Und jetzt, viele Jahre später, hatte er das Gefühl,
ihre erste Begegnung in der Phantasie und die andere in der Wirklichkeit seien miteinander verschmolzen und unmerklich ineinander übergegangen, weil sie als Mensch von Fleisch
und Blut bruchlos jenes Bild fortsetzte, das ihm verheißen worden war.
Maschenka, 69/70
(Dtsch. v. Klaus Birkenhauer)
„Der russische Titel“, so beginnt Nabokov das Vorwort zur englischen Übersetzung „des vorliegenden Romans, Maschenka, ist eine sekundäre Verkleinerungsform von Maria, die sich gegen jede vernünftige Transliteration sperrt: der Akzent liegt auf der ersten Silbe, das „a“ ist lang und das „n“ muß palatisiert werden wie in Mignon.“ Und etwas drunter:
Maschenka ist mein erster Roman. Ich begann mit der Arbeit daran im Frühjahr 1925, kurz nach meiner Heirat in Berlin. Gegen Anfang des folgenden Jahres war er fertig und wurde von einem Emigrantenverlag herausgebracht (Slovo, Berlin 2926);
da war Nabokov 26 und bei Erscheinen 27, was ziemlich genau meinem Alter bei der Arbeit an meinem ersterschienenen Roman Die Verwirrung des Gemüts und seinem Erscheinen 1983 entspricht (dem allerdings ein anderer, der Dolfinger, der aber als erst sechs Jahre nachher herauskam).
zwei Jahr später erschien eine deutsche Übersetzung (Ullstein, Berlin 1928), die ich nie gelesen habe,
statt dessen bat er den Übersetzer, Klaus Birkenhauer, seine – Nabokovs – eigene Übersetzung ins Englische als Fundament der deutschen Übersetzung zu nehmen;
Im übrigen blieb das Buch fünfundvierzig Jahre unübersetzt; eine imponierende Zeitspanne.
Die wohlbekannte Neigung des schriftstellernden Anfängers, dem Leser sein Privatleben aufzudrängen und in seinem ersten Roman sich selbst oder einen Stellvertreter auftreten zu lassen, rührt weniger von der Anziehungskraft einer fertigen Handlung her, als vielmehr von der Erleichterung, erst einmal sich selber loszuwerden, um dann zu Besserem fortzuschreiten. Das ist eine der sehr wenigen Regeln, die ich akzeptiere.
Maschenka (Vorwort), 7/8
(Dtsch. v. Klaus Birkenhauer)
Doch vorher schon – in der Arbeit an Erinnerung, sprich – war ihm etwas höchst Interessantes aufgefallen, nämlich
als ich das Kapitel Zwölf (…) schrieb; und nun (…) bin ich fasziniert davon, daß trotz der darübergelegten Erfindungen (…) in der Romantisierung ein kräftigerer Extrakt persönlicher Realität enthalten ist als im skrupelhaft getreulichen Bericht des Autobiographen.
Maschenka (Vorwort), 8
Dieses „skrupelhaft getreulich“ dürfen wir allerdings als einen nicht ganz wiewohl berechtigt uneitlen Selbstflirt betrachten, insofern Eigner mit seinem Wort von der „Autobiografie in Romanform“ recht hat. Und umgekehrt dürfen wir jetzt etwas annehmen, das Nabokov ausgesprochen heftig stets abgewehrt hat: daß wir die Romane auch als mit autobiografischen Details versehen lesen können. Was uns nicht wunder nimmt, denn woher bezieht ein Dichter sein Wissen, ja seine Bilder, wenn nicht aus dem, was ihn geprägt hat? Er verstellt die Erscheinung, aber kaum mehr. Und selbst Maschenkas Motto, klar, von → Puschkin, weist in diese Richtung:
Gedenkend der Wirrungen früherer Jahre,
gedenkend einer früheren Liebe.
Da der kleine Roman im Berliner russischen Emigrantenmileu begonnen und auch abgeschlossen wurde darin, erzählt er – wie fast alle auf Russisch geschriebenen Texte Nabokovs – genau aus diesem heraus, nämlich von dem jungen Lew Glebowitsch Ganin, dessen Name sich auf Nabokovs zur damaligen Zeit verwendetes Autorenpseudonym W. Sirin ziemlich gut reimt, und der sich mit fünf, eigentlich sechs weiteren Russen in eine Pension teilt; „eigentlich“, weil in Zimmer 6
zwei Ballettänzer (wohnten), Kolin und Gornozwetow, die nur zu gerne jungmädchenhaft kicherten und beide mager waren, sich die Nasen puderten und muskulöse Oberschenkel hatten.
Maschenka, 18
Er hat eine seinerseits bereits abgekühlte Beziehung mit Ludmilla, die aber keineswegs kühl ist und ihrerseits mit der jungen und, schreibt Nabokov „vollbusigen“ Klara befreundet ist, die ebenfalls in der Pension lebt und Ludmilla als quasi Postillonesse d’amour dient, jedenfalls immer wieder auf Ganin eindrückt, zur Freundin freundlicher zu sein. Dem sie aber, der Wahrheit zur Unehre, längst nichts mehr als lästig ist — vor allem, seit er von dem ältlichen Alexej Alferoff erfahren hat, daß dieser seine junge Frau erwarte und er, Ganin, sich dem Umstand stellen muß, daß sie eben jene große Liebe seiner Jugend, Maschenka nämlich, ist, jedenfalls sei. Denn zwar füllt ihn nun vier Tage lange die Erinnerung an sie bis ins seligst schmerzvollste aus, aber als er sich schon entschlossen hat, sie vom Bahnhof abzuholen und derart mit Glück zu überschütten, daß sich von seelischer Gewalt sprechen ließ, und mit ihr, der nunmehr so Wehrlosen, daß sich von Entführung sprechen ließe, einfach abzuhauen — als er also so weit ist, verläßt er statt dessen alleine die Stadt, nämlich auf alle Zeit. Was aber eine indirekte Bosheit ist. Denn darauf, speziell: nach Paris zu ziehen, hat der alte, ebenfalls in der Pension lebende Dichter Podtjagin voll zitternder Sehnsucht gewartet, als ihn das Schicksal, das wir Leben nennen, niederstrecke, um aber noch einmal die Augen zu öffnen und einen
Momentlang fand sein Herz in dem Abgrund, in den er immer tiefer fiel, einen schwachen Halt. Da war noch so vieles, was er sagen wollte — daß er nun nie mehr nach Paris kommen und erst recht die Heimat nicht mehr wiedersehen würde, daß sein ganzes Leben stumpf und fruchtlos gewesen sei und daß er nicht wisse, warum er gelebt habe und warum er sterbe. Er rollte den Kopf zur Seite und sagte: „Sehen Sie – ohne jeden Paß.“ Ein Anflug von Heiterkeit verzog seine Lippen. Dann verlor sich sein Blick wieder, und abermals sog ihn der Abgrund hinunter, der Schmerz bohrte sich wie ein Keil in sein Herz — und Luft zu atmen schien eine unaussprechliche, unerreichbare Seligkeit zu sein.
Maschenka, 149
Abgesehen von dem „wie ein Keil in sein Herz“ ist hier mich fast einschüchtern deutlich, wie fertig ausgeprägt der Stilist Nabokov als junger Mann schon war. Es gibt quasi nirgends eine jener Ungelenkheiten, die doch Erstlinkswerken fast durchweg anhaften und da auch verzeihlich sind. Dieses „verzeihlich“ kann auf Nabokov von allem mir bekannten Beginn an überhaupt keine Anwendung finden — ein → Ligeti sei er, dachte ich eben, der Sprache, auch wenn die Meisterschaft der Konstruktion von Roman erst später ihre reife Ausprägung findet. Wobei freilich der deutschen Übersetzung Nabokovs eigene aus dem Russischen zugrundeliegt und er sehr gerne während solcher Anlässe einiges mit Zweiter Hand deutlich zu verändern pflegte (im Fall des Romans „Gelächter im Dunkel“ sogar derartig daß Rowohlt in die großen Ausgabe beide Fassungen aufnahm — als „Camera obscura“ die erste in der frühen Übersetzung aus dem Russischen; es handele sich in gewissem Sinn um tatsächlich, schreibt der Verlag, quasi zwei Romane). Dennoch verblüfft dieser sein allererster Roman quasi unentwegt:
so küßte er ohne Leidenschaft das lackierte Gummi ihrer dargebotenen Lippen (16) — Es wäre direkt eine Sünde, einem Mann wie ihm nicht untreu zu sein (32) — Wer sich rasiert, wird jeden Morgen einen Tag jünger (48) — Er war ein Gott, der eine untergegangene Welt noch einmal erschuf (55) — Im Haus war es kühl, nur hier und da zogen sich Sonnenschals über den Boden (56) — Sie sprachen wenig – es war zu dunkel zum Sprechen (100) — mit einer Bewegung wie von Gespensterschultern, die eine Last abschütteln, schoben sich schwellende Berge von Rauch in die Höhe und löschten den Nachthimmel aus (131) — die leeren weißen Ärmel der Scheinwerfer (138)
Dazu die Erzählertricks:
daß sie Maschenka hieß, wunderte ihn gar nicht; ihm war, als hätte er das schon vorher gewußt.
Maschenka, 75
Na klar, denn schon dreißig Seiten davor wurde genau das erzählt, nur daß wir es da ebenso wenig bemerkten wie Ganin, und erkennen die Tatsache nun als eine Erinnerung. So denn auch die fast fieberhafte Konkretheit, der fünf ihm von Maschenka gelassenen Briefe, die er
in Händen [hielt]. Draußen war es jetzt ganz dunkel. Die Beschläge seiner Koffer glänzten. In dem öden Zimmer roch es ein wenig nach Staub.
Maschenka, 130
Das „Wesen“ der Briefe, daß nämlich sie und die in ihnen erklärte Liebe etwas Vergangenes sind, wird zu Geruch,
aber wir wissen ja, unser Gedächtnis kann fast alles wiedererstehen lassen, nur Gerüche nicht, obwohl die Vergangenheit durch nichts so vollkommen wieder auflebt wie durch einen Geruch […].
Maschenka, 90
Die Stellen auf dieser Seite 90 und der vierzig Seiten später sind im Innersten verbunden; auch dies aber etwas, das wir nachher erst begreifen oder doch zumindest spüren. Die Maschenka von früher wird es nicht mehr geben, sie wird Frau und sowieso, vielleicht nicht nur für uns, eine andere geworden sein. Ganins innerer Abschied bereitet sich vor, ohne daß er es merkt. Und dann sitzt geht der junge Mann zum Bahnhof,
ließ die vollgestopften Koffer sachte schwingen und überlegte, daß er sich schon lange nicht mehr so gesund, kräftig und unternehmungslustig gefühlt hatte. Und der Umstand, daß er mit einem Male alles mit neuen, liebenden Augen betrachtete — die Karren auf dem Weg zum Markt, die zarten, erst halb entfalteten Blätter, die bunten Plakate, die ein Mann mit einer großen Schürze rund um einen Kiosk aufhängte — gerade das war für ihn eine geheime Wende, ein Erwachen.
Maschenka, 153
Und für uns, verehrte Freundin, wenn Ganin den Zug besteigt und drin einnickt, der Sirenengesang der Verführung, gleich noch einmal in → König, Dame, Bube zu schauen, einen Roman, der in der Eisenbahn immerhin beginnt und mit einem, der davonfährt:
Feierlich fahren die Häuser, die Gardinen knattern in den offenen Fenstern, der Fußboden knarrt, die Wände stöhnen, die Möbel zittern von den immer häufiger werdenden Stößen — immer schneller, immer geheimnisvoller fahren die Häuser, der Platz, die Gassen … .
Bube, Dame, König, 153
(Dtsch. v. Siegfried von Vegsack)
Und für uns, verehrte Freundin,
Ihr
ANH
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Die frühen Nabokov Romane hatte ich mir 2018 alle zur erneuten Lektüre vorgenommen, innerhalb von 4-5 Wochen alle nacheinander. Danach war ich dann allerdings auch erstmal bedient. Im Grunde schreibt Vladimir Nabokov wie ein Gott, der die Welt der Menschen als eine Versuchsanordnung betrachtet und ihr törichtes Gewusel teils mit liebevoller, teils böser Ironie kommentiert. Man kann das genießen, man kann aber auch begreifen, dass man in seinen Augen wohl die meiste Zeit der Adressat dieser Ironie ist und die Figuren seiner Romane nur stellvertretend für uns alle stehen. Wollte ich Nabokovs Figuren mit einem Satz beschreiben, so würde ich sagen: Die Insassen begreifen ihr Gefängnis nicht.
Aber in Maschenka ist es ja gerade so, daß Ganin aus dem, sagen wir, Gefängnis der Erinnerung ausbricht. Er holt Maschenka nicht vom Bahnhof ab, versucht nicht, sie zu bewegen, mit ihm das Weite zu suchen, sondern er sucht es allein. Auch ist das Ironische bei Nabokov zwar meistens gegenwärtig, doch durchaus auch gebrochen. Was sehr früh zu spüren ist, ist eine allgemeine Distanz, eine der, meine ich, privilegierten Herkunft. Nabokovs Erinnerung und Sehnsucht richten sich ja keineswegs auf die darbenden Elenden und die ökonomisch furchtbaren Umstände ihres Lebens. Und was das Unheil anbelangt, mit dem er – soweit es sich in seinen frühen Büchern ausspricht – persönlich zu tun hatte, hat er tatsächlich die Haltung des → Grafen Godoitis:
Nabokov läuft eben nicht – also seine Romane tun es nicht – im Nachthemd auf die Straße, aber viele der Personen in ihnen tun es. Genau dieses Verhältnis ist dem Mann als Arroganz ausgelegt worden. Dennoch ist seine, ich schreibe mal, darstellende Erbarmunslosigkeit meistens – voller Erbarmen. (Eine Ausnahme bildet seine Sicht auf „die“ Deutschen.)
Klar, stimmt, Ganin geht am Ende nicht Maschenka abholen. Aber das wäre dann ja auch ein misslungenes Romanende gewesen.
Die privilegierte Herkunft ist der entscheidende Punkt. Er steht qua Geburt schon immer in einer entscheidenden Distanz. Der Wiesbadener Philosoph Helmuth Plessner hat den Ursprung des menschlichen Bewusstseins in einer „Exzentrische Positionalität“ verortet. Man muss beiseitetreten können, um Bewusstsein zu entwickeln, auch von sich selbst. Nabokov ist mit diesem Bewusstsein gewissermaßen geboren worden. Darum konnte er die Menschen ‚im Nachthemd‘ sehen, während die Träger der Nachthemden nichtmal wussten, dass sie eines anhatten. Ich rechne ihm das nicht als Arroganz an, musste nach fünf Büchern am Stück nur erstmal eine größere Pause einlegen, um es weiter genießen zu können.
Übrigens ist er deshalb eigentlich erst in der „Ada“ auf seiner eigenen Höhe angekommen. „Fahles Feuer“ ist ein ganz anderer Fall, singulär in der gesamten Literatur. Aber darüber vielleicht bei anderer Gelegenheit.
Bei „Ada“ stimme ich komplett zu; hatte gerade eben darüber nachgedacht. Nabokov hat lange Zeit in klassizistischer ungeheurer Vollendung erzählt, aber keinen ästhetisch neuen Pfahl in die Erde gerammt – das gilt auch noch für Lolita. Es ändert sich tatsächlich mit Pale Fire (das, so vermute ich zur Zeit, genauso, wie es ist, direkt wegen der langjährigen Arbeit an dem riesigen → Onegin-Kommentar entstehen konnte) – und wird aber erst mit → Ada endgültig virulent. Erst dieses Buch, dann aber nachdrücklich, ist ein solcher ästhetische Pfahl, vergleichbar mit Musils Mann ohne Eigenschaften, Brochs Tod des Vergil und später William Gaddis‘ Fälschung der Welt oder Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow oder, hierzulande in letzter Zeit, → Christopher Eckers Fahlmann.
Stimme völlig zu, außer „Fahlmann“, den ich noch nicht kenne. Wobei Musils Buch Fragment blieb. Die anderen Großbauten der Romanwelt zum Glück nicht.
… nur daß im Fall des Mannes ohne Eigenschaften der Literaturtheorie das (bei mit – ohne Apparat und Anmerkungen – über 1800 Seiten meine Dünnruckausgabe allerdings besonders Bezeichnende) „Fragment“-als-solches zu einem poetologischen Kennzeichen der Moderne wurde, zusammen etwa mit Kafkas Das Schloß, Der Prozeß und Der Verschollene.
Ein „Festival der unvollendeten Werke“ sollte man mal veranstalten.
Übrigens habe ich das bei Kafka immer als Mangel empfunden. Bei Musil überhaupt nicht.
Klasse Idee! (Also nicht der Mangel.) – Wo? Wann?