Man kann keine Romane mehr schreiben wie Balzac, Zola und Proust, in denen das Personal fest in einer jeweiligen sozialen Position verankert ist und in denen es einen wichtigen Teil der Storyline ausmacht, die Grenzen der sozialen Position lediglich zu testen.
Von Volltext 3/2018, im Netz darinnen >>>> dort.
Allerdings „können“ läßt sich’s schon. Und hat auch, doch wider wirkender Wirklichkeit, Erfolg. Eben nämlich drum. (Ich nenne heut keine Namen, auch wenn wirkende Wirklichkeit ein a l l zu weißer Schimmel ist.))
F e r n e r:
Literatur, die versucht, „Das Menschliche“ möglichst unverändert durch die Zeiten zu bringen, muss scheitern. „Der Mensch“ ist zu jeder Zeit in hohem Maß von der Gesellschaft und von der jeweils verfügbaren Technologie gebildet. Luhmann sah, fast angstvoll, die Andersheit des Computers. Romane und Gedichte sind oft Verstärkungsanalysen von Abweichungen, das gilt sowohl für die Beschreibungen von Innen- als auch von Außenwelten. In der Gegenwart bedeuten das Computerdenken und die Internetplattformen die größten Abweichungen von der Vergangenheit. Literatur muss auch erfassen, wie das Computerdenken, wie die Internetplattformen die Gesellschaften und die Einzelnen verändern. Heidegger würde googeln. Wittgenstein würde googeln und Instagram abonnieren. Musil würde googeln, Instagram abonnieren und vielleicht sogar programmieren.
Ebenfalls Händler, ebenfalls >>>> dort.
Eine Literatur, die jemals versucht hat, „das Menschliche“ (was immer das sein soll) „möglichst unverändert durch die Zeiten zu bringen“, war immer schon schlechte Literatur. Nicht mal ein Grimmsches Märchen hat das je versucht, im Gegenteil.
Und dass Literatur in der Gegenwart die digitalen Medien erfassen muss, ist erstmal nichts als eine Banalität. Klar, die Autoren könnten ihr Personal sonst ja auch noch in Pferdekutschen reisen lassen. Aber das sind Äußerlichkeiten. Mag sein, dass Heidegger, Wittgenstein und Musil googeln würden, aber das ist belanglos, denken und schreiben würden sie immer noch selbst.
Außerdem würden Sie das zumindest für Heidegger bezweifeln, wenn Sie jemals vor seiner Hütte im Schwarzwald gestanden hätten. Für Heidegger wären Internetplattformen, Google und Co. etc., einfach nur „Zeug“. Werkzeug. Der Mensch hat sich die Dinge der Welt immer schon „zuhanden“ gemacht. Ob es nun ein Hammer war oder eine Suchmaschine im Internet. Daran ist nichts neu und verändert schon gar nicht das Wesen des Menschen.
Alles altbacken. Wenn heutige Autoren einen Zugang zu einem im wirklichen Sinne ‚modernen Roman‘ suchen sollten, so müssten sie eher die Ergebnisse der modernen Physik in ihr Schreiben einlassen. Müssten sich bemühen zu verstehen, was etwa die Quantenphysik für die Literatur bedeuten könnte, oder was die Tatsache bedeutet, dass das, was die Substanz der Welt ausmacht, nicht materiell ist und im Code der Mathematik geschrieben steht. Aber darüber wussten die Baumeister des Mittelalter weit mehr, als alle heutigen Romanautoren zusammen jemals wissen werden.
Stattdessen immer noch auf sowas wie einem Cyber/Kyberrealismus rumzureiten, hinkt weit hinter dem her, was ein wirklich ‚moderner Roman‘ entwickeln müsste. William Gibsons graue Haare retten den Roman nicht.
Grüezi, sagt elfi
@elfi
zu: „was ein wirklich ‚moderner Roman‘ entwickeln müsste“.
Haben Sie die Andersweltbücher gelesen? Ich brachte den Hinweis nicht grundlos. ebenso wenig, wie ein Hinweis auf die Struktur der Beartgedichte, den ich hierdrüber n i c h t anbrachte, grundlos wäre. Zu Gibsons grauem Haar (Sie werden das Kopfhaar, nicht seine übrige Behaarung gemeint haben, sollten also genau werden in Ihrer Argumentation) weiß ich wenig zu sagen; seine Texte beschrieben nur, was geschieht, sind es aber nirgends strukturell; ebendas ist in Anderswelt anders. Wiederum „in Sachen“ Physik gebe ich Ihnen rundum recht, nur daß wir die für uns lebend-wirkenden Räume von zum Beispiel subatomaren durchaus unterscheiden müssen. Deshalb klingt mir Ihre knappe Eloge auf „die Baumeister des Mittelalters“ ein wenig zu esoterisch, hat was von Dan Brown, der poetologisch nun gewiß nicht zu den forciertesten Schriftstellern der Gegenwart gehört.
Mein (!) Begriff eines Kybernetischen Realismus‘ ist ein deskriptives Modell, also eine denkerische Versuchsanordnung, auf der ich auch nicht herum“reite“, sondern die ich als These in die Dikussionen hineingestellt habe , ohne daß Sie anders als qua Behauptung etwas dagegen setzten. Um solches zu tun, müßten Sie in der Tat weitergehend argumentieren, als bloß mittels der Ihrerseits banalen Feststellung, es sei Materie letztlich auch „nur“ eine Form von Energie, eine, sagen wir, anfaßbare Energieballung oder -verdichtung. Händlers kleiner Essay stellt lediglich klar, daß die meiste gegenwärtig geschriebene und vor allem favorisierte (mithin gut verkäufliche) Romanliteratur noch nicht einmal im 20. Jahrhundert angekommen ist, geschweige darüber hinausreichte. Es geht nicht darum, die medialen Entwicklungen nur zu erfassen, sondern sie müßten eben Struktur der Texte werden, in ihnen, um mit Hegel zu sprechen, aufgehoben sein.
Was Sie zur „Postkutsche“ schreiben, ist übrigens erst richtig banal; wahr ist, daß sie in einer zeitgenössischen Literatur durchaus ihre Berechtigung hätte. Beispielhaft hierfür ist, aus meiner Sicht, Nabokovs bereits Ende der Fünfziger begonnener Roman Ada or Ador, für den Thomas Hettches Satz gilt, es nehme die Dichtung die naturwissenschaftliche Erkenntnis voraus. Insofern ist an Ihren Baumeistern des Mittelalters freilich ein wenig was dran.
Mit den Baumeistern des Mittelalters bezog ich mich (vielleicht etwas zu sehr implizite, mea culpa) auf die mathematischen Strukturen, die in den Kathedralen, etwa Chartres, verwirklicht wurden. Das hat nichts mit Esoterik zu tun. Vergleichen Sie mal die harmonischen Größenverhältnisse in den Grundrissen, Säulen etc. mit den Tonverhältnissen in der Musik; also Primen, Sekunden, Terzen, Quarten etc. Sie werden auf Zahlenverhältnisse stoßen, die überall in der belebten Natur wiederkehren. Das Universum selbst ist reine Mathematik. Und es wäre naiv zu glauben, die Wirklichkeit der Welt ließe sich in den vertrauten Konzepten der menschlichen Sprache ausdrücken bzw. darstellen.
Händlers Hinweis: Klar, die gegenwärtige Massenliteratur bedient sich nicht einmal aller erzählerischen Möglichkeiten, die das 19. Jahrhundert schon besaß. Und ihr Abstand von der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts ist ungeheuer.
Zu Nabokovs Ada: Ich las ihn erst vor einigen Wochen wieder. Immer noch bewundernd, doch halte ich ihn inzwischen für höchst geschmäcklerisch, da genießt ein Autor seine eigene Kunstfertigkeit und lässt uns mit großer Geste dabei zusehen. Ich denke nicht mehr, dass das der Weg ist. (Wenn man den Roman als Form erneuern will.)
Würde mich andererseits interessieren, was Sie von Versuchen wie „House of Leaves“ von Mark Z. Danielewski halten.
Fragt elfi
@Elfi:
Danielewski: ist notiert, kenne ich tatsächlich nicht.
Was Nabokov anbelangt, so finde ich Eitelkeit überhaupt nicht schlimm, im Gegenteil, wenn sie zurecht da ist, genieße ich sie m i t. Und „geschmäcklerisch“ ist ein typisches „Argument“ bürgerlicher und vor allem auch religiöser Puristen. Ich halte es da mit dem späten Aragon: „Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen“. Soviel auch zu den mathematischen Strukturen. Sie haben kein Fleisch, sie bluten nicht, sie kennen keine Sekrete. Also sind sie – wie alles „Ewige“ – tot. Um zu leben, brauchen sie unsere Nässe. – Kommt beides zusammen, allerdings, dann wird es groß.
Sicher, kein Roman besteht aus Struktur allein. Es muss immer auch um das Herz der Dinge gehen.
Aber dass Sie da immer richtig gewichtet haben, das wollen Sie vermutlich nicht behaupten. Vielleicht in den Bamberger Elegien. Aber „Meere“ versinkt recht strukturlos im „Sekret“. (Soll keine Kritik sein, nur eine Beschreibung.)
Über Danielewski dann vielleicht später mal.
@elfi:
Daß Meere „recht strukturlos im ‚Sekret‘ versinke“ bestreite ich energisch; das Buch ist geradezu extrem strukturiert gebaut – allerdings nicht in Hinsicht auf die neuen Medien, weil sie in ihm gar keine Rolle spielen und spielen auch nicht müssen, ja nicht einmal sollten. Die hier so wirkenden wie tragenden Strukturen sind musikalischer Natur; was „verhandelt“ wird, könnte in wie vor dreihundert Jahren sein, d e m trägt die Form Rechnung. Über den gesamten Text ist die Struktur die einer Passacaglia, deren einzelne Variationen wie die See an Land fluten und von ihm wieder zurück.
Ich gebe aber zu, daß ich pro domo argumentiere, logischerweise.
Passacaglia: Interessanter Hinweis. Ist mir entgangen.
Seien Sie mir aber bitte nicht böse, wenn ich es daraufhin nicht erneut lese.
Aber nein, bin ich nicht.
meere habe ich ja gelesen und aus traumschiff habe ich mir lesen lassen. meere ist ein künstlerroman und andersens meerjungfrau schwingt mit. jemand, der eben nicht wahrgenommen wird, neben einem manischen künstler, der nicht aus seiner haut kann, spielt ja die hauptrolle. lustigerweise erinnere ich gerade meere nicht aufgrund von „sekret“, sondern aufgrund seiner schmerzlichen melancholie. irene, die so viel schneller die sprache lernt, so viel schneller kontakt zur bevölkerung knüpft und fichte, der das alles gerade noch registriert, aber irene nicht wirklich wahrnimmt, nicht wahrnehmen kann. tragisch. traurig. mir kam dieser roman vor allem in seiner essenz klirrend klar vor und strukturiert.