinen läßt, ist er am Ende eben keine leere Rhetorik, sondern er pointiert ein Problem. Wie auch in diesem Fall: Pop und Literaturbetrieb.

      Ästhetischer Aufschrei, bzw. Widerstand, ist mir schlicht zu plakativ. Was soll das sein? Bereits der Expressionismus ist an diesem reinen Ausdruck gescheitert, von all der Protestkunst mal ganz zu schweigen. Wollen wir wirklich Beuys singen hören „Wir wollen Sonne statt Reagan“ oder naive Politkünstler, die Botschaften verbreiten, die ich auch ohne sie gewußt hätte? Und wenn Lennon und Yoko Ono sich hinstellen und singen „Give peace a chance“, dann ist das zunächst mal nur ein hilfloser Reflex. Nett gemeint, aber wirkungslos. Zumal der Protest vom System bereits im Kalkül eingeplant ist.

      Pop ist immer noch und hinreichend wirkungsmächtig, weshalb es wichtig ist, dieses Phänomen unter die Lupe zu nehmen und den Finger in die Wunde zu legen. Zumal es zentral dafür verantwortlich ist, Denken und Wahrnehmen zu präformieren. Der Pop ist ganz sicher nicht die Matrix. Aber er ist eine Hervorbrinung der kapitalistisch organisierten Warenwirtschaft und sein System begreift immer noch ganz gut Adorno in seinem Kapitel zur Kulturindustrie, das den treffenden Untertitel „Aufklärung als Massenbetrug“ trägt. Mag oldschool scheinen. Aber ich nähere mich Problemen und Fragen nicht nach intellektuellen Moden, sondern von der Sache her.

      Die neuen Mittel des Widerstands liegen ganz sicherlich nicht im System Pop, wo noch die Differenz mit der Ähnlichkeit geschlagen ist und vor allem kalkuliert wurde. Ist jetzt mal zugespitzt formuliert. Wenn ich Diedrich Diederichsens anregendes Buch „Über Pop-Musik“ lese, dann tun sich zwar auch neue Perspektiven auf. Nur glaube ich eben nicht an die Subversion aus dem Jugendzimmer und auch nicht an die der Musik. Und schon gar nicht an den Widerstand, der ein ephemeres Phänomen ist, das sich bei den meisten schnell auswächst zugunsten eines biederrotgrünen Konformismus. Hier in der Berliner Blasenwelt besonders gut zu beobachten, wo jegliche Abweichung im Denken sogleich sanktioniert wird. Der neue Klassenkampf: Er heißt heute Ernährung und das bessere Bewußtsein besitzt, wer eine Glutenunverträglichkeit oder eine Laktoseintoleranz aufzuweisen vermag. Nein, an einen ästhetischen Widerstand sehe ich nicht. Die Leute schaffen es ja nicht einmal mehr Peter Weiss zu lesen. (Wäre überhaupt die Frage, ob solche Modelle heute überhaupt noch taugen oder der Widerstand nicht umgepolt werden muß.)

      Für den Widerstand reicht es freilich auch nicht aus, sich lediglich aufs System Pop zu kaprizieren, denn da blendet man anderes ansonsten aus. Zentral bleiben die ökonomischen Strukturen, die Trennung von Arbeit und Kapital, um mal ein großes Schlagwort gelassen auszusprechen.

      Mit dem Begriff Pop übrigens hatte ich nicht vor, die technischen Medien im Allgemeinen zu erfassen, bis hin zu selbstfahrenden Autos, sondern es ging in diesem Kontext zunächst einmal um den Literaturbetrieb und um einen Barden, der von diesem Betrieb ausgezeichnet wurde. Und sich verweigerte. Was ich spannend finde. Aber in Ihrem letzten Absatz haben Sie ohne Zweifel recht, daß es sich hier um Phänomene handelt, auf die man reagieren muß. Auch hier halte ich die Kritik von Adorno, Marcuse und Foucault an der Immanenz des Systems und seinen Hervorbringungen für ein gutes Werkzeug, um von dort den Ausgang zu nehmen und weiterzudenken. Besonders gut in diesem Kontext gefällt mir übrigens von Metz und Seeßlen das Buch. „Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld“. Sehr drastisch zwar und an vielen Stellen plakativ und damit auch rhetorisch, aber es bringt einige der Probleme von Ware und Kunst auf den Punkt. Mit Lenin bleibt also zu fragen: „Was tun?“

    5. Widerstand heißt in seiner basalen Variante, die Kritik bestimmter Phänomene zu betreiben. Das wäre zunächst mal eine theoretische Haltung. Die auch die Praxis einschließen kann. Sich z.B. dem System des Pop zu verweigern oder in Debatten nicht aus Bequemlichkeit auszuweichen und zuzustimmen, sondern zu widersprechen. Wie in der Causa Dylan.

    6. @Tessa: Richtiger Einwurf. Dieser Widerstand ist nur ein Schwenker im Rotweinglas, Fuck the system wenigstens ‘n bisschen. Gegen wen schon: Betrieb, Pop, Kapitalismus? Das gehört doch immer konkret aufgezeigt.
      Und in diesem Fall: Nobelpreis mal ehrlich? Das ist eben wieder so ein unsinniger Fixationspunkt des öffentlichen Interesses, das ihm immer noch so eine Aura gibt, die es längst nicht mehr verdient haben dürfte. Scrollen Sie die Namen doch mal durch. Da sind doch auch Winston Churchill oder Historiker dabei. – Offensichtlich wie auch beim Friedensnobelpreis, der die noch viel größere Lachnummer ist, mischen sich wohl klar politische und weltlich-profane Motive in die Ergebnisfindung ein.

      Um es festzuhalten: Die Irritation, die Herrn Herbst zu diesem Antrag veranlasste, teile ich im Grunde: Weil ich mich noch erinnere, dass gerade in den deutschsprachigen Feuilletons alljährlich Bob Dylan’s Nobelpreis eingefordert wurde und es nun ist, als ob dieser absurden Forderung nachgegeben wurde.

      @Bersarin: Ihrem Einwand der Plakativität muss ich stattgeben. Vielem ihr Einlassungen kann ich im Grunde nur zustimmen, wie: “Pop ist immer noch und hinreichend wirkungsmächtig, weshalb es wichtig ist, dieses Phänomen unter die Lupe zu nehmen und den Finger in die Wunde zu legen. Zumal es zentral dafür verantwortlich ist, Denken und Wahrnehmen zu präformieren.”
      Allerdings sollte man es meiner Meinung nach, konkret vorweisen können, also dass man tatsächlich eine Wunde bezeichnen kann. Was weiß ich z.B. am Webdesign, wo Apps und neue Webseiten zu einer gewissen Optik konvergieren und die Icons zum Teilen auf Twitter, Facebook, Google, Reddit unter jedem Artikel prangen – oder weil es schickt scheint die Schriften immer blasser werden (vgl. https://backchannel.com/how-the-web-became-unreadable-a781ddc711b6#.1t531qgfu )

      “Zentral bleiben die ökonomischen Strukturen, die Trennung von Arbeit und Kapital, um mal ein großes Schlagwort gelassen auszusprechen.”
      Kann sein, dass dies auch ein Wichtiges ist, um die uns umgebende Wirklichkeit besser zu erfassen. Mir ging es so mit Durkheims Arbeitsteilung und segmentierter Gesellschaft (Positivist, ts.),.. Weil das doch in der modernen Gesellschaft bis ins schärfste verstärkt ist, dass die einzelnen Teile nicht mehr lebensfähig für sich sind, die Abhängigkeiten der Gesellschaftsgruppen so sehr ins Absurde getrieben ist, wo dann huete Unternehmen ihr Geld damit verdienen, die Klickzahlen von auftraggebenden Webseiten zu optimieren…
      Oder letztlich in einer NDR-Doku über die klaffende Schere von arm und reich, gab es für mich auch wieder so ein kleines Moment des Augen-Öffnenden, als einer der Millionäre erklärte, dass sich mit Arbeit, die etwas konkretes produziere, doch leidlich Geld verdienen lasse, deshalb machte er erst mit Trabis und dann mit Ost-Villen. Da war die kapitalistische Logik en nuce. Damit kann ich dann was anfangen, wenn’s so einer selbst auch noch sagt… Aber Dylan? Schulterzucken. Wie Herbst schrieb: Dazu fällt mir nichts ein. Und schrieb dann doch sehr viel. So wie ich.

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