Jerusalem. Im Arbeitsjournal des Mittwochs, den 6. Dezember 2017. Und aus einer Rede vor Zeiten.


Und ich frage mich, ob es nicht gerade diese Geschichte
von Eroberung und Wiedereroberung und Wiederwieder-
eroberung ist, ob der Altstadt nicht eben, daß sie so viele
verschiedene Herren sah, ihre dem Monotheismus höchst
angemessenen Einzigartigkeit verleiht. Die Stadt ist nicht
jüdisch oder islamisch oder gar kreuzfahrerchristlich, son-
dern ihre Herren haben immer nur ein bedingtes Mandat.
Ob dieses auf Rom oder auf Israel, auf Jordanien oder mei-
nethalben Australien lautet, ist eigentlich egal: Denn das
gemeinte Jerusalem ist sowieso himmlisch, ein irdischer
Verwaltungsapparat geht davor auch dann in die Knie,
wenn es ein israelischer ist: Einen chancenreichen Ver-
drängungskampf kann Eretz Israel nur in der modernen
und um die moderne Neustadt, also jenseits der prächti-
gen Süleyman-Mauern führen. Wiederum schützt der jahr-
hundertealte Konflikt die Altstadt vor ihrer restlosen Musea-
lisierung. Solange Altjerusalems Status strittig ist, behält
der Glaube seine prekäre Macht, und zwar auf – konfessio-
nell grob gesprochen, ich weiß – allen drei Seiten. Religions-
theoretisch sind sie sowieso voneinander abhängig und auf-
einander bezogen; genau das wird in Jerusalem – in Alt
jerusalem – Stein. Das wird hier Wind und Colonade.
ANH, Das gelbe Licht des Friedens, DLF 2003


[Arbeitswohnung, 10.32 Uhr
Jarrett, The Wind, Paris 1988]

Mein Journal, Freundin, heute einmal nachgezogen, nicht zu Anfang des Arbeitstages. Zum ersten Latte machiato war kurz mit dem Setzer der Wiener Aeolia zu konferieren und eine neue Schrift auf meinem System zu installieren. Dann zog es mich zum Gedichttext-selbst zurück; in einem Zug las ich ihn erneut und fand dann auch wirklich hier und da noch ein Satzzeichen, das wegmußte. Morgen geht die Aeolia dann noch einmal an, nach ihrer Rückkehr aus Paris, meine Lektorin; bis zum Montag dürfte das Typoskript satzfertig sein.
Auch der Buchumschlag steht jetzt;. Ebenfalls schon ein Skypegespräch mit dem Wiener Verleger wegen der Programmvorschau geführt.
Dann die Nachrichten gelesen. Viele, meiner Innenwölbung wegen, erreichen mich nicht aktuell – was nichts macht, da ich an den Weltgeschehen ohnedies wenig, eigentlich gar nichts, ändern kann. Dennoch, Trumps Absicht, Jerusalem als israelische Hauptstadt anzuerkennen, traf mich geradezu schockhaft. Deshalb oben das Zitat aus meinem seinerzeitigen >>>> Jerusalem-Hörstück.

„Was, wenn ich das zu tun bereit bn, was innere Notwendigkeit einfordert?” fragt heute morgen >>>> Christopher Ecker. „Manche Maske ist größer als das, was sie verbirgt. Doch das Verbergende, liebe Leser,” (was bin ich froh, daß er nicht „liebe Freundin” schreibt) „ist nicht selten um einiges kleiner als das zu Verbergende, und überdeutlich sieht man an den Rändern der Verkleidung das, was sie zu verbergen vorgibt.” Wozu mir einfällt, daß unter meinen alten Erzählungen auch eine ist, die sich mit Masken beschäftigt; speziell: mit einer ganz bestimmten Maske, die sich schließlich in das Gesicht dessen hineinfrißt, der sie trägt. „Auf dem dritten” Bild „sitzt die Familie”, erzählt Ecker weiter, „am reich gedeckten Mittagstisch” (das „reich gedeckt” stört mich, weil es ein Konkretum ins Banale verkitscht) „doch nur der Junge im Matrosenanzug hat ein Gesicht; alle Übigen besitzen anstelle eines Gesichts ein weißes, mit einer Art Kordel umgebenes Oval, eine Leerfläche, die dem Jungen zugekehrt ist, der sich offensichtlich damit abmüht, etwas Großes zu schlucken, das er sich in den Mund gestopft hat.” Magrittegesichter, die wir füllen, wie unsere Prägung uns vorgibt: Wir projezieren die Nähe, die in Wahrheit Leere ist. „Wen oder was, frage ich Euch, kann ich noch trauen? Euch etwa?”
Ich möchte Ecker antworten: „zum Beispiel Keith Jarretts Pariser Konzert von 1988.” Mehr noch möchte ich ihm antworten: „Unseren Projektionen”, nämlich daß sie die Kraft haben, das Projezierte tatsächlich zu (er)schaffen. Genauso ist es, so mein Glaube, mit der Freiheit, die ohne ihn – an sie – nicht wäre. Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen. Aber wir müssen sie pflegen wie Zähne und Haut. Denn das sind sie: die Zähne unseres Geistes, und seine Haut.

Das Abendland christlich zu nennen, war und ist genauso brutal verfehlt, wie Jerusalem zur Hauptstadt alleine Israels zu erklären. Was wäre ein Abendland ohne die antiken Gottheiten und ohne die Kobolde, Alben, Dames vertes, Baumgeister, Leprechauns, Widergänger:innen, Trolle und Feen der Volksglauben, kurz: ohne Seele? Ob es Seele gibt spielt dabei keine Rolle, sondern alleine, daß es sie gibt.
Noch gibt.

Weil sie nun braucht, daß, wo eines sei, kein anderes sein könne, darum schieden die Meinen aus, was sich nicht denken ließ, euch nämlich, und indem sie euch ausschieden und aus dem gleichen Grund, schieden sie die Tiere aus und die anderen Pflanzen, das Wasser schließlich, die Luft und die Erde, die Steine und Sande, das Laub und das Haar, die Sonne endlich, den Mond, die Planeten und Sterne. Sie taten es, um zu erfahren, wo ihr Ich sich versteckte. Sie dachten: Wenn ich von der Welt immer mehr abziehe, was nicht Ich ist, dann muß es am Ende übrig bleiben. Strenge Wissenschaft ist Subtraktion, nicht mehr, nicht weniger. Je mehr nun die Subtraktion abzog von ihnen, desto schärfer wurde den Meinen ihr Mangel daran bewußt, ein Etwas zu sein, und desto weniger waren sie auch, und desto weniger sie waren, desto inniger und verzweifelter betrieben sie Wissenschaft. Darum seid ihr den Meinen so fremd, darum fürchten sie euch, je mehr sie die Denker sind und nicht mehr der Boden, auf dem sie leben, das Wasser, von dem sie trinken, die Luft, die sie atmen, und die Frau und der Mann, die sie lieben.
Hans Erich Deters‛ Rede an die Geister:

Damit, geliebte Freundin, kehrt in die Tagesarbeit zurück, zuerst einmal zu den allfälligen Lektüren für das (private) Familienbuch seiner Contessa:

Ihr
ANH

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