[Geschrieben 2019 für Faustkultur, da auch erschienen,
doch unterdessen (März 2024) dort nicht mehr online.]
Wer ist David Ramirer?
Mein erster Kontakt mit dem bis dahin auch mir völlig unbekannten Wiener Maler und … ja: Musiker geht auf die Jahre 2006/07 zurück. Der Deutschlandfunk hatte mein „Das Wunder von San Michele“ gesendet, Ramirer es gehört und angefragt, ob es davon eine Hörbuchproduktion gebe. Was ich verneinen mußte. Weshalb ich ihm einen Link auf die in meiner Cloud liegende mp3 schickte. Prompt „revanchierte“ er sich und sandte im Gegenzug eine Aufnahme seiner Interpretation der bachschen Kunst der Fuge. Dazu erklärte er, seit Jahren daran zu sitzen, Johann Sebastian Bachs Musik auf den Computer zu transkribieren.
Ich war erst einmal skeptisch. „Ein Nerd“, dachte ich, Bach-Nerd allerdings – eine Leidenschaft, mit der er unter Musikern nicht allein steht. Als Musiker aber am Computer? Wobei es da freilich „Vorgänger“ wie Wendy Carlos gibt, gegen die Ramirer später einwandte, hier sei der Umgang mit Bach doch „erstaunlich unbarmherzig“. Schon da wurde seine konzeptionelle Strenge offenbar. Allerdings gehörten Uri Caines Goldberg Variationen über weite Strecken mit zum besten, was es gebe: „So ist etwa schon nur Variation 13 vielleicht die sensibelste und wunderbarste Einspielung, die ich je gehört habe und immer wieder mit Staunen höre.“ — Jedenfalls tauschten wir uns mehrfach über Musik aus, immer wieder auf dem Mutterboden seines Seelenkomponisten, hatten auch Unstimmigkeiten etwa bezüglich Glenn Goulds, zu dessen Interpretationen er mir schrieb, unabhängig von des Mannes unzweifelhafter Klasse halte er seine Interpretationen für oft „zu manieriert übertrieben, manchmal auch tatsächlich schlampig, dafür gibt es Beispiele in den Partiten“. Und schickte mir eigene CDs um CDs – unterdessen sind es über zwanzig. Woran ein Besonderes ist, daß er solche Sendungen alleine Freunden und ihm bekannten Afficionados zugänglich macht, auf eigene Kosten und ohne etwas dafür haben zu wollen. – Ich habe jede mehrfach gehört. Sie repräsentieren den, wenn es so etwas gibt, „reinsten“ Bach von allen, die ich kenne.
Nun mag ich es, wenn Interpreten ihr Teil in eine Interpretation geben, hänge auch musikalisch keiner „Reinheit“ an, bleibe also auf Seiten Goulds trotz der wahrscheinlich richtigen Einwände gegen ihn, die Ramirer nachher allerdings als nur „eine Abgrenzung“ relativierte. Wie auch immer, ich hörte – und höre weiterhin – seine, Ramirers, strengen Exerzitien mit enormem Gewinn und wurde zunehmend an dem sich der Öffentlichkeit weitgehend verschließenden Künstler interessiert, der, wie er selbst es darstellt, völlig zurückgezogen für „seinen Bach“ lebt, „in den Noten und auch dem ganzen strukturellen Umfeld von Bachs Musik existenziell verwoben“. Auch hätten seine Transkriptionen „etwas Bildhauerisches“, denn die einzelnen Phasen glichen einer Art Modellierung: „Phase I: Notenerfassung (& ggfls. Analyse); Phase II: Tempoermittlung; Phase III: Stimmführungen, Anschlagsdynamik, Effekte (Pedal, Verzierungen); Phase IV: Letzter Schliff“.
Da wollte ich n o c h mehr wissen.
Und dann … ja dann — kam, keinen Monat ist es her, die „Variation auf das Ricercar a 6 voci“ bei mir an – Ramirers allererste, empfand ich, eigene Arbeit, eine, die nicht mehr „nur“ diente, sondern sehr bewußt – doch handwerklich nicht minder „rein“ – wirklich interpretierte, ja sogar völlig neu faßte:
Was er da eigentlich machte, und wie, erschloß sich mir aber erst langsam. Hingegen mich der ungeheure Sog von Anfang an ergriff, den diese, so möchte ich das 76minütige Stück gerne nennen, Meditation auf mich aus– und verübte. Ich fand für Stunden, schon ganze Tage aus ihm kaum noch mehr hinaus. Indes war mir bereits nach dem ersten Anhören klar, es lasse sich dieses Stück ohne jedes Zögern neben Keith Jarretts großen Tokyoter, Madrider, Mailänder und Napoletaner Improvisationen stellen – mehr noch, man müsse es tun. Und ich begriff, über Ramirers Ricercar schreiben nicht nur zu wollen. Nein, es wurde künstlerische Pflicht und Begehr.
Zuvor indes ließ ich das Stück Elvira M. Gross, meiner davon unmittelbar berückten Lektorin, und nahen Freunden zukommen. Alle schrieben sie unisono zurück: „Ich kann nichts anderes mehr hören!“ Derart bezaubert war jede und jeder, war umwoben wie berauscht. So wäre es in der Tat eine Sünde, diese musikalische Meditation nicht bekannt zu machen.
Wer also ist dieser David Ramirer?
1970 in Wien auch geboren, kam er bereits während der Ausbildung mit Bachs Musik in einen Kontakt, der sich so weit intensivierte, daß er für seine Kunstschul-Abschlußarbeit die Kunst der Fuge bildnerisch umsetzte, „daneben“ komponierte und improvisierte er und fing damit an, die bachschen Partituren aufs virtuelle Klavier zu übertragen. Zwar liegt dies fünfundzwanzig Jahre zurück, doch war schon da Mehrstimmigkeit zu einem bleibenden Element der ramirerschen Kunst geworden. Schließlich kam es zu Ausstellungen, die zwar nicht ganz erfolglos waren, ihn sich dennoch von der Öffentlichkeit abwenden ließen. Er suchte sie erst wieder im Netz ̶ mit digitalen Collagen, die auch einen kurzen Hype erzeugten. Das war 2004. Die Bilder sind noch heute >>>> bei Flickr präsent. Trotzdem erfüllten sie ihn nicht. Er brauchte die Musik. Und vergrub sich neu in seine Transkriptionsarbeit, die heute vor allem um Bachs Werk „für Clavier“ kreist, das er zu einer kompletten Werkausgabe zusammenfügen will (Clavier meinte im Barock gleichermaßen Cembalo, Clavichord und Orgel). Darin sollen die Stimmführungen und musikalischen Intentionen Bachs möglichst transparent zu hören sein – mithin eine Ausgabe von Referenzcharakter.
Da wiederum so scheu, daß ich ihn einen „Geheimen Meister“ nennen möchte, kann Ramirer von seiner Kunst durchaus nicht leben. Alleine das läßt mich vor dem riesigen Arbeitsaufwand bewundernd stehen und staunen. Vielmehr finanziert er sich durch seine Tätigkeit für NEUSTART Wien, so daß seiner Kunst allein die Abende und Wochenenden bleiben. Auch deshalb wird es dringend Zeit, daß ihn nicht nur das Publikum entdeckt, der er in seinem nahezu intimen Arbeitsprozeß über Monate, Wochen, ja Jahrzehnte „mit Bachs Musik“ – so schreibt er mir – „vollkommen allein“ ist, sondern möglichst auch eines der wichtigen Labels. Ramirers Crux besteht ja darin, daß seine Kunst allein auf elektronischem Wege hörbar gemacht werden kann. Denn am Computer lassen sich, ich sage einmal, „Fingersätze spielen“, die an einem realen Instrument nicht aufführbar wären – jedenfalls noch nicht; Beispiele von Musikstücken, die zu ihrer Zeit für unspielbar galten, gibt es Legion, von Brahms‘ Violinkonzert – das, wohl auf Joseph Joachim zurückgehend, als eines „gegen Violine“ verspottet wurde – bis zu Luigi Dallapiccolas Cello-Chaconne. Für Ramirers Bach dürfte in einem übertragenen Sinn gelten, was Uwe Kraemer auf dem Rückseitentext einer Brahms-Einspielung konstatierte: daß nämlich gerade dessen „Unfähigkeit, in Fingersätzen und Stricharten zu denken, ihn davor bewahrte, die ausgetretenen Pfade der Virtuosentechnik zu beschreiten.“ Auch wenn ich nicht weiß, ob das Urteil „Unfähigkeit“ auf Ramirer zutrifft – es kann, seines Instrumentes halber, auch berechtigtes Desinteresse sein –, wird doch Kraemers Conclusio an dem nun vorliegenden Ricercar auch für Ramirer als Recht des sowohl ausführenden wie komponierenden Künstlers leuchtend offenbar. Dabei geht die Arbeit am Computer über die Arbeit eines Pianisten erst einmal nur insofern hinaus, als sie etwa erlaubt, unter ein Fugenmotiv ein Pedal zu legen, während die anderen Motive „trocken“ bleiben. Außerdem können Obertonstärke und Pedalhörbarkeit frei definiert werden, ebenso der virtuelle Raum, in dem sich das Klavier „befindet“. So läßt Ramirer in seiner Interpretation der Fantasie und Fuge BWV 944 jene in sozusagen einer Kathedrale erklingen, indes sich diese in einen intimen, klanglich nüchternen Raum zurückzieht – ein Kniff, der die motivische Arbeit akzentuiert:
Doch jetzt diese „Variation auf das Ricercar a 6“! — wobei der Titel ebenso zutreffend wie aber auch allzu bescheiden ist. Denn zwar besteht das Stück tatsächlich nur aus dem Material des Originals, ob nun in Stimmfolge oder Akkordprogression. Doch indem Ramirer die Arpeggi und Tempi, auch die Lautstärken durchweg selbst bestimmt, entsteht etwas durchweg Neues.
Stellen Sie sich die Partitur vor und dann, daß Sie die Notenzeilen auseinanderziehen, so daß Sie die senkrecht untereinander stehenden Noten als aufeinander folgend sehen:
Zum Vorschein kommt das Material „an sich“, das sich nach einem gedehnten, extrem langsamen Vorspiel, nämlich der sechs Stimmcluster der Fugenexposotion, quasi neu ordnet, nun eben auch wieder in die Vertikale. Woraus sich keine neuen harmonischen Zusammenhänge ergeben, nein, es bleibt „originaler“ Bach. Aber die Melodik wandelt sich und führt überdies zu einem leitmotivisch verwendeten viertönigen Motiv, das die ramirersche Variation immer weiter vorantreibt, wobei es mitunter abenteuerlich durch die Tonarten moduliert und sehr vorsichtig auch bisweilen das Dissonante streift – aber eben, ohne die bachschen Vorgaben je zu verlassen. Dabei wird das virtuelle Klavier auch zum Perkussionsinstrument: Ab etwa Mitte des Stücks gibt es oft harte, mitunter scharf-laute Einzeltöne, die das musikalische Geschehen gleichsam zurück zur Ordnung rufen – nicht selten mit Raffinesse synkopiert, so daß Hörerin und Hörer zunehmend in den enormen Groove geraten, der wahrscheinlich den bezeichnenden Suchtcharakter dieses Stückes bewirkt. Dazu ein gewisser – ungewisser – „Minimal-Music-Charakter“: Permanente Wiederholungen, wußte schon Cage, lassen uns nach einiger Zeit völlig abheben und können sogar zu als solche erlebten „Erleuchtungs“wahrnehmungen führen. Ein noch schlagenderes, in seinem Fall sogar extremes Beispiel ist Morton Feldman, besonders sein fünfeinhalbstündiges zweites Streichquartett.
Aber selbst wenn Ramirer solch exzessive Aufmerksamkeit auch schon deshalb nicht verlangt, weil er in der uns vertraut-tonalen Welt Bachs bleibt und also in der, der das große Publikum nach wie vor anhängt, müssen wir uns auf diese Meditationen einlassen und einlassen können, um durch sie der Beglückung wirklich teilhaftig zu werden. Freilich ließe sich diese Musik auch im Hintergrund abdudeln; wer das aber tut, der und dem entgeht eben, was wirklich gehört werden kann. Statt dessen sollte die Bereitschaft und auch die Möglichkeit bestehen, sich auf diese sechsundsiebzig Minuten zu konzentrieren. Kunst ist kein Entertainment, sondern, verzeihen Sie meine Emphase, ein Gespräch mit Göttinnen und Göttern, meinethalben auch dem „einen“ Gott. Dies bedarf, wie im Gebet, der Versenkung.
Mir, der ich zu hören gelernt habe, war sie nicht schwer. Und führte aber auch zu einer leichten „Kritik“: Ramirer legiert die Töne vermittels eines darübergelegten Halls, der mir bisweilen zu sehr gegen die Klarheit ging, quasi die Kontur der Töne unter- … nein, überläuft – was freilich gefällig ist und voller Schmelz. Der dürfte die Wirkung des Stücks für viele Hörer deutlich verstärken. Insofern wiederum ist der Einsatz des Halles geschickt. Doch entscheiden Sie selbst:
Ich habe Ramirer meinen Einwand geschrieben, und vielleicht wird es eines Tages eine noch einmal ganz neue, Tonfolge für Tonfolge durchgehörte Version geben, in der auch der Einsatz des Halls strukturell neu einkomponiert und nicht nur darübergelegt ist. Die mir privat zugeschickte enthallte Version wirkte dann aber tatsächlich zu trocken. Doch lassen Sie sich bis dahin auf keinen Fall die jetzige Version entgehen. Ramirer wird sie gegen einen Unkostenbeitrag verschicken und jede CD handsignieren. Und dann – oh, Sie werden Ohren machen!
David Ramirer
Ricercar a sei voci, BWV 1079
von Johann Sebastian Bach
Variation
12,– Euro plus Porto
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ANH, März/April 2019
Berlin
P.S.:
(Während ich diesen Artikel schrieb, erreichte mich nun auch die nun schon zweite „rein“ eigene Arbeit Ramirers: seine Variation auf das „Ricercar a 3“, ebenfalls aus dem Musikalischen Opfer. Ich habe sie bewußt noch nicht gehört, um für diesen Text auf die erste Meditation konzentriert zu bleiben. Welch eine Erfüllung indes, nun auch die nächste hören zu dürfen – und es sogleich zu tun!)
bin halt nur son elektrofuzzie ( er ward )
die synkope im versmass entdeckt, whow, echt
https://www.youtube.com/watch?v=tIZDzoqCiQQ
hatte mich ja bereits abgemeldet, irgendwie,
als haniomal lecter dr. med
gen baal
naja, arriderci bis näxten pfinxten
zu watt neuem, next
Die Zeitung im Fluss ist wie das Hirn im öl