III, 444 – … und kehrte mit einem Teelöffel in der Hand zurück

Dann am Mittwoch fand der Bahnhof doch seinen Reisenden, dem die Extraktion schließlich erspart geblieben war: das Antibiotikum hatte am Ende seinen Zweck erreicht. Die vermeintliche Gesichtssymmetrie ist wiederhergestellt.
Ich hatte jetzt gerade die Stifter-Erzählung “Nachkommenschaften” ausgelesen (merkwürdigerweise aus derselben Zeit wie “König Bär”), die ich im Zusammenhang mit einem Stifter-Seminar zwar schon einmal gelesen hatte, und ich biß mir die Zähne daran aus, um im odontoiatrischen Kontext zu bleiben. Vielleicht, weil ich meinte, man müsse das ernst nehmen. Und darin einen Sinn suchen, wo doch der Sinn darin liegt, den Dachstein so lange und so oft zu malen, daß das Abbild des Dachsteins dem Dachstein zum Verwechseln ähnlich sieht. Wie gesagt:

“So bin ich unversehens ein Landschaftsmaler geworden. Es ist entsetzlich.”

Während ich diese Worte aufnahm, hatte ich die merkwürdige Erkenntnis, am letzten Mittwoch in Rom mehr Natur in greifbarer Nähe zu haben als hier in Amelia. Es fing an bei der Villa Massimo mit ihrer Pinienbedachung, setzte sich fort in der Villa Torlonia, wo aus einem weit ausladenden Baum Sittiche herausgeflogen kamen (wie sie nun genau heißen, wurde mir erzählt, aber ich weiß es nicht mehr). Ich blieb “wie angewurzelt” unter dem Baum stehen, in dem sich nach wie vor komische Vögel dieser Art unterhielten. Dann sah ich die beiden endlich. Sie sprachen einander zugewandt.
Ebenso im Viertel Coppedè, wohin ich die Besuchte führte: Müllcontainer unter einem üppigen Laubdach inmitten dieser “wild wuchernden” Architektur voller Eidechsen und Spinngeweben und nach außen gekehrten, irgendeiner Akademie entsprossenen Akt-Modellen dort. Architektur sei gefrorene Musik. Jean Paul? Je ne sais pas. Aber ich bin eben doch kein Landschaftsmaler, was ganz genauso entsetzlich ist. Mir reicht schon, wenn vom hiesigen Dom aus die eichenbestandenen Hügel der Umgebung mich ihrer Grünheit vergewissern.
Aber es kam noch schlimmer in diesen Tagen. Da war nämlich die traurige Geschichte der Camille Claudel im Chiostro Boccarini. Leider verstand ich nur die Hälfte (die Anlage war nicht mächtig genug). Aber ihre Briefe, aus denen rezitiert wurde, lagen gedruckt an der Kasse aus. Sind also nachzulesen.
Schließlich noch die Anreise dreier Frauen (Soprano, Soprano, Mezzosoprano) und eines Pianisten aus Rom am Samstag: Opernarien im Palazzo Petrignani. Natürlich mußte ich hingehen, vor allem wegen des Mezzosoprano. Sie, die mit dem Louise-Brooks-Blick, die langjährige Freundin. Hinterher, subito subito, Ristorante Anita, wo Herrn Herbst ich einst erstmals persönlich begegnet bin.
Nebenbei (naja, was immer das heißt) eine dicke Arbeit über Work-Life-Balance und Digitalisation… Sicher ein wichtiges Thema. Im Grunde balanciert man ja selber seit eh und je. Kann man verstehen. Wie meinetwegen die Aussage: In der Oberstadt, wo ich arbeite und lebe, wachsen keine Bäume, aber wenn es um Angestellte der zentralen Staatsverwaltungen geht (wie in diesem Text), dann wuchern plötzlich Gewerkschafts- und Gesetzgebungsbäume, Genderfragen nicht ausgeschlossen, die in diesem Kontext ihre Berechtigung haben: Wer kümmert sich?
Aber auch in der Hinsicht wohne ich in der Oberstadt, wo eher Kapern als Bäume wachsen. Vielleicht funktioniert es ja so wie am Sonntag, als der Mezzosoprano zum Abschied noch einmal auf einen Kaffee vorbeikam: ich war aufgestanden, um mir eine Zigarette zu holen, und kehrte mit einem Teelöffel in der Hand zurück,
Seit kurzem wacht über den Hof dieses Ensemble:

III, 443 – Visitatrici und ein vom Bahnhof gesuchter Reisender

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