„Zukeller“: Bitternotat statt Arbeitsjournal. Sonnabend, den 23. Juni 2018.

[Arbeitswohnung, 7.30 Uhr]
Der Frankfurtmainer Aufenthalt wurde dann bitter, nachdem er zuvor traurig gewesen war, ich aber handeln, einer anderen Trauer auffangen konnte; handeln zu können macht es mir stets weniger schwer, auch dann, wenn die Bilder in mir sprudeln, quillen: Was von einem übrigbleibt. „Ich werde dazu ein Gedicht schreiben“, sagte ich nächsten Tages, gestern also, Phyllis Kiehl, den laubenhaften Ort noch vor Augen, an dem dieses „Fangen“ geschah:

 

 

 

 

Nun indes hätte ich selbst aufgefangen werden müssen, was auch versucht wurde, aber nicht gelingen konnte. So daß ich früher als geplant zurück nach Berlin reiste.
Nicht nur vom Clopidogrel benommen, von dem aber auch, kam ich gegen Mitternacht in der Arbeitswohnung schwer bepackt wieder an: Der noch volle Rucksack bis jetzt unangerührt vor dem Projekttisch; nur den Käse nahm ich heraus, von dem ich nachts noch aß, mir dabei zur Selbstverohnmächtigung zwei Serienfolgen reinzieh’nd. Erst um zwei lag ich im Bett, um sechs bin ich schon wieder hoch.

Briefe schreiben. Nichts an mich rankommen lassen, Gefühle einfach dimmen. Abschiede hie, Abschiede da. Mechanisch werden, um dem inneren Chaos die Chancen zu nehmen. Ist für Wallung nicht die Zeit, muß dem Krankenhaus entgegensehen, ruhig, „gefaßt“, muß noch Verfügungen treffen: für den Montag, für den Dienstag, eventuell bis Donnerstag. Und sowieso verfügen für den Fall. Wir scherzen jetzt mal nicht: Es muß klar sein, wer das Werk verwaltet, wenn ich’s selbst nicht mehr kann. Alles übrige mag die gesetzliche Erbfolge regeln.

Die Frage, zu welchem Zweck ich meinen Körper wieder so auf Vordermann gebracht habe. Ein Projekt der bloßen Ästhetik, Oberfläche, l’art pour l’art. Das nun der Körper-selbst gestopt hat, eben darum. Ganz zurecht hat Kiehl gesagt: „Für die meisten Frauen ist es doch schon mit Fünfzig vorbei, mit Sechzig für fast alle.“ Unausgesprochen, doch mit besonderem Recht, das das gleiche Recht einklagt: Weshalb nicht auch für Männer? „Mit Sechzig für fast alle.“
Es sei denn, daß man Geld oder Macht hat. Beides, im Altern, kommt erst richtig zum Tragen; wer davon nichts hat, rutscht die Kohlenschütten zukeller. Den Klimawechsel nun hin und auch her: sich schichtender Brennstoff.

Das Vorbei.
Nicht wenige Gedichte des Ungeheuers Muse entstanden aus ihm, umkreisen den Prozeß, stiegen aus ihm auf, schweben auf ihn nieder, wie sich ein Staub, nur sind es hier Wörter, auf bald schon verlassene Möbel legt. Es paßt gut, daß meine Madame LaPutz für die nächsten Wochen abgesagt hat; es gehe ihr gesundheitlich schlimm.

 

 

Überdies hat Alfred Böttger die für den November geplante Lesung gecancelt. Das traf mich mitten in der Climax, traf mich z u d e m. Bereits im ICE schrieb ich ihm zurück, freundlich, verstehend-traurig, weiter benommen. Er möchte den Blick auf mein Romanwerk richten, auf die Prosa, nicht auf die Lyrik. Vergangenheit also, Gegenwart nicht. Auf das – ecco, gleichfalls – Vorbei.

Erstmal Ordnung schaffen, auspacken, zuordnen. Dann mit der Contessa ein Exposé bearbeiten. Außerdem hat Elvira die ersten dreizehn Erzählungen durchlektoriert, für den Gesamtband 2019 bei Septime. Da will ich ebenfalls dran. So bleibt’s auch da beim Vorbei. Draußen bereits Herbst. Was vorgestern/gestern in Frankfurt schon losging. „Sag das nicht!“ sprach Kiehls zur Abwehr gehobene Stimme.

Leider liegt Simon Rattles Mahler VI, die Gaga Nielsen so ergriffin der Digitalen Konzerthalle noch nicht vor; der Mitschnitt würde mir helfen.

ANH

P.S.:
Imgrunde ist alles so richtig wie gerecht.

P.P.S.:
Für zwei Stunden bei Böhmers gewesen. Wie ich so fühllos hätte sein können, fragte mich Lydia, Eigners nachgelassenen Koffer Cristoforo Arco zu geben und nicht Thomas Kunst, der für jenen doch so viel getan?! Christoph habe Eigner doch gar nicht gekannt! – Ich blieb nüchtern: „Thomas gibt nicht Eigners nachgelassenen Roman heraus, schon gar nicht spielt er mit dem Gedanken, das Gesamtwerk wieder zugänglich zu machen.“ – Er sei schwer verletzt, aber. „Also erklär ihm das bitte so.“ – Das ist hiermit getan.

4 thoughts on “„Zukeller“: Bitternotat statt Arbeitsjournal. Sonnabend, den 23. Juni 2018.

  1. Sabine Scho
    was denn bitte ist mit 50 und 60 alles vorbei? mit 20 ist die unbeschwerte kindheit auch vorbei, na und? gibt halt immer neue phasen im leben und, oh wunder, ich traf gut gelaunte in jeder phase ihres lebens, selbst solche, die von krankheiten gebeutelt und gezeichnet sind.
    phyllis, mal ehrlich, gerade phyllis macht ja nun den gegenteiligen eindruck von vorbei von irgendwas, menschen sind anpassungsfähige lebewesen, da ist es erst vorbei, wenn es vorbei ist und 3 tage krankenhaus, da wird nix vorbei sein, wie sagte mir mal ein arzt, menschen sind ganz schön zäh, so schnell is da nix vorbei.

  2. „Welche Frauen begehrst du?“, fragte ich kürzlich einen alten Freund.
    „Solche, die mich nicht brauchen, um sich zu mögen“, erwiderte er.

    Fair war die Sache mit der Anziehungskraft noch nie. Manche sind’s in jungen Jahren, andere in den mittleren, wieder andere entwickeln ihren Magnetismus erst, wenn sie ausgereift und weise sind.
    Ich denke nicht, dass „es“ irgendwann „vorbei“ sein muss, Abnutzung und Beschädigungen hin- oder her. Nicht der Körper ist es, der die Grenze markiert, sondern der Geist. Nicht, solange wir begehrt w e r d e n sind wir mittendrin, sondern solang‘ wir begehren.

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