Einen guten Schnitt machen. Arbeitsjournal, 22. Oktober 2017. Darinnen Bruno Lampe Kleist entdeckt .


[Arbeitswohnung, 8.57 Uhr
Martinů, Ariane]

Um halb neun aufgewacht, ich hatte mit Absicht keinen Wecker gestellt. Denn eine Fähigkeit ward wiedererweckt, die mich als Jungen rettete: daß ich mir vornehmen kann, was ich träumen wolle, und es dann wirklich träume. Sie ging über die erwachsenen Jahrzehnte nicht verloren, war aber zunehmend nur noch sporadisch da.
Es kündigt sich mit einem Bewußtsein an, einer Art unbedingten Glaubens, ja einer leisen Evidenz, die, je näher die Bettzeit rückt, um so stärker jubelt. Gestern wußte ich es um halb elf, spätabends, Freundin, oder nachts, ganz wie Sie wollen. Ist objektiv eine Frage der Perspektive, die aber ja nicht fragt. Fragen tun erst wir.
Das Es in mir rief aus: Träumen, dieses träumen! Die Tür öffnen und, sich legend, eintreten. Indem wir die Decke über uns ziehen, auch an uns ziehen wie einer anderen Leib, sind wir hindurch.
Jede/r von uns kennt das. Wir nehmen einen geformten Teil der Decke im mittunteren Bereich besonders fest zwischen die Oberschenkel, den oberen in die Arme und spüren je nach Temperament einen Kopf auf unserer Brust oder halt den unseren auf eines/einer andren. So sind wir empfangen, umhüllen, sind umhüllt.

Wenn mir jetzt abends eine einzige Flasche Weines nicht mehr genügt, sondern ich eine zweite öffne, ist es objektiv ein Alarmzeichen. Gegen dieses flammte die Fähigkeit des, ich nenne es einmal, bewußten Wunschtraumes auf; ihre Evidenz war es, die mich gestern nach dem ersten Glas aus der zweiten Flasche den Abend enden ließ.
Glücklich, tiefglücklich schlief ich ein wie jemand, der im warmen Wasser stirbt; so wird jedenfalls von den Alten erzählt, die sich im Bad verströmten, nachdem sie ihre Pulse geöffnet. So stelle ich’s mir vor. Auch sie werden bewußt geträumt haben, bis der Traum mit dem Leben davonfloß. Ob sie, als man sie fand, gelächelt haben?

Natürlich – welch ein Wort hier! – wachte ich, wahrscheinlich, zu meiner üblichen Zeit auf, gegen fünf oder halb sechs, blieb aber liegen, weil mir so scharf klar war, nun in den Tag zurückzumüssen, den ich durchs Fenster schon regnen hörte, dauerschütten. Das schein’ ich nicht gewollt zu haben, deshalb blieb ich liegen. Doch mit der guten Evidenz war es vorbei. Denn als ich „wirklich” erwachte, war mein Bettzeug wie zertreten, war zerwühlt, die Decke aus dem Überzeug gezerrt:

schwerauf -


Der >>>> Zielcke war in mich zurück. Dazu die derzeit Quälerei, all die Nachträge in den Ghostroman einzubauen, die nicht wirklich eine poetische Funktion haben. Was mir tagsüber auch die Konzentration nimmt, und wie ich dabei abermals um >>>> Meere fürchte. Ich habe seit vier Tagen nicht geduscht, kenne die Symptome, will aber zu den Tabletten, von denen ich noch habe, nicht greifen.
Pragmatisch also sein: die Bettwäsche wechseln, erstens, zweitens an Rasierzeug und Dusche und, dies vor allem, einen Anzug, am besten auch Krawatte. Sich Form geben. Dann tun, was ansteht, und weder nach links noch rechts blicken. Stur sein. Sich versturen. Da ist nur so wenig Atem drin, zu wenig Aufbruch für einen wie mich.

[Martinů, Řecké pašije]


Mit einem ungewiß-amüsierten Staunen >>>> Bruno Lampes neuen Tagebucheintrag gelesen, wie er, Lampe, einfach nur dasteht in der Leere, die ihn lehrt. Immerhin hat er endlich Kleist entdeckt. Das empfand ich als einen kurzen Triumph, einen, der mich, was ich anfangs nicht wollte, nun doch dieses Arbeitsjournal schreiben läßt.

Zweiter Latte macchiato, Moment.

Jetzt geht die Sonne auf, drängt sich hell zu Himmelblau.

Abermals ist es Musik, die mir zurück die Ruhe gibt, ein wenig Zuversicht; das „wenig” indessen bleibt in der Formulierung erhalten. Vielleicht sollte ich einen Spaziergang machen, vielleicht sogar den Sport wieder aufnehmen. Nur weiß ich für letztres nicht, wofür.
Es ist, wie meine Mitte, die die Dichtung war, verloren. Die aktive Mitte: Dichtung, die passive: Musik. Beide über Formen ineinander verbunden, deren Fundament – verzeihen Sie, Freundin, den Pleonasmus – vitales Leben war. Dessen Stelle bei den meisten, wenn es gut mit ihnen geht, die Weisheit irgendwann einnimmt.
Das ist bei mir offenbar nicht gelungen, sie findet in mir keinen Ort. Das alte Drängen ist noch da, ohne aber noch Hoffnung zu sein, nicht einmal mehr, oder nur kaum, ein Wille, der auch Wollen wäre. Es war nicht falsch, was ich tat (also: schrieb): dieses Bewußtsein ist zugegen zugleich. Es war den meisten Leser:innen einfach nur fremd und ist es ihnen geblieben. Dafür können sie so wenig wie ich. Anstelle aber, daß wir uns annähern, klaffen die Scherenblätter immer weiter auseinander.

Falls ich Ihnen, Freundin, in den nächsten Tagen mal wieder nichts schreibe, so einfach deshalb, weil ich die Brotarbeit endlich fertigbekommen muß; diese Arbeitsjournale kosten zuviel Zeit und Schmerz. Daß Google, wie ich heute las, twoday, den Hoster Der Dschungel, nicht mehr erfaßt, tut ein übriges, mein Gefühl real zu bestätigen, daß ich ins selbe Leere schreibe, in das Herr Lampe gestern schaute.
Was soll es aber auch? Menschen ertrinken im Mittelmeer, Menschen verhungern im Sudan, Millionen Menschen fliehen vor Krieg. Andere Menschen mauern sich in ihrem Fremdenhaß ein und richten die Waffen hinaus. Und Menschen verdienen an alldem, die guten wie die bösen. Sie machen einen guten Schnitt. Erzählt hab ich es längst. (Das „habe” ist verkürzt, damit das „längst” betont wird).

thetis2

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