Googles Toronto.Anderswelt. Das Arbeitsjournal des Freitags, den 8. Dezember 2017. Mit einem nächsten Haienherz.


[Arbeitswohnung, 8.35 Uhr

Tannhäuser, Aufzug III, Eaglen, Seifert, Pape,
Meier, Hampson. Staatskapelle Berlin, Barenboim 2001

Ich bin ja stets auf der venerischen Seite, Wagner steht
auf der christlich-reinen Elisabeths, wobei ich vor drei
Jahren schwankend wurde und nun die Konsequenzen
trage – eine Bemerkung, die denen, die wissen,
nicht kryptisch, sondern so schmerzhaft ist wie mir.]

Es wurde, Freundin, mir gestern furchtbar bewußt, daß wir nicht umhin können, auch denen Schmerzen zuzufügen, die wir lieben, daß es zugleich unser Schmerz selber sein muß, wenn er sich der Gerechtigkeit, weil Notwendigkeit nämlich, stellt. So लक्ष्मी, die gerne zum Empfang der >>>> Villa Massimo in den Gropiousbaus mitgekommen wäre, aber sich nach der Freigabe von >>>> Meere nicht in literarischen, bzw. künstlerischen Zirkeln zeigen mag, die mit mir zu schaffen haben. Ich weiß nicht, was genau sie scheut, möglicherweise Fragen, möglicherweise allein schon Blicke; sie spricht nicht drüber, aber deutet immer wieder an – kurz, nebenhingeworfen, und mir wird dann klar, w i e tief ich offensichtlich verletzt habe, und zugleich ist mir bewußt, Notwendiges getan und auch zu wirklich Kunst geformt zu haben. Ich täte es also wieder, täte es wieder und wieder, aber trüge zugleich den Schmerz der Getroffenen mit mir. Was Meere ist, wird zur Zeit an vielen Orten deutlich, wird in vielerlei Stimmen laut, die mich erreichen, nicht aber, ecco, wie das Wort sagt „laut”, sondern auf leise wissende, auf unvermittelt erkennende Weise. Dazu mußte das Buch unter Menschen. Da es dort nun aber ist, hat लक्ष्मी, der allein sich die Wende verdankt, diesen Schmerz und habe wiederum auch ich ihn.
Sagen Sie nicht, Verehrte, daß Ihnen all dies zu kompliziert dünkt. Ich lege hier den Finger auf die Künstlerschaft, die so wenig ein Heiapopeia ist wie Sexualität. Der in der Tat tragische Zusammenhang – wobei ich „tragisch” überhaupt nicht wertend, sondern gleichsam faktisch meine – wurde auch in Bechers Herz des Hais deutlich und exakt in der angemessen stillen Weise. Künstler:innen haben Haienherzen und schlagen noch in ihren Werken, wenn sie selbst längst erschwacht oder bereits tot sind. Lesen Sie noch einmal >>>> den gestern zitierten Auszug aus Lulubés Abschiedsbrief.
Einer möglicherweise – wie sie selbst deutlich sieht – Illusion halber verläßt sie ihren Ehemann, der ihr Sicherheit wie treue Liebe gab. Und er? „Als der Kniende den Brief zu Ende gelesen hatte, sank er vornüber in einem Anflug von Ohnmacht.”
Lulubé wird es gewußt haben. Sie wird seine Trauer gewußt haben, und sie wird ihre geworden sein. Und trotzdem tut sie diesen Schritt. „Wir sind nun 10 Millionen Jahre alt”, womit sie die Menschheit meint, „und ich befürchte, daß meine Zeit etwas knapp wird. Deshalb ziehe ich aus den Wilden Mann zu suchen.” Daß ihre Kommasetzung fehlerhaft ist, was in Bechers Buch sonst nicht vorkommt, zeigt die Art ihres Denkens und Fühlens: Sie sieht Zusammenhänge anders als die Grammatik. Ihr Leben ist grammatisch n i c h t, anders als Tannhäusers, der in die Grammatik zurück-, also von Venus zu Elisabeth sozusagen heimkehrt, derweilen Lulubé Elisabeth, bei Becher Angelus (!) genannt, verläßt, um Venus zu suchen, anstelle sie noch und noch zu sublimieren.
Alle Kunstwerke, die es sind, stehen in einem Zusammenhang, besser: einer Matrix; wir können eines, ja müssen es, mit dem anderen lesen. Eine ständige Bewegung zwischen Sehnsucht, erfüllter Sehnsucht und neu aus ihr erwachsender nächster Sehnsucht. Künstler ist allein, Künstlerin, wer ihr tätig folgt. Bau dir kein Haus, denn es wird dir zerfallen so oder so, also auch dann, wenn es für andre Augen fest gefüget steht. So sitzt Fichte am afrikanischen Meer und sinnt. Reifung geht so und ist immer der Gewinn, der aus dem Verlust steigt. Daß wir dabei traurig werden, ist davon ein Aspekt. Doch wir bleiben wahr.

Jedenfalls, was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte, bekam es लक्ष्मी hin, daß ich dann doch nicht für den Empfang zum Gropiusbau radelte, sondern mit der Familie auf den Weihnachtsmarkt ging. Ach die Zwillinge bettelten so! Sie wollten mit mir und dem großen Bruder und der Mama zusammen dort sein. Am Wochenende wären sie bei dem leiblichen Vater, da wäre es nicht gegangen, und die nächste Woche sieht abends sehr ungewiß aus. Gut, sagte ich, dann gehe ich zu dem Empfang erst später – aber wußte natürlich schon, daß daraus nichts mehr würde, hätten wir erstmal einzwei Glühwein getrunken, den Kleinen beim Trapezspringen zugesehen, Kartoffelpuffer gefuttert und und und.
Es wurde halb zehn, da war es dann wirklich zu spät. Um 22.30 Uhr schlösse der Gropiusbau eh seine Pforten. Jetzt werde ich an Joachim Bühler, den Direktor der Accademia tedesca, einen kleinen Entschuldigungsbrief schreiben und ihm darin genau das erzählen, was ich hiermit Ihnen, meiner vertrautesten Freundin, berichte.

>>>> Christopher Ecker wird heute übrigens auch vom Weggehn berührt. Offensichtlich hat er eine Verabredung mit einer Frau, doch geht zwar hin – sie wollen sich in einem Kieler Café treffen –, sieht sie dort auch sitzen, aber, und das ist entscheidend, „ohne es zu wollen oder überhaupt darüber nachgedacht zu haben”, zieht er seine Kapuze über den Kopf und geht am Café vorüber und zur Förde weiter, an deren Flanierseite er bis zu den Seehunden spaziert, an denen Kinder sich erfreuen. Woraufhin er weder mehr nachhause noch „morgen zur Arbeit” gehen werde. Das 50er-Jahre-Filmwort, das die kleine Erzählung abschließt: ENDE, bezeugt, er werde seine Heimstatt, ganz wie Lulubé ihren Mann, ein für alle Male verlassen. Einer Vornahme hat es gar nicht bedurft. Die Entscheidung ward ohne, doch durch ihn getroffen.

Und heute die vierte der Kleinen Poetologien, >>>> dort. Sehen Sie mir ihre Melancholie bitte nach. Ich bin auf der Suche nach dem Aufflug

— und muß das Arbeitsjournal ebenso unterbrechen wie >>>> mein DTs stören. Mein Elfenbein-Verleger hat grad angerufen und möchte mich auf einen Croissant sehen. Dem folge ich sofort und setze dieses Journal später vielleicht noch fort. Denn eigentlich wollte ich Ihnen etwas ganz anderes erzählen. Was, das mögen Sie der nun zweifelhaft entwordenen Überschrift dieses Journales entnehmen. Na gut, damit er nicht ganz sinnlos dort steht, denken Sie >>>> diesen Artikel bitte einmal mit meinen Andersweltbüchern zusammen. Mehr sagen kann ich jetzt aber, aus Zeitgründen, nicht.

Wie auch immer,
bis auf weiteres:

ANH
(der noch gar nicht vorzeigbar gekleidet ist; immerhin hat er schon Zähne geputzt)

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