III, 358 – Mit Messern schießende Polizisten

Die Bestätigung, daß stetiges und an mehreren Tagen wiederholtes Hinaufgehen in die mehr hiesige als diesige (was allerdings in dieser Jahreszeit nicht immer auszuschließen ist (was dann regelmäßig eine Kontrolle der mitterweile brüchigen Plastiplane erfordert, die sich da über das Brennholz breitet)) Oberstadt bzw. mein oberstädtisches Hiesigsein den Waden guttut, insofern als sie ein wochenlanges Unbeweglichsein beim ersten Wieder-dann-Hinaufgehen mit einer gewissen Muskelalgie beantworten.
Das begann am vorigen Donnerstag, als ich zur Apotheke mußte (Blutdruckpillenabhängigkeit, eher suggestiv als objektiv, da ich selber ja nie messe, aber als alter Herzneurotiker läßt sich so ganz ohne Hypochondrie auch nicht leben, und Hippokrates, als ich ihn das letzte Mal aufsuchte vor vielen vielen Monaten, holt auch immer gleich die Manschette hervor und macht bedenkliche Kopfbewegungen, nachdem er kräftig gepumpt, aber im Grunde sehe ich ihn, Hippokrates, lieber eher selten), ohne zu versäumen, meinen Tabaccaio zu verraten und eine Schachtel Zigaretten im Tobaccoshop fuori porta zu kaufen. Und wie selbstverständlich stand auch Ibrahim du Senegal vorm Tor mit seinen Holzdingern.
Ab Freitag dann war’s wegen Kaurismäki. Und erstmal landen. Number one, einen Killer für sich bestellen und bevor der Film losging, Madredeus aus den Lautsprechern. Sinnigerweise endete der Film auf einem Friedhof und mit einem Auto vor dem Friedhof, das grad mal einen Schritt vor dem zu Killenden zum Stillstand kam, weil der Fahrer rechtzeitig die Bremse betätigte, der aber nicht der Killer war, denn der war ihm schon auf dem Friedhof begegnet mit einer Pistole, die er tatsächlich auf ihn richtete, aber da der Killer einen Lungenkrebs hatte mit nur noch zwei Wochen Lebenszeit, diese schließlich gegen sein eigenes Herz richtete und sich damit selbst hinrichtete, war auch das erledigt. Wow, dacht’ ich am Ende, die zur Poesie erhobene Lebensmüdigkeit mit den einfachsten Mitteln. Beckett? Nee, bei Kaurismäki fehlt diese beckettsche Verpuppung. Ein Ertragen vielleicht, ein – wie auch immer – maulfaules Hinnehmen, ohne endgültig zu resignieren. Auf der Selbstmordklippe Dahinlebende, Dasein im Augenwinkel Nippende. Nicht ohne Dankbarkeit, die aber nicht darauf erpicht ist, sich zu äußern.
Dann Samstag die andere Geschichte. Lichter der Vorstadt? Keine Ahnung. Scheitern. An der Nase herumgeführt werden. Im Grunde nur Instrument sein. Happy End = a happy Hand für den Zusammengeschlagenen.Hinterher schwierige Unterhaltung bei Valda in der Pizzeria. Zu viert bei Bier, Crema catalana und Pommes. Schwierig aber nur, weil’s voll war und laut war. Und wieder hinauf.
Gestern ging das Heraufsteigen wesentlich schneller, es kamen mir unterwegs physiologische Beweggründe in die Quere, und alle Muskeln machten nunmehr durchaus mit. Im Grunde flüchtete ich. So drei Abende hintereinander. Außerdem hatte ich den Film von gestern tatsächlich schon einmal im Fernseh’ gesehn. Irgendwas mit Wolken, die vorbeiziehen, die man aber am Ende nicht sieht, sondern die Augen, die ein Hinaufschauen zu ihnen suggerieren. Abermals ein Happy End. Viel Alkohol und Zigaretten. Fürsorge. “Hast du dir wehgetan?” Nachdem er im Flur nach einem Kneipengang vornüber auf den Boden geknallt.
[Spiegelatmosphären jetzt: “Was das eigentlich vorstellen soll, sieht man gar nicht ein; und um die Täuschung vollends mit dem Dolche der Wirklichkeit niederzubohren, hangen an jeder Seite des Pfahls vier niedliche Spiegel, die das Bild des Gemäldes auf eine widerliche künstliche Art zurückwerfen.” (Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge, 16. August 1800; er spricht von einem Panorama der Stadt Rom auf dem Berliner Gendarmenmarkt).]
Da ich wie oft so früh zu den Filmen komme, ist kaum schon jemand da – ‘deutsche Pünktlichkeit’ -,lediglich ein anderer Zuschauer war schon da. Ein gewisser Giovanni, Architekt. Der fing dann an zu schwadronieren, kam von der Bücherverbrennung (was in Italien nicht stattgefunden habe) zur Monumentalarchitektur (Olympiastadion) zum wunderbar funktionierenden Nahverkehr in Berlin, wo er gewesen sei. Ähnliches kenne ich ja nun schon von früher und meinetwegen bezogen auf München. Aber das war alles nicht weiter interessant, auch nicht das Geschwafel von den Grünen oder weiß der Geier was. Wirtshausschwafeleien und Allerweltsmeinungen. Ich ging lieber eine Zigarette rauchen.
Da ich aber – allerweltsselig – hatte fallen lassen mein schon viele Lustra dauerndes Hiersein, kam er dann doch wieder zu mir und fragte nach. Das Stichwort Florenz und das Stichjahr 81 (das Stichjahr!) verleitete ihn zu Konfessionen: er habe da auch studiert. Und dann kam eine Art Bekenneraussage: er habe dann aber zehn Jahre im Gefängnis gesessen. Natürlich die Frage: wieso? Banküberfall, einen Toten habe es gegeben. Ob ich darüber nicht in den Zeitungen gelesen hätte? Nein, zu der Zeit hätte ich noch kaum die Fühler nach Italien ausgestreckt.
Nachhaken konnte ich nicht mehr. Würde es aber gern tun. Der Film fing an.
Dann wie gesagt, schnell zurück, Lust zu trinken und zu rauchen.
Abschaffel rauchte im Büro und drehte dabei zwischen Daumen und Zeigefinger die Haare seiner Augenbrauen. Er zwirbelte kleine Bündel zusammen und dann auf seine Fingerkuppen. Häufig lösten sich kleine Haare, und Abschaffel legte sie vorsichtig nebeneinander auf den Aschenbecherrand. Manchmal steckte er sich ein einzelnes Augenbrauenhaar in den Mund, spielte eine Weile damit und zerkaute es. Genazino, Abschaffel
Dann gestern und auch heute noch die verstörende Nachricht in digitalen deutschen Zeitungsblättern: Polizisten erschießen mit Messern… bewaffneten Mann. Erst heute wurde mir klar, daß da ein Wort fehlt: “einen”, es geisterten bis dahin ‘mit Messern schießende Polizisten’ in meinem Kopf herum.

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