Neujahrssonntag. Der erste Januar 2017. De natura poeticae sonoris.


[Casa di >>>> Schulze
François Couperin, Sandrine Piaus Finsternislektionen]

Wobei dieser Tage von Finsternissen kaum gesprochen werden kann: Es ist frostkalt in Umbrien, aber hell, der Himmel strahlend blau, und der Sonnrich prallt auf die rosa Mauer, auf die ich aus meinem Arbeits- und Schlafzimmer schaue.
Es geht zur kleinen öffentlichen, vorwiegend zum Abstellen der ebenso kleinen Autos genutzten Piazza hinaus. Der >>>> Banditore di Amelia raint dort ebenso an wie der Pianeta Verde, das halbprivate Biolädchen, für das der Freund sogar einen Schlüssel besitzt. Ich sprach gestern davon, er habe seine Lebensmittelkammer ausgelagert. Was nicht ganz stimmt, nachdem wir nun mehrmals einkaufen waren – eine Tätigkeit, die, wie hierzulande immer, meine barocke Lust am Schwelgen entzündete. „Wenn ich wieder allein bin, kann ich zwei Wochen aus dem Kühlschrank leben“, so der Freund am Telefon. Wobei der „Kühlschrank“ arg eingeschränkt werden muß, weil ich die Neigung habe, Lebensmittels nicht frieren zu lassen. Zum seit nunmehr zwei Tage in der Beize liegenden Hirschbraten bemerkte der Freund, da kämen doch jetzt tausend Bakterien hinein. Abgesehen davon, daß einige auch durchaus erwünscht sind, entgegnete ich für die übrigen: „Nö, bei den Temperaturen sitzen sie tief in ihre Mäntel gemummt möglichst nahe an der Heizung und rühren sich nicht weg.“
Ich schreibe langsam am Ghostroman weiter, das erste ausgeführte sagen-wir-„Fantasy“-Kapitel. Das ein solches freilich nicht ist. Doch was es ist, darf ich >>>> bekanntlich nicht sagen. Mit Konstantin Wecker, der uns gestern abend – alternierend mit Pergolesi und abgeschlossen von Händel – durch den Abend rutschen half, kann ich immerhin sagen: „Du, ich lebe immer am Meer“ – wobei Sie recht haben, liebe Freundin, wenn Sie mein Du monieren. Es steht hier auch nur zitathalber; ich werde weiterhin unsere Distanz erhalten: die vielleicht einzige Vornahme, die ich für dieses Neue Jahr habe. Alles übrige liegt in den vorgeprägten Abläufen oder sei dem Zufall überlassen. Der mich im Alten ja nun wirklich überrascht hat.
Es ist nicht nur dahingesagt, wenn ich sage, daß das vergangene 2016 zu den härtesten Jahren meines ganzen Lebens gehört hat, namentlich seine erste Hälfte – und dann zu den märchenhaftesten. Die nach den zerbröselten Illusionen, die ich mir irrerweise mit dem >>>> Traumschiff gemacht hatte, sich zunehmend verfestigene Entschlossenheit, nicht mehr zu schreiben oder doch zumindest es nicht weiter auf Veröffentlichungen anzulegen, drehte sich seltsam ins einfache Weiterarbeiten hinein, wenn auch einem unter völlig anderen als den von mir gewöhnten Vorzeichen und auch Verbindlichkeiten. Das ist nun der Teppich, über den ich gehe; er erlaubt auch bare Füße über kaltem Stein. Und hier und da, schau nur!, kommt dann doch ein Pflänzchen wieder durch. Der Friedrichroman fängt an, leis in mir zu wachsen, auch an die Fortsetzung der Triestbriefe denke ich; und die Béartgedichte liegen allezeit am Schreibplatz; ich trage die ausgedruckten Seiten sogar ständig mit mir herum, bin zuversichtlich, daß irgendwann wieder ein Vers ersteht. Aber ohne daß ich ihn hinausgedrückt hätte. Und wenn nicht, nun, dann ist’s auch gut. Mein Sohn wird erwachsen, das ist die vielleicht größte Freude. Wir haben ihm nicht mitgegeben, „etwas zu werden“, aber Seele. Er ist von großer innerer Schönheit; daß ihr eine äußere entspricht, eine der Erscheinung, ist sein, nicht unser Privileg.
Ich sah den sonnengelben Flur des Nachbarhauses wieder.
Ich hatte Tränen in den Augen, als ich mir gestern >>>> Brancaccio-Ciaculli ansah – ein Quartiere Palermos, den ich noch nicht kenne; ein Umstand, den ich werde ändern müssen.
Jeder Schritt, den wir tun, geht über Verwandlungen hin; nicht immer sind sie zum bessren. Und uns ist aufgegeben – aber man muß es annehmen und annehmen können –, eine persönliche Haltung zu entwickeln, die, wenn es gelingt, Charakterhaltung wird. Der Zeitstrahl geht auf die Person, die man schließlich vor dem Zerfall ist: Höhepunkt der Entwicklung, ständiges Zunehmen an Wissen und (Herzens)Bildung (o altes Wort meiner Großmutter), schließlich, irgendwann, vielleicht ein Ruhen in sich selbst. Dann fahren wir die Rutsche hinab, jede/r einzelne von uns. Wie die sehr alten Frauen hier, die bis ganz zuletzt den ganzen Berg hinab- und ihn dann, tütenbehängt, wieder hinaufsteigen, bis eines Tages das Knie es nicht mehr möchte. Dann setzen sie sich oben auf die Piazza, um zu warten. Sie halten die Bank für die nächsten warm, die sich setzen, wenn sie selbst gegangen.
So sehen sie den jungen Mädchen zu, wie sie Frauen werden, dann schon Mütter sind, die auf Enkelkinder warten. Das ist der Fluß. Nein, das ist das Fließen. Die vergangenen eintausend Jahre sind so lange nicht, wie wir anfangs denken. Nirgends spür ich es so wie in der Kleinstadt. Gesualdo, Fürst von Venosa.

Freunde riefen an, sogar der Profi rief wieder an. Mein Sohn rief an, लक्ष्मी rief an, die Löwin rief an, sogar die Elfe gab Antwort. Freund Broßmann rief an. Die Contessa schickte schon früh eine Nachricht. Wir sind nicht allein.
Ich tauche in die Romangeschehen. Die jetzige Szene koste ich aus, alleine für mich. Immer wieder geh ich durch den weiten Park. Ich schaue auf den See zur Insel hinüber. Ein kleines Mädchen bin ich grad, vielleicht acht Jahre alt. Es ist der Badia ausgebüxt. Ich geb ihm keinen Namen. Es taucht nur einmal auf und beobachtet eine Schlüsselszene. Dann verschwindet es in den Generationenfolgen. Und viele Jahre später, Jahrzehnte später, seh ich es als alte Frau oben auf der Piazza sitzen und sich an seine Kinderliebe erinnern. Die es ganz vergessen hatte. Obwohl es immer Mädchen blieb in einer Hälfte seines Herzens (die >>>> Marschallin: „Aber wie kann das wirklich sein, / daß ich die kleine Resi war / und daß ich auch einmal die alte Frau sein werd! . . / Die alte Frau, die alte Marschallin! / »Siegst es, da geht’s, die alte Fürstin Resi!« / Wie kann denn das geschehen? / Wie macht denn das der liebe Gott? / Wo ich doch immer die gleiche bin. / Und wenn er’s schon so machen muß, / warum lasst er mich denn zuschau’n dabei, / mit gar so klarem Sinn? Warum versteckt er’s nicht vor mir? / Das alles ist geheim, so viel geheim. / Und man ist dazu da, daß man’s ertragt. / Und, in dem »Wie« da liegt der ganze Unterschied –“) – – obwohl es also immer Mädchen blieb, hat es sich über die Jahre vergessen.
Wie ich selbst in einer Hälfte meines Herzens immer der Junge geblieben bin, der ich mal gewesen. >>>> Fichte erzählte davon. Ich muß es nicht wiederholen. Aber es ist gut, sich selbst daran bisweilen zu erinnern.

Ein Anschlag in Istanbul, mehrere Tote. Auch über die gehen die Jahre, wie nun bereits die Tage über den Berliner Anschlag und seine Toten hinweggegangen sind und werden schon jetzt als öffentliche Jahre empfunden. Private Zeiten sind andere. Trauer läßt sich nicht institutionalisieren. Wer es versucht, schafft Freizeit, also Divertimenti – ein übrigens viel besseres, menschlicheres Wort als „Entertainment“. Wären unsere Unterhaltungs-„Events“ Divertimenti, es stünde um die Menschheit besser. Drum sei’s.
Gesualdos Motetten sind Trauer, aber eine divertimente; ein Entertainment sind sie nicht. Im guten Sinn erbauen sie: Auch das Wort „Erbauung“ meinte etwas anderes als das Entertainment will. Die Sänger sind keine Entertainer.
„Der süße Schmerz“ war ein Gedankenspiel-Titel für meinen neuen Gedichtband; ein Schmerz, der uns bildet und heilend neu zusammenfügt. Credo aller großen Kunst. Wir sprachen gestern über die Sinnlosigkeit, also Täuschung, durch populäre Unterhaltungsformen, auch (und gerade) der Musik. Es war ein Silvester ohne Remmidemmi, fast nüchtern vor dem Screen und den Lautsprechern, dann ergriffen durch sakrale Musik. Und daß jemand, Wecker nämlich, noch einmal >>>> zum Widerstand aufrief. Siebzig (!) ist er unterdessen und hat ein wenig zugelegt um die Hüften. Dennoch ist mehr Energie in ihm als in vielen Jungen, die ich kenne: Aufbruchsenergie, auch wenn er sie hie und da ein wenig zu sehr vom Beat statt von seiner Stimme tragen läßt.
Es ist ihm, find ich, nachzusehen.
Wir hörten auch kurz Hannes Wader. Er klang seltsam flach dagegen.
Die in Klang umgesetzten politischen Utopien klangen flach und wie Zitate aus vergangenen Zeiten, die wir wissend und ernüchtert überschauen. Wir haken sie ab. Von Bert Brecht – für den Freund, wie er erzählte, eine seiner Initiationen in die deutschsprachige Literatur – bleibt (erstaunlicherweise?) alleine der Baal. Und bleiben die Gedichte. Alles übrige ist eine Beschwörung geworden, der die Kraft der Beschwörung versiegt ist; sie hat drum keine Magie mehr.
Magie hat Magdalena Koženás „Lascia ch’io pianga“:





Händels Lied hat noch nach 310 Jahren überhaupt nichts von ihr eingebüßt, so wenig wie Grimmelshausens Simplizissimus, so wenig wie, nunmehr 240 Jahre später, >>>>> Goethes Harzreise im Winter:
Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.
Mit den nahezu unfaßbaren, von Brahms vertonten Mittelzeilen:Ach, wer heilet die Schmerzen
Deß, dem Balsam zu Gift ward?






Ich hörte diese Musik zum ersten Mal mit siebzehn. Seither ist sie ein unverrückbarer Teil meines Selbst.

Zurück also wieder an den – unseren: der Contessa und meinen – Roman. Und an Hackbrett und Herd für den Hirschen und das Blaukraut.

(„Weitermachen“, sagte gestern nacht der Freund, „dem einfach weiter folgen, woran wir glaubten und glauben.“ Dennoch ist zu spüren, wie immer weniger ich der

Unhold

noch bleibe, geschweige denn der Ihre).

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