diaphanes‘ Béart, die Marlboros und ein schlimmer Ärger. Im Arbeitsjournal des Freitags, den 2. November 2018, der abends, aber privat, mit einem großen Fest beschlossen wird.

[Arbeitswohnung, 7.27 Uhr
Erster Latte macchiato]
Sie werde immer sehr unruhig, schrieb mir, Freundin, eine nahe andere Freundin, wenn ich mich mehrere Tage hintereinander nicht in Der Dschungel gemeldet hätte.- Sie hatte recht. Ich war in ein Loch gefallen, ein tiefes. Im Titel nenne ich es euphemistisch „Ärger“, es ist aber – immerhin kann ich jetzt drüber schone Wortspiele machen – ärger. An so etwas, damit also sprachrumzuspielen, war mindestens zwei Tage lang nicht zu denken. Da ich mich nicht wirklich wehren kann, zuckte immer wieder die Hand zum Lexotanil.
Ich widerstand, schrieb statt dessen Briefe, im ersten vergriff ich mich im Ton. Wobei „sich vergreifen“ ein falsches Idiom ist, weil es voraussetzt, man habe die Wahl. Ich hatte sie nicht, in meiner anfangs nicht Wut, sondern schweren Verletzung. Der Kater, den man tritt, schrieb ich später, faucht.
Worum es geht, möchte ich hier nicht öffentlich schreiben, jedenfalls noch nicht, vielleicht aber später, wenn „der Fall“ Realität wird. – Er wird es werden. Das ist nicht nur eine Anmaßung, sondern objektiv gegen meine Arbeit gerichtet und zudem in gewissem Sinn auch – Freundesverrat. Dies macht die Sache besonders bitter. Zumal’s eine Sache nicht ist.
Und ich grub mich in die Überarbeitung der alten Marlboro-Prosa ein, weil einige der Stücke in den neuen Erzählband mit hinein- nicht nur -sollen, sondern auch müssen. Also viel Tipperei, die mich aus meiner schweren Entmutigung, nämlich dem Loch, nicht wirklich herausziehen konnte.
Das gelang, erst gestern abend, diaphanes.
Der Verlag hatte zu einer Eröffnung in seinen Espace in Kreuzberg zu einem Empfang Pierre Guyotats geladen und ich mich aufgerungen, hinzuradeln. In Zuständen wie dem meinen fällt mir so etwas äußerst schwer, ich muß dann gegen eine geradezu Lähmung an. Ach wie gut, daß ich’s schaffte! Denn zum einen lasse ich mir Depressionen nicht anmerken, wenn ich öffentlichen Raum betrete, ich wirke dann tatsächlich selbstbewußt wie immer, kann sogar, ohne mich irgend zu verbiegen, lächeln. Das greift in den inneren Zustand zurück und verändert, ja lindert ihn, weil dieser Mechanismus objektiviert, das heißt entf e r nt: Ich nehme Distanz zu den Vorgängen ein, betrachte sie quasi von weitem, dies auch zeitlich, wie von fünfzig Jahren später zurück. Da werden die Differenzen denn klein, und was einst unvereinbar zu sein schien, wird fast zu nahen, ja gut bekannten Nachbarn. – Zum anderen lag – noch nicht im Handel, sondern grad frisch aus Presse und Bindung – diaphanes‘ neues Magazin in dem übrigens sehr schönen, weil Freiheit atmenden Raum, also die No 5, worinnen meiner Béart-Gedichte vier auf acht hohen Seiten:

 

 

 

 

 

 

 

Das ist mehr als nur ein Erfolg, zumal nur kurz hinter einem Text Oleschinskis, die in der gegenwärtigen Lyrik eine vorgeschobene Rolle spielt, zurecht. In den vorherigen Nummern waren Gedichte Monika Rincks und Ann Cottens vertreten, deren letztrer ich ausgesprochen schätze.
Zwar bedauerte ich es tief, nicht französisch sprechen zu können, ich radebräche zu schlimm herum, als daß ich mit Guyotat gedeihlich in ein Gespräch kommen könnte – doch nach Hineinlesen in seine bei diaphanes auf Deutsch erschienenen Romane, gestern besonders in Eden Eden Eden, war mir klar, daß wir einander über die eine Generation hinweg, die uns trennt, manches zu sagen hätten. Und überhaupt war dort gestern französisch die Verkehrssprache. Aber dann machte mich Michael Heitz, der Verleger, mit dem jungen Übersetzer Jordan Lee Schnee bekannt, und recht schnell wurde eine Übersetzung meiner vier Gedichte ins US-Amerikanische vereinbart – was auch insofern reizvoll ist, als wir beide in Berlin leben und uns für diese Arbeit auf das leichteste treffen und sie zusammen ausführen können – schnellstmöglich, übrigens, wie Heitz gerne möchte. Mehrsprachigkeit ist für das Magazin, dessen Inhalte sich immer auch im Internet fortsetzen, ein geradezu Stilcharakter. Angenommen, Schnees und mein Projekt läßt ihn an der Béart poetischen Geschmack finden, wäre nicht ausgeschlossen, daß, wenn der Zyklus einmal fertig sein wird (ich liebäugle mit dem Herbst 2020), zugleich auch eine englischsprachige Ausgabe herauskommen könnte. Aber das werden wir sehen, oder auch nicht.

Weiterhin hat diaphanes auch eine französische Übersetzung im Blick, nur weiß Heitz noch nicht, wer sie angehen könnte. Ich habe nachts, als ich zurück am Schreibtisch war, die Adresse Raymond Pruniers rübergeschickt, der ja schon manches von mir übertragen hat, auch über mein Werk auf Französisch geschrieben; ich weiß aber nicht, ob er zu solch einer Arbeit derzeit willens ist. Parallalies Übersetzungen seiner Gedichte, ins Italienische, zeigen eher an, daß er intensiv mit Eigenem beschäftigt ist. – Als Lektorin einer solchen Übersetzung habe ich auch hier selbstverständlich Elvira M. Gross ins Spiel gebracht, die ohnedies für diaphanes ein unschätzbarer Gewinn sein könnte,  unabhängig von mir. Ihr werden Magazin wie Programm ohnedies sehr gefallen.

So also hellte meine Stimmung sich auf, was auch aus anderem Grunde höchst wichtig. Für heute abend und nacht hat die Contessa nämlich zu einem großen Fest nach Hamburg geladen, das rauschend zu werden verspricht. Wieso nicht nach Düsseldorf, sondern dorthin, weiß ich jetzt noch nicht, werde aber fragen. Jedenfalls wäre es ungut, stapfte ich d a als mürrischer Grantler zwischen die feiernden Leute. Nebenbei bemerkt, hat sie mich ins VIER JAHRESZEITEN direkt an der Binnenalster eingebucht. – Am frühen Nachmittag fahre ich los.

Von Guyotat hatte mir übrigen Cristoforo Arco schon gesprochen, der durch puren Zufall, in einem Wiener Antiquariat, Holger Fock begegnet war, dem Übersetzer der fünfhunderttausend Soldaten ins Deutsche, und mit ihm in ein solches Gespräch geraten, daß sie es bis ins Morgendämmern die ganze Nacht durch weiterführten, erst im Verlag, dann der Wiener Filmbar. Von ihm, Cristoforo, hörte ich erstmals von dem Buch, das nun a u c h hier bei mir liegt. Festlesen aber | tat ich mich gestern im Eden-Roman. Es stehen reißende Sätze darin, ins Ungeheuerliche reißend, von dem in diaphanes‘ neuem Magazin Lars von Trier freilich sagt, „Reality“ sei „worse than anything you can make or show in a movie“. Das mag für die Literatur ganz ebenso gelten. Doch geht es der Kunst  nicht darum, die Wirklichkeit nachzumachen oder -zuahmen, sondern eine Welt zu erfinden, die mehr über sie aussagt als jede direkte Beschreibung, ihr näher a u f die und tiefer i n die Haut geht. Da kommt es dann – ins Grabmalbuch wieder zurück – zu Sätzen wie diesen:

… durch die Gewächshäuser, Palmblätter streifen ihre leicht entblößten Brüste … die Soldaten träumen, deuten Küsse, Zärtlichkeiten an, bewegen die Lippen, die Hände, strecken sie aus, richten sich auf, pressen die Gewehrkolben zwischen ihre Schenkel. Abends im Bordell verwüsten sie die Zimmer und bumsen auf dem Rosshaar halbtote Nutten, deren Münder von Sperma aufgedunsen und deren Kehlen zugeschnürt sind; dann kehren sie betrunken ins Lager zurück, Bauch und Lenden brennen wie Feuer.
Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten, S. 85, dtsch. v. Holger Fock

Oder zu quasi-expressionistisch/apokalytischen Erzählungen wie am Anfang des ersten ANDERSWELT-Bandes und NULLGRUND, dem Anfang des dritten.

Festzuhalten bleibt, daß meine Romantrilogie der erste literarische Text gewesen war und ist, der den Begriff der mythischen Anderswelt poetisch für Dystopie wie Utopie ausgeformt hat, u n d für den „Realismus“ gangbar gemacht – ob’s „dem“ Betrieb nun gefällt oder nicht. Andres zu behaupten, ist schlichtweg Literaturgeschichtsklitterung: so verleugnend wie verfälschend. Weitergehend, ich sagte es oben, will ich mich hier | aber nicht äußern. Sondern mich zurück auf die Marlboros konzentrieren; rund dreißig Seiten liegen noch vor mir. Da das Endlektorat des ersten Erzählbands anfang Dezember stattfnden wird, und spätestens muß, lege ich die Arbeit an Béart XXII vorübergehend zur Seite. Außerdem wurde mir gestern klar, daß auch die Arndt-Erzählungen mit in den ersten Band hineinmüssen; das will ich jetzt gleich Elvira erzählen.

Ihnen einen guten, Freundin, Tag!
ANH

[Vier Jahreszeiten, 327 / Hamburg um 19.40 Uhr
Espresso mit Jarrett, Creation]
Angekommen:

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