III, 347 – Aufgelesen

Jeder zweite erkranke “im Laufe des Lebens” an Krebs. So ein Titel bei Spiegel online. Stellt sich natürlich die Frage: was passiert davor und danach?
Ein anderes war eine Rezension zu Handkes ‘Obstdiebin’ >>> in der Zeit von Ijoma Mangold:
Einmal, im Zug, gerät er in Wut, weil die muslimischen Frauen seinen suchenden Blick nicht erwidern: “Weg mit all euch Verschleierten und Vermummten, um Gottes willen. (…) Ich spürte, wie ich in eine Art Wut geriet; wie ich dran war, das Weibszeug zu beschimpfen, weil es so gar nicht war, wie es in meinen Augen sein sollte.”
Das ist schlicht falsch verkürzend. Er, Handke benutzt mitnichten das Wort “muslimisch”. Der Ich-Erzähler sitzt im Zug, sieht ein paar junge Frauen sitzen, die er dann als Verschleierte und Vermummte bezeichnet, aber:
Diese Frauen dagegen, die Gesichter und nicht bloß sie, nackt und offen darbietend, schienen mir, so versessen ich dann geradezu wurde nach etwas auch bloß winzigem Erkennbarem – Sprechendem – Übergänglichem, ausnahmslos (‘Ausnahme, winzige, zeig dich!’) maskiert. Darauf bezieht sich sein Schimpfen (vgl. Obstdiebin, 103-106). Und “maskiert” meint etwas ganz anderes.
Stichworte, die stechen. Nämlich “muslimisch”. Er, der Rezensent, wird es für sich so umgemünzt und seine eigenen Vorstellungen rezensiert haben, die vereindeutigen, was mitnichten eindeutig daherkommt. Auf den bisher gelesenen 260 Seiten ist das Wort jedenfalls nicht aufgetaucht. Allenfalls ein eingebildeter Muezzin, von dem aber nicht klar ist, ob er wirklich gewesen ist.
Abgesehen von der anfänglichen Frage, ob es “grotesk oder erhaben”. Nicht Handke oder das Buch sind es, sondern die Welt, die darin beobachtet und beschreibend nicht schon erzählt, sondern schreibend ergangen wird. Denn das Buch ist ein Gehen, ein Sehen, ein Schmähen, ein Verstehen, ein Entgehen, ein Wiedersehen.
Gut, man gedenket seiner, Handke, heut’, da er seinen 75. feiert. Daß ich ihn gern lese, ist keine bloße Behauptung.
Kleine Ironie am Rande, weil ja nun Johnny Hallyday im 74. Lebensjahr gestorben:
Alt, und dabei in einer schicken Windjacke und neuen schwarzledernen Hose, wie sie sich sonst nur der alte Johnny Hallyday, und auch der wohl nur, wenn er auf der Bühne den Rockstar gab, erlauben konnte. (Obstdiebin, 61)
Zeitung lesen in dieser Kaum-Arbeit-Woche, muß wohl am freitäglichen Feiertag liegen: Immacolata Concezione. Alle Jahre wieder. Ist mir aber auch im Moment recht so. Bevor es vor Weihnachten wieder losgeht mit Jahresendakkordarbeiten. Befürchten muß man so etwas immer.
Fürs Wochenende ein paar Verabredungen. Am Freitag soll ein ‘Roman in Versen’ vorgestellt werden mit Themen, die, wie die Ankündigung ahnen läßt, Amelia betreffen. Am Sonntag im Rahmen von Oltre il Visibile ein Flamenco-Abend. Ein Genre, das mich zusehends interessiert, nicht so sehr wegen der Tanzschritte, sondern wegen des Gesangs. Darüber würde ich gern etwas lesen. Was singen die da, und warum singen sie es so, wie sie es singen? Hat auch ein bißchen mit >>> Ibn Hamdîs zu tun, der ja, als arabischer Sizilianer, dort in Andalusien erst blühte und Protektion fand.
Also so Lese- und Schreibstrecken. Anders als andere. Schon seit Wochen schaue ich daher nicht mehr auf den Kilometerzähler in der Hosentasche, obwohl er dort seinen festen Wohnsitz hat.
Es läuft die Nase. Von morgens bis abends. Feuchte Cellulose noch und noch.
Und wer wird noch eine Rose legen auf Else Lasker-Schülers Grab in Jerusalem? Ich hatte einst diesen Tagtraum.

III,346 <<<<

2 thoughts on “III, 347 – Aufgelesen

  1. Nicht zu@Lampe fassen! Zu Ioma Mangold.

    … weil die muslimischen Frauen seinen suchenden Blick nicht erwidern./.… die Gesichter und nicht bloß sie, nackt und offen darbietend…Es ist überaus menschlich von Ihnen, lieber Lampe, Herrn Mangolds völlig offenbare Handke-Verfälschung als “er wird es so gelesen haben” zu verbraven.

    Wer verfälscht? fragt sich also. Einer von der AfD oder aus noch schlimmrer Ecke? – Mitnichten:

    Von 2000 bis 2001 Redakteur bei der Berliner Zeitung
    Ab 2001 Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung
    2007 Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises; Berliner Preis für Literaturkritik
    2008 Gastprofessur für Literaturkritik an der Georg-August-Universität Göttingen
    Seit 2009 Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung Die Zeit
    2013 Partner des Moderatoren-Quartetts lesenswert des SWR
    2014/2015 Gastprofessur in St. Louis/USA inne.
    Mehrfach Jurymitglied des Ingeborg-Bachmann-Preises und der Literatur-Bestenliste des SWR

    [Quelle: >>>> Wikipedia]


    Im übrigen läßt sich wie ich dran war, das Weibszeug zu beschimpfen, weil es so gar nicht war, wie es in meinen Augen sein sollte als eine ausgesprochen selbstkritische Selbstbeobachtung/Innenempfindung lesen; schon das Wort “Weibszeug” indiziert das: Es sollte in meinen Augen nicht sein, weil’s sich gegens Suchen meiner Augen sperrt, ihm Widerstand entgegensetzt. Denn und aber was rechtfertigt es, daß sich zeigen müsse, was zu sehen wir erwarten, ja anscheinend sogar verlangen?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .