So streifen junge Kater


[Geschrieben für >>>> Faustkultur.
Dort erschienen am 6.11.2017]



Peirani Parisien Schaefer Wollny

Balladen erzählen in knapper und konzentrierter Form
eine Geschichte, die szenisch dargeboten wird: Häufig
treten in einer Ballade mehrere Sprecher auf; Teile der
Handlung werden dialogisch in wörtlicher Rede wieder-
gegeben.
(…) die Ballade nimmt dabei opernhafte Effekte wie Re-
zitative oder Märsche auf; die Klavierbegleitung ist ton-
malerisch und verwendet teilweise Leitmotive.
Wikipedia



Eine nahezu unfeine Freizügigkeit ist im Umgang mit Superlativen nötig geworden, wenn man heute noch gehört werden möchte. Lässt man sie unter der Zunge liegen, wie Stil und Stolz es gebieten, hört einen gar niemand mehr: So wär zwar der eigenen Haltung Genüge getan („zu wissen, dass es Platin ist” [>>>> Vacheron Genève]), kaum aber den Musikern, denen man viele Stunden des Wieder- und aber- und abermals-Hörens verdankt. Nicht eine, so oft ich diesen, ja, Balladen jetzt lauschte, hat jemals an Spannung nachgegeben – nicht an ihr, geschweige denn an Virtuosität. Auf die es aber weniger als auf den Ausdruck ankommt – der musikalischen Erzählung, zu der die Form des alten Tanzlieds über die Jahrhunderte geworden ist.
Und also sage ich es, schreibe es nieder:

Dieses ist für mich die schönste und ergreifendste Jazz-CD, die 2017 herausgekommen ist.


Sie wird mir Lebensbegleiterin bleiben. Und Balladen sind diese fünf Stücke fürwahr: Out of Land heißen sie zusammen, „Außer Landes” also oder „In der Ferne”, was nun aber nicht Heimweh bedeutet, sondern einen sich bisweilen klangekstatisch aufschwingenden Rausch, von dem mir erst, wenn er plötzlich wegbricht, die Traurigkeit des Verlassenseins bleibt – zu bleiben scheint, denn schon im nächsten Stück hebt sie sich auf und beginnt das Abenteuer, sich aufeinander einzulassen, von neuem und anders. Das eben ist der Charakter von gemeinsamen Improvisationen: „Wir haben uns an vieles, was wir in den Proben besprochen hatten, nicht gehalten – bewusst!” ruft im Booklet Andreas Schaefer aus, der Stimm- und Sangeskünstler, und zwar „weil die Musik im Moment einfach etwas anderes gewollt hat.”
So tragen diese Musiker die Höhen ihrer Live-Auftritte selbst noch ins nachbereitende Studio hinein: der grad genannte Schaefer, der Saxophonist Emile Parisien, am Klavier Michael Wollny und der Akkordeonträumer Vincent Peirani.
Das Akkordeon ist ohnedies ein unterschätztes, bisweilen sogar missachtetes Instrument – „Quetschkommode”, so dachte auch ich einst -, – bis ich in Aachen, es ist Jahrzehnte her, >>>> Jean Pacalet erlebte. Ich selbst war auf das Festival zu einer Lesung eingeladen. Pacalet trat nach mir auf – absoluter Höhepunkt der Veranstaltungsreihe. Unterdessen ist er, leider viel zu früh, gestorben.
So nimmt nun ein Nächster das Feuer. Wie es halt „geht” in den Künsten.
Tatsächlich ist es Peirani, der die Stücke legiert, mal wie ein subversiver Basso continuo als Humus der Musik, mal aber auch solistisch sich ins Licht hebend, was das Balladeske dieser Musiken noch erheblich betont. Wären die Stücke ein wenig länger, ließen sie sich sogar Rhapsodien nennen. Auf solche ist für kommende CDs sehr zu hoffen. Leute, n e h m t   euch einfach die Zeit!
Wie rhapsodisch sie sein kann, diese Musik, war unmittelbar zu fühlen, als ich das Quartett zum ersten Mal live hörte – Anfang April dieses Jahres beim >>>> Festkonzert zum 25jährigen Jubiläum des Labels ACT, das Out of Land produziert hat. Als etwas ganz Neues wurden die Viere angekündigt. Für experimentelle Musik, die zugleich unterhaltsam ist, nahezu immer bleibt, ist ACT auch bekannt. Dabei geht das Niveau so gut wie niemals verloren, oder höchst selten.
Diese Viere aber waren, und sind, eine Art Erleuchtungserleben. Wie nämlich sie Musik erzählen, hebt sie aus allem Jazz heraus, ja es spielt keine Rolle mehr, zu welcher Gattung sie gehört. (Auch Ragas werden improvisiert – des großen Imrat Khans zu gedenken). Unsere Assoziationsräume funkeln.
Schaerer, so schrieb ich am folgenden Tag in Der Dschungel, ist nicht nur ein Sänger vom Schlage >>>> Bobby McFerrins, er ist mindestens ebenso Mundschlagzeuger. Seine virtuosen Fähigkeiten gehen weit, sehr weit über die pure Imitation hinaus; sie wissen ihre Mittel ineinander zu verschleifen oder eines aus dem anderen herauszuholen, nicht selten parallel zu den Mitspielern geführt. Wie die Viere aber dann unvermittelt die Register wechseln, ja ganze Welten des Klangs ineinander verschachteln, sich Zeit, plötzlich ganz viel Zeit lassen – die auf einer CD aber leider begrenzt ist – , ist ungemein beeindruckend. Ich bekam vor Aufregung feuchte Handflächen und bekomm sie immer wieder. Doch schon spielt das Akkordeon an irgendeiner verlassenen Pariser Ecke alleine vor sich hin. Was vorher war, war Traum? So schubbert manches Mal ein Wind ein raschelnd’ Etwas vor sich her.
Out of Land ist, in fünf Kapiteln, ein mal mit harten Schnitten, dann wieder elegischen Übergängen fantasierter akustischer Spielfilm. Wie wir im Live-Konzert unversehens in einer nachtkahl-nassen Chicagoer Straße standen, wo aus irgendeiner Jazzkneipe, fast ist es schon morgens, der Klang durchs Kellerfenster hochdringt, so hören wir auf der Platte – nichts andres aber ist’s als unsere eigene Imagination – in einem sich seltsam dehnenden Moment den expressiven >>>> Piazolla, freilich diskret, mitsummen, bevor Peirani sein Saxophon geradezu hysterisch aufdreht. Erst Wollny läßt es sich wieder fassen. Ein Lullaby und Mantra zugleich, so perlt sich die helle Intelligenz seines Klavierspiels in die entbundenen Leidenschaften. Oder Peirani und Schaerer steigen simultan – also parallelgeführt – in die Höhe; da übernimmt Wollny auf komplett weggedämpften Saiten den dumpfen Drive eines Schlagwerks. Dann wieder wird Schaerers Mundraum zur Weltmusik-Percussion: Zunge und Gaumen als Klangholz auf Klangholz.
All diese Stücke sind verspielt zugleich und streng, groß ausholend, aufmotzend und dennoch bescheiden, hin und wieder sogar schüchtern und wenig später herrlich – (weil nie klebrig) – kitschig, dann süß verträumt vor Melancholie. Alles ist, dies vor allem, Geste und ist voll Abbrüchen auch, und voller Anspielungen, neuer Erfindung. Es wird geschmettert und gerufen, geschmachtet und liebkost, wird geraunt und gegurrt und umschmeichelt. Junge Kater umstreifen alte Häuser so, auf deren einem Fensterbrett die Kätzin in einen Mond schaut, der blaß sein Licht über ein in der Tonne loderndes Feuer streut.
Und wir, – wir hören die stiebenden Funkentöne: wie sie zu Mond streben selbst und Mond ganz selber werden. Bevor er selbst zu Tag wird – auch das dank dieser Musik.

Out of Land
Andreas Schaerer, Michael Wollny,
Vincent Peirani, Emile Parisien,
ACT 9832-2
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