[Arbeitswohnung, 6.15 Uhr
Händel, Dettinger TeDeum]
Um kurz vor halb fünf eine Whatsappnachricht der Contessa: „Hab Dir einen Interviewtext geschickt; schaust Du bitte mal drüber?“ – Was ich von fünf Uhr an bis eben getan habe. Vorher, gestern nacht noch, hatte ich ein paar Notizen zu diesem neuen Arbeitsjournal zur Seite gekritzelt, Stichwort Endosmose. Das Wort kommt in Gionos „Noah“ nur einmal vor:
Überdies kommen diese kindlich-königlichen Männer, wenn sie verliebt sind, auf so durchtriebene Sinigkeiten, daß man sich von diesen keine Rechenschaft geben kann; sie sind unsichtbar; sie verschaffen sich das Glück durch Endosmose.
Giono, Noah 204; dtsch von Richard Herre
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß dieses Wort die ästhetische Dynamik des ganzen Romanes und damit seine Ästhetik selbst bezeichnet: Endosmose ist der (von innen nach außen) gerichtete Vorgang, der zwei durch die Haut der Projektionen getrennte Wirklichkeiten, die „reale“ wie die fiktive, sich aufeinander abstimmen läßt. (Exosmose, entsprechend, führt den Ausgleich von außen nach innen durch). Wenn also Giono aus dem heutigen – bzw. seinerzeitigen – Marseille eine vorherige Landschaft (mitsamt all ihrer Menschen, ihres Viehs, ihrer Beweidung) aufsteigen läßt, so durchdringt er endosmotisch die Trennwand von Fantasie und Wirklichkeit; indem es sich dabei letztlich um einen Druckausgleich handelt, ist allein noch Dichte wahrheitsevident – Dichtung.
Hier liegen die Ähnlichkeiten seiner, Gionos, und meiner, aber imgrunde sämtlicher Ästhetiken, die sich dem mentir vraie verschrieben haben und zwar eben nicht ein Primat der Fiktion, wohl aber deren und der „Realität“ gleichwertige Wirklichkeit behaupten, bzw. gegen das sogenannt Faktische verteidigen. Denn Giono sieht auf den Landgütern immer auch die Tram, und zwar zugleich, m i t. Die fünfzig geschichtlichen Jahre danach durchfahren die fünfzig zuvor.
Viele kleinere Bodenerhebungen, einige nicht höher als die Scheibe eines Schöpfrades, andere so groß, um einen Tempel zu tragen, alle mit Schirmpinien herausgeputzt, mit struppigen Zypressen und Eiben bedeckt, liefen vor mir her wie die Trümmer eines riesigen Deiches. Durch seine Lücken sah man die Sraße, auf der die angesteckten Leitungspfosten den Weg der Trambahn markierten, dann hier einen Friedhof, dort zwei Fabrikschornsteine (die nicht rauchten) und dort die Flucht einiger Häuser, die mit Marseiller Ziegeln gedeckt waren (das heißt mit Ziegeln, die das Licht nicht einfangen, aber sehr leicht zu verlegen sind). Hier, in dem Zwischenraum, der diese dunkel bewachsenen Häuser trennte, sah man an einer Straße aufgereihte Häuser, dann die Flucht der Straße selbst, die auf der Landstraße endete, auf der die Trambahn fuhr.
Giono, Noah 243/244
Die Innenbilder dringen ins Außen und formen es, indem beider Sphären Druck sich ausgleicht. – Wie sehr ich von Gionos Dichtungen benommen bin, ist Ihnen, liebe Freundin, nichts Neues; ganz gewiß werde ich wieder und wieder auf ihn zurückkommen, auch wenn sich seine poetischen Spuren nicht in allen Erzählungen aufspüren lassen, mit denen ich zur Zeit in eigenen Belangen beschäftigt bin. Immerhin komme ich mit der Durchsicht der von Elvira M. Gross bereits lektorierten Erzählungen ziemlich gut weiter; ihre Einwände und Vorschläge sind mir meist unmittelbar einsichtig, nur einige wenige werden wir in einem zweiten Durchgang Aug‘ in Auge besprechen müssen. Jetzt kommt es erst einmal darauf an, daß alle Stücke, die in den Septimeband sollen, zusammengestellt werden.
Wie mir vorgenommen, gehe ich derzeit jeden Tag mindestens eine der von Elvira hergesandten Erzählungen durch; gestern war der Gräfenbergclub dran.
[Händel, Solomon]
Ebensogut, übrigens, komme ich derzeit mit meinen Auftragsarbeiten weiter; nicht nur der Contessa Familienbuch, auch der Ghostroman ist wieder aufgeschlagen.
Hinderlich ist allenfalls, aber wirklich nur ein wenig, daß es der Ärztinnen/Ärztebesuche nun doch etwas ville werden; konsequenterweise muß nach eventuell weiteren Verschlüssen geguckt werden oder nach zumindest Verengungen. Ich beklage mich nicht, bin im Gegenteil heilfroh, daß unsere Gegenwart uns solche Möglichkeiten zur Verfügung stellt, der Heilung oder zumindest Abwehr drohender physischer Unbill; aber es kostet einen Aufwand an Zeit, den ich nie vorher gewohnt war. Und daß ich wahrscheinlich dauerhaft Tabletten schlucken muß, stört meinen Stolz. Um so wichtiger der körperliche Ausgleich – kaum mehr als eine Woche nach der PTA laufe ich bereits wieder meine 10 km täglich:
Außerdem erstaunlich, daß ich überhaupt keine Entzugserscheinungen wegen des mir nicht länger zugeführten Nikotins habe. Die Cigarrillos abzusetzen hat mir ebensowenig Probleme bereitet, wie daß ich alle Liquids der eCigarren weggegeben habe, die mit Nikotin angesetzt waren. Jetzt dampfe ich nur noch, sozusagen, „Earl Gray“; es reicht mir völlig, auf etwas herumzubeißen und um mich herum den aufsteigenden Dampf wabern und spirreln zu sehen.
Bon, heute nachmittag der Kardiologe, nächste Woche wieder die Angiologin, dannmal zur Untersuchung der Halsarterien, tagsdrauf bei meiner Hausärztin ein Belastungs-EK (dem ich, trainiert, wie ich schon wieder bin, höchst gelassen entgegensehe) und außerdem ein neuer Hautarzt, weil die alte blöde „Geschichte“ noch immer nicht zuende ist. Höchste Zeit, den bisherigen abzuschießen, ich kann nur vor ihm warnen: Hautarzt Dirk Beyer, Schönhauser Allee 71, Prenzlauer Berg. Als Arzt ist der Mann von erschreckender (Mit)Fühllosigkeit, zudem extrem arrogant. „Antworten Sie nur auf Fragen, die ich Ihnen stelle!“ Wörtlich, in genau dem Ton. – Weshalb ich dennoch immer wieder hinging? Weil man bei ihm keine Termine ausmachen muß, die erst in acht Wochen stattfinden oder n o c h später, sondern weil man sich einfach ins Wartezimmer setzen kann – ein Dilemma, aus auch d e m mir meine Hausärztin mit einem – nämlich weiteren – Code der Kassenärztlichen Vereinigung herausgeholfen hat.
Ein Fußweg führte um das Haus, stieg den Hang hoch und brachte einen sogleich mitten in Zypressen, Terebinthen und Rosmarine. Das ganz nackte Meer stieg so hoch am Horizont empor, daß es schien, als ob eine ungeheure Kreiselbewegung es glatt und senkrecht hielte. Der Gedanke ließ einen erzittern, daß irgend etwas diese Bewegung stören könnte. Dort war es, wo ich zum erstenmal der Persönlichkeit begegnete, die wie ein goldenes Ährenkorn auf einem Rappen war. Sie schien das Schattenbild der Dinge zu sein.
Giono, Noah 261
Ihr ANH