Ohne Feuer kein Huhn ODER Wozu mich Künste drängen. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, den 10. März 2018. Mit Katharina Schultens auf dem Weg nach Halberstadt, namentlich in Halle. START IV (1), alleine im Bett.

Wenn ich etwas höre oder lese, das mich begeistert, dann will ich mich verbinden; es ist dies nahezu ein Drang, doch nicht blind, sondern Bedürfnis und – am besten – körperlich. So auch wieder jetzt (was jetzt, also heute morgen, „gestern“ bedeutet), da ich in Katharina Schultens‘ neuem Gedichtband „Kali“ las. Nicht immer aber, und sogar selten, ist es möglich, etwa beim Kazantzakis, weil er längst starb, oder weil das Bedürfnis nur einseitig ist oder, wird es von beiden Menschen und Körpern empfunden, anderes dazwischensteht, das oft sozialen Wesens ist oder, wenn es sich dennoch erfüllt, nahe Verbindlichkeiten und Verbundenheiten verletzte. Doch ist mein Impuls so stark, daß er nicht selten beständig bleibt, Sie können, Freundin, auch „treu“ sagen, indes sich in feine, sanftere Amplituden sublimiert, die freilich um so länger werden. Der junge Mann in Beineix‘ Diva mag so empfunden haben, nur daß ihm -natürlicherweise – die Reife fehlte, die ihn sein Begehren hätte poetisieren lassen können.
Schultens‘ Gedichte jedenfalls sind unentwegte Verlockensgesänge; es wird in ihren Sirenenklängen zu kleinen Schweinen, wer kein Odysseus ist. (Und soeben fällt – fiel, gestern, dort im HEX – mir die Parallele zum Tannhäuser auf, an dessen venerischem Hörselberg ich soeben (gestern) doch recht nahe vorbeifahr, bzw., ecco, fuhr).

Noch war kein Harz zu sehen. Doch aus dem weiten Ebenen erhoben sich langsam die erdenen, meist agrarisch gekämmten Wellen. Darüber stand weiß eine Sonne.
Vor Sandersleben verwesen noch die flachen LPG-Ruinen, deren zerfallende Architekturen mir für die Osterzählungen in Thetis eine Vorlage waren. Dann unversehens lockend scheint ein – ist es ein Kloster? – tiefes helles Mittelalter auf: Braunschweiger Heimat der Vorharzlandschaften – auch diese | Circeslockung.

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immer ein schwarzer punkt als
zentrum. immer im nacken zeit

als ob das tote in unserem wesen
doch stärker kopiert als das innere zappeln
schultens, immer im nacken zeit

 

 

 

 

 

[K6 Halberstadt, 228. 5.10 Uhr
France musique contemporaine: Erwin Schulhoff, Streichsextett]

Nun also angekommen, dann also angekommen. Es ist, obwohl nur vier Kilometer lang, ein weiter Weg vom Halberstädter Bahnhof ins Tagungshotel, der Bus fährt nur einmal pro Stunde: Eine ganze solche brauchte ich tatsächlich. Wobei mir nicht langweilig ward. Ich las über Halberstadt, las quasi die ganze Geschichte dieser sehr alten, übrigens bereits von Heinrich befehdet, den sie den Löwen nannten, durch und durch erschütterten Stadt.
Die erste Tram, als ich auf den Vorplatz trat, stand zwar da, aber kaum war ich ihren Türen nahe, fuhr sie ab. Die Fahrerin der eine Viertelstunde später folgenden zweiten wußte mit dem Namen des Tagungshotels nichts anzufangen, war allerdings umfassend freundlich und walkietalkte einige Minuten mit der Zentrale, wo aber auch niemand das Hotel zu kennen schien. Ich solle doch bitte den Bus nehmen, der jederzeit kommen müsse. Auch dahin walkietalkte sie; sie habe da Einen von Anderswo, dem geholfen werden müsse. „Kann aber noch etwas dauern.“ Indessen, Zeit, so bezeugten die verschiedenen Gespräche, ist hier eh nicht presto getaktet. (Die Tram fährt, weiß ich unterdessen, und es wird Werbung damit gemacht, im Tempo der 40er Jahre). – Gut, las ich halt noch weiter, wurde dann in zwei großen Schleifen sozusagen mehrmals durch Halberstadt kutschiert. Die Fahrerin trug eine nachtschwarze Sonnenbrille, ein weiblicher Django, der, bzw. die durch gefährliches Gebiet ritt, im Rücken den Treck der Passagiere. Verließen wir den kleinen Altstadtbereich (über 80 % der Stadt wurde zerbombt, was stehengeblieben, ließen die realsozialistischen Funktionäre verfallen), stiegen nur noch dunkle Menschen zu, hautdunkel , das hatte hier etwas teils Märchenhaftes, teils Irritierendes, zumal andere Leute – solche, die nicht geflohen waren, also in jüngster Zeit – sich auf der Straße kaum sehen ließen.
Brav wurden, ausnahmslos, die Biglietti vorgezeigt – in Metropolen völlig undenkbar; schwarz zu fahren, so kam es mir vor, schien schon im Erbgut angelegt nicht zu sein. So daß ich drüber sann, ob ein Gen hier fehle oder mehr sei, und das Gefühl stieg, durch eine Parallelwelt zu fahren, die sich den Vorschein einer Zeitreise gab.
Vertraut dann wieder die wenigen Häuser, die noch bewahrt, historische Gebäude, bißchen Fachwerk. Braunschweig halt. Der Roland vorm Rathaus wirkt ein wenig zerknittert, scheint weniger Haudegen zu sein, als daß er mehr friert. Er glaubt den eigenen Erinnerungen offenbar nicht, obwohl sie doch müßten Erfahrungen sein. Doch lang, lang ist’s her, daß diese Stadt zum Hansebund gehörte. So ist er gilb und tatterig geworden, veralzheimert, möcht ich es nennen und tu’s nicht ohne Wehmut. Denn wir alle werden eines Tages kein Schwert mehr wirklich halten können und vergessen rein aus Notwehr, daß es eines ist. Drum gefällt mir das, wie ironische auch immer, Selbstbewußtsein sehr gut, von dem der Flur dieses tatsächlich um so schöneren, weil unerwartet großzügig angelegten Tagungshotels Ausdruck gibt:

Nun also START IV – für mich das letzte Seminar dieses Jahres. Im Segment Schreiben sind wir wieder zu dritt, Phyllis Kiehl, Abdelatif und ich, und ungeplanterweise reichlich überbesetzt. Die Hälfte der angemeldeten Teilnehmer:innen fiel grippehalber aus.; so sind die Gruppen ausgesprochen klein. Einerseits erlaubt so etwas ein höchst intensives Arbeiten, weshalb meine Chefin und der Kollegenfreund den Umstand begrüßen; andererseits mir fehlen ein wenig die Dynamiken, die sich nur unter m e h r Menschen entwickeln und sinnlich in Bewegung setzen lassen, vor allem, weil ich es mag, Bildung als Abenteuer zu vermitteln mit langen Momenten der Spannung, ja, suspense, und, wenn zweie angebissen haben, sich das auf andre überträgt. Auch Wissen ist – im guten, dramaturgischen Sinn – Theater, ist Oper, Film und Serie: „Ahh!“ ruft eine oder einer, und dann wogt der Atem durch alle wie Strömung durch Seegras. Fehlen solche Momente – die Crux jeglicher Verschulung – wird es sehr schnell ungut abstrakt. „Eine fremde Sprache“, lehrte mein über viele Jahre Lektor Delf Schmidt mich, „lernt sich allein im Bett.“ Denn – so Sybille, als spätabends Trainerinnen und Trainer beisammen und bei Hasseröder saßen (Bitte trinken Sie verantwortungsvoll) – ohne Feuer gibt’s kein Huhn.

Sehr schön, übrigens:

[Claude Vivier: Lonely child – pour soprano et ensemble instrumental
France musique contemporaine]

Und nun ruft mich die Dusche.

Ihr ANH

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