Das Oster-, nämlich sechzehnte Coronojournal. Geschrieben für Sonntag & Montag, den 12. und 13. April 2020. Darinnen Nabokov lesen, 33: „Erinnerung, sprich“, 0.1 | „Ada oder Das Verlangen“, 0.1.

 

 

 

 

[Arbeitswohnung, 13.3., 10.45 Uhr]

So saß die Familie denn gestern beisammen, der große Sohn, die Zwillinge, लक्ष्मी und ich; alleine Sie, geliebte Freundin, fehlten und wären aber von allen begrüßt gewesen. Wir wissen freilich, und leben damit, weshalb es Ihnen, auch leiblich mit uns zu sein, nicht möglich. Doch hätten Sie die für einen Sonntagmorgen ausgesprochen belebten Straßen der für Prenzlauer Berge doch recht planen Trottoirs unter dem leuchtenden Hochfrühlingswetter sehen müssen, das sich heute nun wieder bewölkt hat. Doch ist’s ein leuchtendes Grau über Berlin, in das hinaufzuschauen heißt, die Augen zusammenzupetzen.
Ganz ohne Risiko war unser Frühstück nicht. Der große Sohn, ein unterdessen kräftiger, wohlgeformter junger Mann, jobbt in einer Eisdiele, लक्ष्मी arbeitet zweidreimal wöchentlich in einer Ärztinnenpraxis, wenngleich im hinteren Bürobereich, die wenigsten direkten Kontakte haben die Zwillinge und ich. Es ist eine Abwägungsfrage, die wir uns ständig auch stellen. Daß wir uns aber nicht in den Arm nehmen würden, wenigstens kurz, wäre indes unvorstellbar. Dabei hatten लक्ष्मी und ich dreivier Tage zuvor einen Streit gehabt, dessen Ursache hier nicht hingehört; es war aber Schweigen eingetreten danach. So war das Osterfrühstück auch „Vereltrung“; es sei dies als angemesseneres Wort für „Versöhnung“ erlaubt. Seltsam, daß wir auch „Vertöchtrung“ nicht kennen.
Hernach flanierte – ein nun rundum treffendes Wort – ich über den Helmi, aus dem die Sonnenwärme unsichtbar dampfte und dessen viele Bäume in flockigen Blüten stehen, zur Arbeitswohnung zurück und legte mich zur verspäteten Siesta. Doch als ich wieder aufstand, hielt mich der Frühling am Schreibtisch nicht. Sondern ich mußte erneut hinaus, wollte lesen im Licht.

Es ist auffällig, welch eine Scheu ich vor → ADA habe. An sich wäre dieser Roman nunmehr „dran“, insofern ich mir vorgenommen, meine Serie erst einmal auf Nabokovs belletristischen Bücher zu konzentrieren und alle anderen — meine Erzählung zum Bastardzeichen werde ich nachher zu schreiben beginnen — nunmehr hinter mir habe, was aber besser „in mir“ genannt wird. Dennoch, ich stieg auf die Couch („N“ befindet sich in meinem Wandregal ziemlich weit oben) und zog den Band heraus; ERINNERUNG, SPRICH wiederum lag schon seit vortags auf dem Mitteltisch bereit, die ersten dreißig Seiten schon gelesen – aber zu viele, dachte ich, persönliche, also biografische Angaben, um die Romane unbeeinflußt weiterzulesen. Ich möchte einfach ungesteuert die poetischen Arbeiten in mir aufnehmen, auch auf die Gefahr hin, zu „falschen“ Schlüssen zu kommen; doch ziehe ich nach wie vor die immanente Interpretation, wenn interpretiert werden denn muß, vor. Nur ist ADA schon durch- und durchgearbeitet, steckt voller Lesezettel mit draufgekritzelten Anmerkungen, ebenso sehen die Seiten aus, alles vom November/Dezember 2000 aus Indien, wo die damals hochschwangere लक्ष्मी und ich ungefähr sechs Wochen verbrachten; dann scheine ich die Lektüre unterbrochen, im Juli sie wieder aufgenommen und beendet zu haben. Entsprechend ist das Notat auf der Rückseite des Schmutztitels in Goa, sehr wahrscheinlich Palolem verfaßt worden:

Aus diesen meinen Handschriftshieroglyphen „übersetzt“, sagt sie:

bzgl. meines Europäerseins: Ich kehre – auf anderem Niveau – zu den Vorstellungen des „einfachen Touristen“ zurück & mag mich nicht mehr fremden Kulturen „anpassen“, d.h. sie adaptieren. Solche Mimikry ist anmaßend und bodenlos. (Erinnerung an die europäischen – deutschen – Bauchtänzerinnen während des Kultur-der-Nationen–Umzugs in Berlin im Sommer 2000.
→ Vielleicht einen Aufsatz hierüber schreiben.

Hab ich wohl nie getan, bzw. diese Idee erst fünfzehn Jahre später unbewußt wieder aufgenommen, als ich auf Mauritius „Im Blick eines Mädchens von allenfalls zwölf“ notierte, ein poetischer Text, der sich ausgearbeitet heute im zweiten Band meiner gesammelten Erzählungen findet.
Ich war damals, neben ADA, auch mit ganz anderem beschäftigt, schrieb, teils in einer zwischen zwei Palmen aufgespannten Hängematte, an BUENOS AIRES.ANDERSWELT, das 2001 auch erschien, damals noch im Berlin Verlag. — Dies erklärt die Unterbrechung meiner Lektüre.
Wie auch immer, ADA ist, ich schrieb es Ihnen schon, wie eingeprägt in mir als ein Wunder geblieben, und genau das erklärt nun auch meine Scheu, die ich jetzt abermals empfand, als beide Bücher – sie und ERINNERUNG, SPRICH – vor mir auf dem Mitteltisch lagen und ich mich halt entscheiden mußte.
Es vergingen gewiß zehn Minuten, in denen ich nicht einmal blätterte, nur die beiden nach Umfang und Ausstattung sehr ähnlichen Bücher besah, meditationslos über sie hinaufmeditierend. Dann entschloß ich mich, bei dem „ursprünglichen“ Plan zu bleiben und also für ADA, zog schnell noch die Schuhe an (die gelben, der Sonne zu huldigen; einen Mantel brauchte man gestern nicht, nicht einmal den Schal mehr), schnappte das Buch und zog los. Doch als ich dann meinen Steinsimsplatz im quirlig belebten Thälmannpark eingenommen, erst da stellte ich fest, nun doch ERINNERUNG, SPRICH bei mir zu haben, mich schlichtweg vergriffen zu haben. Und las siebzig Seiten durch, nach denen mir klar war, es wieder unterbrechen und nun tatsächlich ADA mir vornehmen zu müssen. Womit ich nun morgen beginnen will, wenn meine Besprechung des Bastardzeichens geschrieben und eingestellt sein wird. [Nachtrag, 19.4.: → Ist sie jetzt.]

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(Es gehört zum Charakter eines Literarischen Weblogs wie diesem, daß die Kategorien, denen Beiträge zugeordnet werden, nicht randscharf gegeneinander abgegrenzt sind, sondern sie verfließen ineinander. Für eine, wenn es sie denn geben wird – Arco spielt bereits mit dem Gedanken daran –, Buchfassung meiner Nabokovserie, wird dies geändert werden müssen. — Diese Bemerkung ist für eine der ästhetischen Diskussionen wichtig, wie ich sie soeben wieder, → dort nämlich, mit Peter H. Gogolin geführt habe.)

Etwas weiteres war wichtig.
Der Ton für die Béarts ist zurück, jedenfalls ein Ton wieder, der für die gegenwärtige Situation angemessen ist und tatsächlich ins Hymnische neu hinaufführen könnte, das diesen Zyklus grundiert. Auch wenn das „zurück“ jetzt Zurückschauen werden mag, in ein Verlorenes und vielleicht tatsächlich niemals Wiederkehrendes. Ich habe diese, so empfinde ich es, Kippe gestern → im Entwurf eingestellt, nach wirklich tagelangem Hin- und Herwenden der immer wieder abgebrochenen, immer wieder stockenden Skizzen zu dem zweiunddreißigsten Gedicht. Jetzt, dort wo unten in den Klammern die drei Pünktchen stehen, kann ich auf das blicken und im Klang einer, ja, jubelnden Klage Welt erneut besingen, was danach vielleicht, in der abschließenden No XXXIII, noch einmal Utopie werden wird. Denn Elegien hab ich → schon geschrieben; das wollte ich nie wiederholen, wie ich ohnedies Autorinnen und Autoren nicht mag, deren Bücher sich permanent gleichen. Der Stil freilich, wenn sie einen haben, wird als maniera erkennbar sein, ohne aber Manier zu sein. Rollenprosa unterläuft sie zum Beispiel, und gerade Nabokov führt uns vor, wie differenzierbar selbst auktoriales Erzählen sein kann. Bisweilen frappant, wie er seinen Klassizismus unversehens in ein Ich fallen läßt, von dem wir gar nicht sagen können, wer es ist, der oder die da von sich spricht.

Zu Corona, noch einmal, ist ein Papier viral gegangen, das eigentlich Verschlußsache bleiben sollte. Sie finden es, Geliebte, → dort. Wobei man mit ein bißchen mathematischem Verstand drauf selbst hätte kommen können und nicht selten gekommen auch ist. Ich wiederum kehre auch deshalb zu der naturphilosophischen Spekulation wieder und wieder zurück, daß wir es mit einem selbstregulativen Prozeß zu tun haben, wieviel an teils heftigem Widerspruch, teils sogar Beschimpfungen ich → für meinen Gedanken auch immer habe einstecken müssen, was bekanntlich bis zum Vorwurf reichte, daß ich faschistoid sei. Meine Repliken finden sich in den Kommentaren, teils nochmals ausgeführt in den folgenden Arbeitsjournalen.
Zur Selbstregulation gehört möglicherweise auch Gleichzeitigkeit: Nabokov lesen steht neben Corona, ist in sie eingewirkt wie das Osterfrühstück und irgendein Liebesbrief, der Sie, Geliebte, vielleicht dieser Tage erreicht, und wie der Sonnenschein gestern und das Erblühen der Zweige in die Einsamkeit der Alten hinein, die in den Heimen bangen, und steht ebenso gleich neben der Anstrengung der Ärztinnen und Ärzte auf den Covidstationen und daß es in einigen Ländern längst schon so ist, daß niemand mehr weiß, wohin mit den Leichen. Und doch schwebt ein flirtender Blick von einer jungen Dame zu einem jungen Mann im Park, und immer noch wählen wir morgens den Chic, ohne zu wissen, ob wir denn im Dezember noch Einkünfte haben. Scheinbar Beliebiges wird unversehens zum Ausdruck von Kultur, kehrt zu ihm, möcht ich fast sagen, zurück. Und ich … ich schreibe Erzählungen ins Netz, die vielleicht wie Sonden sind, die wir ins völlig Leere des Weltalls schicken, über Tausende Lichtjahre hin, die wir selbst, was wir auch wissen, erleben gar nicht können. Und doch fällt einem ein Musikstück ein, daß vor 217 Jahren entstanden und dessen Schöpfer längst nicht mehr ist, und wir legen die Platte auf, erst die Aufnahme unter Konwitschny, setzen uns in den Musikstuhl und lauschen, und dann noch einmal die härtere unter Norrington – ein und eine dreiviertel Stunde lang. Auch das ist ein Wunder. Wir haben die Augen geschlossen, nippen nur hin und wieder Eierlikör aus dem Gläschen, weil zu Ostern → unsere Großmütter sowas immer bereitet haben, ein klebriges, schwer süßes Zeug, das uns seltsam selig macht.
Aber weshalb wir auf Beethoven kamen? Sicher auch, weil er in Nabokovs Bastardzeichen nicht nur mehrmals erwähnt wird, sondern für einen Charakter steht, nur sein Portrait allerdings, das den Bullenkopf zeigt, der Adam Krugs so ähnele, dem, man weiß nicht, ob naiven, ob nur allzu trotzigen Helden, dessen „allzu“ für eben das steht, was Bonaparte, als er Goethes ansichtig wurde, habe ausrufen lassen: „Voilà, un homme!“ Wozu uns gleich wieder zweierlei einfällt: zum einen der Spott einer Geliebten, als sie auf der Unterbauchlitze meiner engen Boxershorts hervorgehoben „HOMME“ las (die gängige Firmenbezeichnung eines italienischen Herstellers maskuliner Unterwäsche) sowie daß Anthony Burgess eben dieser Sinfonie, es ist Beethovens Dritte, einen ganzen Roman gewidmet hat. Bekanntlich hatte der Komponist dieses große Musikwerk Napoleon Bonaparte gewidmet — Sinfonia eroica, composta per festeggiare il sovvenire d’un grand’Uomo —, indes erzürnt die Ehrung gestrichen, als sich der Korse die Kaiserkrone aufgesetzt. Ich ahne beinah körperlich, daß Nabokov eben das zur Charakterisierung seines Helden im Kopf gehabt hat, nur daß sich seine, Adam Krugs, Erzürnung nicht in einer solchen, sondern in nicht ernst nehmender Abfälligkeit zeigt — mit den furchtbaren Folgen, die ich in meiner Besprechung nacherzählen werde. An die ich mich gleich setzen will. Doch stehen noch zuvor, aus → Herzensbildung, einige Anrufe zu tätigen aus.

Ihr ANH

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