[Arbeitswohnung, 5.10 Uhr
John Adams, City Noir, France musique contemporaine]
Nein, einen Radiosender, der rund um die Uhr ausschließlich Neue, also zeitgenössische Musik spielt, den haben, so hübsch ich das italienische RAI classica finde, allein die Franzosen; außerdem ist die Musikmediathek des Senders ausgezeichnet. Auch wenn John Adams, jetzt grad, nicht eben die Speerspitze moderner Kompositionsformen ist und ergo nicht wirklich zur Avantgarde, der „Vorhut“, gehört, also den (bundeswehrisch gesprochen) Pionieren der Neuen Musik, so ist sein, dieses Senders, Spektrum doch extrem weit und öffnet immer und immer wieder die Ohren, die, um einen ehemaligen Slogen des Ensemble Moderns zu zitieren, nicht dazu da sind, sie sich verkleben zu lassen. Außerdem führen die Sendungen dazu, mir Vorurteile zu unterlaufen, die sich irgendwann mal, aufgrund vielleicht eines danebengegangenen Konzerts, in mir gebildet haben, zum Beispiel gegenüber diesem Herrn Adams. Das Stück City Noir – The City and it’s Double ist nämlich nicht ohne musikalischen Pfeffer. Jetzt im nächsten Satz sehr schöne Saxophonpartien.
So werde ich gerne wach. (Zumal mit – Betonung auf „Klängen“: – An–Klängen, durchaus, an die mir seelennahen freitonalen EMusiken der 1920er Jahre; der Dogmatismus der seriellen Schulen war mir eh immer fremd). – Ich verlinke Ihnen das Webradio Fmc hier nochmal, hören Sie, Freundin, selbst.
Um zwanzig vor fünf auf, der Tag wird voll. Um zehn ein nicht sehr angenehmer Arzttermin, um dreizehn Uhr bereits in der SBahn zum ICE: ab nach Springe über Hannover. Das zweite START-Seminar dieses Jahres, von vieren. Für das erste hätten wir von den Teilnehmer:inne:n wieder einmal beste Bewertungen bekommen, erzählte gestern meine Chefin, die ich um sechzehn Uhr vom Bahnsteig des hannöverschen Hauptbahnhofs abholen werde, um mit ihr von Gleis 12 zu Gleis 1 oder 2 zu eilen und von dort die S5 nach Springe zu nehmen. Beginn des Seminars um 18 Uhr; geht bis 21 Uhr, danach gemeinsames Weintrinken der Trainer:innen. Morgen geht das Seminar von 9 bis 19 Uhr, übermorgen bis 13 Uhr. Und wieder nach Berlin, bzw. Frankfurtmain zurück.
Zu literarischer Arbeit werde ich da nicht kommen, nur während der Zugfahrten weiter die Thetisfahnen korrigieren; bin jetzt auf S. 642 (von 902): Um 19 Uhr machte ich gestern damit Schluß. Allerdings ging es spätabends/nachts mit meinem Arcoverleger weiter. Wir haben endlich den U4-Text für die Wiener Aeolia fertigbekommen.
[George Crumb, La Luna esta muerta]
Nun geht dieses Buch also endlich in Druck.
Im Emailgespräch mit meiner Lektorin, die wieder für Faust einen schönen Artikel zur derzeitigen Situation in Wien geschrieben hat, kam ich übrigens, mich lebhaft erinnernd, auf Carl Johannes Verbeen zurück, weil mir eine neue Romanfigur einfiel, oder die für eine neue Novelle, die aber nicht von mir wäre – nämlich (französisch ausgesprochen:) Magot Freifrau Schnigg, die Marquise von Schnigg also, der des reifen Verbeens heimliche Liebe fast lebenslang galt, die er eben nicht anders als in dieser Novelle sagen wir zugegeben hat, schon um nicht Chagai Verbeen, seine Frau, über ein Maß hinaus zu verletzen, in dem sie verletzt bereits war. Anders als oft Männer merken’s Frauen einfach immer, wenn ihrer Männer Herzen anderswo schlagen. Zumal vermute ich, daß Verbeens Dichtung sich auf eine andere, die im Titel anklingt, bezieht; es hätte seiner Arbeitsweise entsprochen, ließe dann aber auch eine Frau Verbeen erst recht unangenehmeVermutung zu. Insofern nun Verbeen davon absah, seine Novelle auch zu veröffentlichen, wäre dies jetzt nachzuholen, da die direkt Beteiligten nicht mehr am Leben, und Nasrin, die Tochter, unterdessen in den Vierzigern, tendiert nicht zur Verleugnung. Sie hat ein ziemlich realistisches Bild von ihrem wilden Vater. Ich sollte den nach meiner Rundfunksendung abgerissenen Kontakt einfach mal wieder aufnehmen; soviel ich weiß, hat mein Freund Ulrich Faure ihn ohnedies aufrecht erhalten, und vielleicht kann ich Arco oder Elfenbein zur posthumen Herausgabe der Novelle bewegen.
Aber das, Freundin, eilt nicht. Eilen tu vielmehr ich selbst jetzt, an die Fahnen nämlich wieder. Auch weiß ich ja nur, daß die Novelle existiert; tatsächlich in den Händen hielt ich sie nie.
Ihr ANH
[Morton Feldman, Rothko Chapel]
Der Fluß war hier sehr flach und ohnedies nur schmal. So ließen sie die Boote zurück und markierten sorgsam ihren Weg. Iglesio stapfte wie immer voran, gelbe Augen vermeinte Schraaten, manchmal im Buschwerk auszumachen, Augen, die den fünf Männern und ihrem kleinwüchsigen, so sehr fast jungenhaften Führer folgten. Die Pusteln der Moskitostiche hatten zu jucken aufgehört, aber es kamen ständig neue hinzu, und da fingen auch die alten Stiche wieder zwar weniger zu jucken, als vielmehr zu schmerzen an. Schraaten hatte sich fast völlig in Tücher gewickelt, die sich ständig in Buschästchen verfingen; deshalb kam er viel langsamer als die anderen voran.
Gegen Mittag erreichten sie eine Höhe, die kaum merklich aus dem Urwald hinanstieg, aber oben sahen sie, daß es der Rand eines natürlichen Trichters war, entstanden vielleicht durch einen vorzeitlichen Meteoriteneinschlag, dessen völlig überwachsener und deshalb auch nur von oben erkennbarer Wulst das in der Regenzeit alles durchschwemmende Wasser der Flüsse von seinem Inneren fernhielt. So war ein ganzjähriges Paradies entstanden, sehr viel milder als der Dschungel umher. „A taça de Ipupiara”, sagte Iglesio und erklärte auf Nachfragen, dies sei die Göttin des Waldes und von unbeschreiblicher Schönheit. Wer sie sehe, der verliere seinen Verstand. Und als Schraaten noch hörte, es gebe unten, in die Sohle geschmiegt, ein Dorf, da wußte er, daß er angekommen war.
Carl Johannes Verbeen, SCHATTEN, van Oorschot Amsterdam 1953