III, 364 – Klimata

Schon wieder sechs Tage vergangen. Tagebuch kann man das hier nicht mehr nennen. Erscheint in unregelmäßigen Abständen vier- bis fünfmal im Monat, je nachdem. Ecco. Es ist zwischen den Projekten zu balancieren, und seit Kaurismäki sah ich keinen Film mehr, als wären außer den beim Lesen oder bei den Nicht-Brotarbeits-Übersetzungen hervorgeholten Bildern keine anderen Bilder zur Zeit möglich. Auch heute nicht. Das Bild der Ofenflamme, irgendwer, der bei Youtube klimpert oder zupft oder streicht oder einfach nur den Mund auftut.

Und warten auf den Schnee heute. Ab zwanzig Uhr soll es losgehen, dann die ganze Nacht hindurch. Die Bürgermeisterin – ich sah’s vor fünf Minuten – hat im Einverständnis mit den Kolleg-inn-en der Provinz angeordnet, daß die Schulen zumindest morgen geschlossen bleiben. Sibirien läßt grüßen. Meine Vorräte sollten bis Mitte der Woche reichen, falls ich morgen oder übermorgen nicht hinunterfahren  kann durch die mittelalterliche Stadt (dies der Sinn des Polnischen) wie im Video, der genau den einzigen Weg wiedergibt, dem zu folgen obligatorisch, um aus der Altstadt herauszukommen, zumindest mit dem Auto. Danach steigt’s wieder temperaturmäßig.
Und wohl auch das Klima der “öffentlichen Meinungskundgebungen”, denn am nächsten Sonntag wird gewählt. Und der scheinbar von den Toten wiederauferstandene Wiedergänger B.Lusconi mit seinen gelifteten 82 Jahren abermals laut Selbsterklärung ‘en vogue’. Die wirkliche Gefahr seien, so er vor zwei-drei Tagen, die Antifaschisten. Das heißt also diejenigen, die gegen den immer mehr salonfähigen Faschismus demonstrieren. In Palermo wurde einem solchen Faschisten auf der Straße aufgelauert: es gab Prügel für ihn. Und so stiegen die Faschisten gleich in die Opferrolle.
Aufgekocht wurde das Ganze, als in Macerata, einer Stadt in den Marken, ein junger Idiot den Tod einer drogensüchtigen Römerin rächen wollte, die unter mysteriösen Umständen dort umgekommen war. Es kamen nigerianische Dealer ins Gespräch, gar Ritualmorde, wie’s bei den Afrikanern “üblich”, wie an obskurer kirchlich gesinnter Stelle gelesen (grad so wie die Ritualmorde der Juden, von denen man damals in Wien munkelte, als Kraus 1899 die “Fackel” schrieb). Der Idiot ballerte einfach mal so auf “Neger/innen”, die auf der Straße waren. Keine/r starb. Um dann sich mit einer italienischen Fahne auf den Schultern vor irgendeinem Denkmal festnehmen zu lassen. Die Namen der Opfer erfuhr man nicht. Sonst ist man immer fix dabei mit Bio und Konterfrei.
Seitdem darf man scheinbar das Wort “faschistisch” “rational” (“wir schwören dem Faschismus nicht ab”) benutzen. Denn auch die Schwarzen sind ja ein Problem. Hinzu kommt, daß eine Verbündete B.Lusconis heftig gegen die Initiative des ägyptischen Museums in Turin protestierte, für Immigranten eine Gratisführung in arabischer Sprache zu veranstalten. Die Protestaktion fand direkt vor diesem Museum statt. Das bezeichnete die Frau als “umgekehrte Diskrimination” (was immer so etwas heißen will). Sie wirkte im gesehenen Video geradezu hysterisch. Der Direktor, eine Koryphäe der Ägyptologie, bewundernswert ruhig und sachlich. Sie, verlautete am Tag zuvor, wolle, wenn sie die Wahlen gewinne, diesen Direktor absetzen.

Soweit das aufgeheizte Medienklima und meine idem aufgeheizte Sorge hinsichtlich der nunmehr voraussehbaren Wahlkatastrophe, die sich in dem Wort “Unregierbarkeit” zusammenfassen läßt. Denn wie sagte meine Ex-Schwägerin? Sie wisse wirklich nicht, wen sie wählen solle. Allerdings: Medienklima. Man hat sonst nicht das Gefühl.
Allerdings kandidiert die Bürgermeisterin für den Senat unter der Ägide B.Lusconis. Holterdipolter.

‘Prudence! Prudence! the pigeons call.
‘Scorpions lurk in the gilded meadow.
An eye is embossed on the island wall.T
he running tap casts a static shadow.’

‘Caution! Caution!’ the rooks complain.
‘The dear departed, the weeping widow
Will meet in you in the core of flame.
The running tap casts a static shadow.’

(Burgess, Inside Mr Enderby)

Er, Enderby (plötzlich seit gestern so eine Spiegelfigur in dem Sinne, als sich der innere Spiegel in dessen Verwahrlosung wiedererkennt), war vorher in einem Pub in Brighton gewesen, wo sich vorzüglich die über fünfzigjährigen Lesben des Ortes treffen. Er schredderte aus dem Gerede im Pub ein Gedicht zusammen, schrieb es auf ein blutiges Zeitungsblatt, das ihm jemand gebracht, blutig, weil darin ein toter Hase eingeschlagen war. Es kam zu einem Wortwechsel, weil der Dichter in seinem Verseschreiben nicht gestört sein wollte. Er kehrt mit dem eingewickelten Hasen nach Hause zurück, wirft vor dem Erreichen der Haustür das blutige Zeitungspapier in einen Müllbehälter, geht in seiner Wohnung, nimmt dem Hasen das Fell ab, schnippelt an ihm herum, hat blutige Unterarme, denkt wieder an das angefangene Gedicht, geht hinaus, die blutige Zeitung wieder hervorzuholen, um die aufgeschriebenen Zeilen wiederzufinden, ein Polizist wird aufmerksam, er sagt er habe seine Stiefmutter umgebracht, findet die notierten Zeilen, betritt wieder das Haus und begegnet dem Entsetzensschrei einer vom oberen Stockwerk herabsteigenden Nachbarin wegen der blutigen Unterarme, er aber, seiner Verse eingedenk, verschließt sich ins Klo und vollendet sein Werk. Zu Abwechslung mal auf Englisch.

Aragon kommt indes von einem Buch ins andere, von einem Land ins andere, von einer geschichtlichen Situation in die andere. Und schleudert mich in noch ganz andere Länder und Situationen. Seine Schuld, wenn ich mir beim nächsten Mal auch mal ‘Salammbô” bestelle.

Tatsächlich, die Autodächer auf dem Platz haben bereits eine weiße Schicht. Obwohl man nichts fallen sah, als ich jetzt schaute.

 

III, 363

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