Das Telefon hatte geklingelt. Sogar dreimal heute. Beim ersten ging’s darum, einzuwilligen in eventuelle juristische Übersetzungen aus dem Deutschen ins Italienische. Wahrscheinlich wieder so eine Schwarzarbeit wie sonst auch mit der Vermittlung der Böhmin, die mich angerufen hatte. Es ging um ihren Sohn. Abgenickt und: mal seh’n.
Das Andere ein Wortschwall einer Telefonistin meines Gasbetreibers. Ob sie mit Enrique spreche, wie sie einen meiner Taufnamen “Heinrich” aussprach. Natürlich nicht, bis mein Nachname sich herausschälte. Hörte mir geduldig alles an, was sie herunterzuleiern hatte. Wollte auch einen Termin vereinbaren, um mir die Vorteile erklären zu lassen, vom Gasbetreiber auch noch den Strom geliefert zu bekommen. “Bitte die letzte Stromrechnung mitbringen”. Übliche Vexierungen mit neuer Variante diesmal. Merkwürdigerweise lehnte ich diesmal “höflich” ab. Passiert sonst nicht.
Das letzte Telefonat brachte mich in eine verflixte Situation. Nach dem Ende fand ich das Buch nicht mehr, dessen Lektüre ich deshalb unterbrochen. Es ging um den ersten Band der Nabokovschen Erzählungen, kein wirklich geringer Band. Eine Viertelstunde wohl durchmaß ich meine Zimmer und schaute auf alle möglichen Ablageflächen. Nabokov aber blieb verschwunden. Links neben dem Küchen-PC irgendwas mit “Ungeheuer Muse”, rechts Montales Gedichte (die des alten Montale gefallen mir nicht wirklich (“Altri versi”): ein alter Mann gibt seinem Brabbeln eine Form, dem kein Feuer mehr entspringt… schade, dies empfinden zu müssen). Es ist aber nicht wie “altes Brot”, dessen Splittern ihn, den zuletzt Telefonierenden aufjubeln läßt, der behauptet, gern altes Brot zu essen.
Aber vorhin lag noch Nabokov auf dem Montale oder umgekehrt. Wie ein plötzlich verlorener Zahn auf einer Klaviatur, der am Ende nur noch die Dissonanzen bleiben.
Es ging in der letzten Erzählung um ein Lachen. Nach einer ausgestandenen Lungenentzündung. Um ein endlich erfülltes “Christ ist erstanden”. Gemeint ist Josephina Lwowna, die Schweizerin, die als Gouvernante in Rußland tätig war. Ostern nähert sich. Wir sind in Lausanne. Flucht vor der Oktoberrevolution. Unvergeßliches Rußland. Unvergeßliches Osterfest. Eier werden bemalt als Geschenk für benachbarte Emigranten, die sich indes als gleichgültig erweisen, sie einfach nur belächeln wegen ihrer unbeholfenen Aussprache der russischen Sprache: russische Aristokraten. Heftiges Wetter bei der Heimkehr, Lungenentzündung, Fieberträume mit Petersburger Szenarien und einem Zar Peter, der vom Denkmal steigt, um sie zu umarmen.
Beim Anblick des schwarzen Rückens von Mlle. Finard, der rutschenden Beine und der Knopfstiefeletten ließ Josephine das Lachen aus sich herausbrechen, sie schüttelte sich, gurrend und keuchend, unter ihrem Federbett, da sie fühlte, daß sie auferstanden war, daß sie zurückgekehrt war von weit her, aus dem Nebel des Glücks, der Wunder und der österlichen Herrlichkeit.
Mir war tagsüber ein weiteres Lachen beschert in Bölls Erzählung “Die unsterbliche Theodora”. Eine Farce über einen berühmt gewordenen jungen Dichter Bodo Bengelmann, nach dem die Straße benannt ist, die ganz zu Anfang beschritten wird.
Leider genoß er nur zwei Jahre seinen Ruhm. Er starb an einem Lachkrampf.
Eine Erzählung, die Dichtung nicht ernst nimmt. Nun kann man natürlich davon ausgehen, daß er sie geschrieben hat, um nicht erst genommen zu werden. Muß man ihm wohl unterstellen. Ins Gebirg scheint er dennoch nie gegangen zu sein. Meridiane sind ihm unbekannt. Zumindest beiseite gestellt. Der Beginn des Krieges ein Kasernenhofereignis, die Heimkehr vom Krieg ein “Binnichnich”. Und dann dies einzige Lachen bisher. Gedichte. Tant pis!
Bis ich auf den Boden schaute vor dem Küchenstuhl. Da lag er, der gesuchte Band. Rotes Feuerzeug zwischen den unterbrochenen Seiten der Erzählung “Schlägerei”, die aber da noch gar nicht begonnen hatte.