Liebste Freundin,
[Arbeitswohnung, 5.50 Uhr
France musique contemporaine:
Allison Cameron, Raw Sangudo für Saxophon, Alttrompete und Tuba]
es fällt mir schwer, von Frühlingsanfang zu schreiben. Es ist sogar unmöglich; gestern lag auch in Berlin unversehens wieder, wenn auch nicht viel Schnee. Ich sah’s völlig überrascht, als ich, vom Schultensaufsatz kurz aufstehend, aus dem Fenster hinunter in den Hinterhof schaute. Heut früh ist der Schnee wieder fort; ein wenig sind die Temperaturen also gestiegen, doch nachts liegen sie immer noch bei minus fünf und sollen tags kaum auf über plus fünf steigen. So gab ich schon direkt nach meiner Rückkehr aus Leipzig auf und heizte neu den Ofen an. Auch aber in Amelia, schreibt mir Parallalie, ist es nicht viel besser. Sein Holzvorrat nähere sich dem Ende, so daß Cristofero Arco und ich – er schaute vorgestern herein – beschlossen haben, unsere kleine Reise dorthin in den Mai zu verlegen; da sei, versicherte mir Schulze, ein wenig Wärme sicher. Vorher muß ich ohnedies noch nach Wien, um dort den Gedichtband zu lektorieren, der im Hochsommer vorliegen soll. Hinzu, neben dem Familienbuch, kommen zwei neue, allerdings kleinere Aufträge der Contessa, aus denen aber schnell mehrere weitere, alle dieses Umfangs, werden können. Und auch sollten. Zwar, bis September bin ich finanziell nun sicher, aber danach wird’s wieder eng.
In zwei Jahren bin ich Rentner, schrieb ich gestern abend – und geschrieben lachte ich auf – der Schultens, die mir knapp zweidrei lebensgeschichtliche Hinweise zur Einordnung ihres neuen Gedichtbandes gab. Meinen gestern tatsächlich fertig gewordenen Essay zu ihm möchte ich ihr allerdings noch nicht schicken, weil n o c h später Benjamin Stein, der ihn durchgesehen hat, anmerkte, er falle gegen Ende ab; er, Stein habe dort den Eindruck einer gewissen Hastigkeit, sprich von Zeitdruck. Was stimmt. Also will ich dran noch etwas arbeiten, aber erst, wenn der Text “abgehangen” ist und ich auch Rückmeldung des Herausgebers der Zeitschrift habe, in der er erscheinen wird. Dann lege ich Korrektur/Lektorat/Ergänzungen zusammen; wahrscheinlich werde ich heute erfahren, spätestens morgen, wann Drucklegung sein wird.
Immerhin habe ich mal wieder einen durchgehenden längeren poetologischen Text geschrieben, nachdem ich zuvor kaum etwas von Belang nicht nur nicht fertig bekommen habe, sondern überhaupt erst gar nicht in Angriff nahm.
Übrigens hat Stein-selbst schon sehr schön über Schultens’ Buch geschrieben, >>>> dort, und wiederum an mich, frühnachts: “Só, jetzt müssen wir mal wieder was anderes machen. Das grenzt ja an Obsession.” Da habe ich ein weitres Mal auflachen müssen. Denn was, Freundin, ist besser, als von etwas derart eingenommen zu sein und es leidenschaftlich zu vertreten?
Übrigens ein komplettes Chaos, unterdessen, in meiner Zauberkammer. Ich wollte Christofero ein Buch mitgeben und fand es nicht, fand dann auch ein zweites nicht. Fast wurde ich verrückt, ärgerte und ärgerte mich. Seit Wochen sind gehörte CDs nicht mehr zurückgeordnet, ganz zu schweigen von denen, die auf Archivierung warten, um erst recht nicht von den hinzugekommenen Büchern zu reden, die mittlerweile jeden nur denkbar freien Platz besetzen, so daß nicht einmal der Mitteltisch, auf dem sonst, penibel mahnend sichtbar, die kommenden Projekthefter lagen, mehr überschaubar ist. Es türmt sich und türmt sich, ohne zu türmen. (Wieso türmt wer, der abhauen will? muß ich nachschlagen.)
[Hélène Breschand, Chair et sang]
Also, zuerst ist heute einmal Ordnung zu schaffen. Wohin mit den Büchern, weiß ich noch nicht. Dann steht auch dringend wieder der Waschsalon an, aber das kann ich vielleicht bis nächste Woche strecken, wenn Mme LaPutz mich wieder vertreiben wird. Wichtiger ist Übersicht. Sonst ertrinken wir im Chaos, meine Musen, meine Figuren und ich.
À propos. Der Briefwechsel mit Mariclaire ist ziemlich angeschwollen; zwischendurch wirkte sie ein wenig verstimmt: “Dass Du nunmehr mir dozierst wie einem begriffsstutzigen Kind, finde ich, ohne die Möglichkeit der körperlichen Züchtigung ob der Widerworte, diffus unspannend.” Die Möglichkeit der körperlichen Züchtigung fand wiederum ich reizvoll, selbstverständlich, entschuldigte mich dennoch, nicht ohne freilich anzumerken, daß auch ich selbst recht wehrhaft sei (“Herbst schlägt Frauen” usw). Sie, d a, ruderte zwei Zehntel einer Seemeile zurück und konstatierte meiner Eitelkeit, also meinem Geist, er sei “geschärft, gespitzt, ausgebildet wie ein Ninja des Denkens”, womit sie mich, Wikipedia zufolge, zu einem Kundschafter, Spion, Saboteur oder Meuchelmörder machte. Was davon mir gefällt und ob überhaupt was, weiß ich derzeit noch nicht. Es gibt bei manchen Frauen den Impuls, mich entweder zu dämonisieren oder zu idealisieren. Wobei ich neulich s c h o n erschrak, wiewohl dieses Wort nicht ganz trifft, sondern ich war, ich sag’s mal s o, heikel berührt, als meine jungen Seminaristinnen mein Foto auf der U4 von Meere sahen , “whouw!” machten und dann zaudernd fragten: “D a s waren S i e?”
Sie verstehen schon, Freundin, ich meine das “waren”. Denn es stimmt ja, in zwei Jahren werde ich Rentner sein, ich muß es wiederholen. Jedenfalls Ruheständler formal. Die Ruhe, die Frauen und ich.
Immerhin kann ich unterdessen wieder drüber lachen. Aus dem Loch also bin ich raus. Jetzt muß ich nur noch wieder laufen. (Sie hören die drei Els?)
(Gestern starb Jürg Laederach; für Autoren scheint das Alter knapp über siebzig gefährlich zu sein. Wenn ich an Eigner denke. – Wir, Laederach und ich, sind uns ein paarmal begegnet, hatten uns aber nie wirklich was zu sagen. Übrigens war er schon vor zwanzig Jahren sehr schwer krank, während ich doch im großen und ganzen immer noch schreiend gesund bin. Er spielte wundervoll Saxophon; dies mag das Unrecht ausgeglichen haben.)
Gut, ich fang mal aufzuräumen an. Deshalb schnell ein “Vorher”-Bild:
Heftig, Freundin, gell? Nun also ran, Herr ANH!!
[8.10 Uhr
Mark-Anthony Turnage, Shout]
[17.05 Uhr
RAI classica:
Bach, Suite für Cello solo Nr. 3}
Bis eben, von einer 3/4 Stunde Mittagsruhe abgesehen, aus der mich lauter SMS-Gefiepe holte, “durchgeräumt” und —- a l s o
(- Mariclaire schrieb mir irgendwas von Feng-shui, und daß in einem solchen Raum sämtliche Energien blockiert seien; mich hätt das vom Aufräumen fast Abstand nehmen lassen. Aber nu’ jà, in “shui” steckt “hui!”, und darauf kam es mir ja an -)
N A C H H E R:
Und gleich wird eine Freundin klingeln, die für zwei Wochen nach Sizilien reist und Tips bekommen möchte. Die ich ihr gerne, und einige Literatur dazu, geben werde. Ach ja, und geduscht habe ich natürlich schon und mal wieder das Parfum einer ehemaligen, wirklich s e h r ehemaligen Geliebten aufgelegt; “36 Sommer” meint das “sehr”. Manche Frauen behalte ich einfach bei mir, indem ich ihr Parfum bewahre. Welches, aber, das verrate ich Ihnen hier nicht; es würde sie so viele Jahre später noch verraten. Doch in meinen Büchern (falls jemand suchen möchte) kommt es vor.
Ah, das ist sie –
Nun werde bitte nicht albern; wenn Du schon keine Rücksicht auf das Wohlbefinden des Drachens nehmen magst – wobei Dir nicht bewusst sein dürfte, welche ungeahnten Wonnen das Leben mit einem Drachen bieten kann – so sollte Dir doch wenigstens Genuss sein, dass der Theologe und ehemalige Beauftragte für Sekten und Weltanschauungsfragen der westfälischen Landeskirche Rüdiger Hauth feststellt, dass Feng Shui nicht naturwissenschaftlich begründet ist; außerdem sei der Glaube, auf dem es basiert, mit dem christlichen nicht vereinbar. https://de.wikipedia.org/wiki/Feng_Shui
Ein Grund mehr, sich mit der Sache zu beschäftigen.
Hui!
@mariclaire:
An sich sollte für Christen, sofern ich den Nazarener recht verstanden habe, nahezu alles, soweit es nicht unmenschlich ist, mit dem Christentum vereinbar sein; wahrscheinlich hat – außen hui und innen pfui – der Herr Hauth also gemeint, Feng shui sei nicht mit der christlichen Kirche vereinbar. Dem freilich muß, welche Kirche auch immer gemeint ist, zugestimmt werden. Denn bekanntlich ist das Christentum selbst mit den christlichen Kirchen nicht vereinbar, schon weil diese auf der Erbschuld beharren, die der Nazarener mit dem Kreuztod ein- für allemal von den Menschen genommen hat.