[Arbeitswohnung, 9.01 Uhr
Schostakovitsch, Zweites Cellokonzert (Sol Gabetta)]
Das erste Mal, daß ich wegen der Chemo das Gefühl einer leichten Überforderung hatte; dieser dritte Zyklus ist deutlich stärker spürbar, doch, was es problematisch macht, unkonturiert. Seit gestern mittag begann der Kreislauf zu streiken; nie als wirkliches Warnzeichen, doch so, daß ich mich legen muß und das auch mehrfach tat, jeweils mit den Kopfhörern über den Ohren und entspannt dann eine/anderthalb Stunden lauschend. Was freilich meine Arbeit nicht voranbringt. Dennoch habe ich es fertigbekommen, der Lektorin das erste Béartgedicht schon mal einzusprechen und ihr das Tonfile zu schicken. Das werde ich jetzt jeden Tag so machen, also jeden Tag eines. Und dazu arbeite ich, zähe, aber entschieden, an dem Finaltext weiter, der sich aber noch nicht fügt, als könnte er sich nicht entscheiden, wohin er tatsächlich will. Ich fühle mich somit in etwas ein, oder versuche es, das es noch gar nicht gibt.
Jedenfalls der Kreislauf. Vielleicht liegt’s auch am Wetterumschwung. Gestern abend war ich bereits um 21 Uhr derart müde, daß ich um 21.30 zu Bett ging und tatsächlich, abgesehen von einem kurzen Nachterwachen um halb zwei, bis morgens um Viertel nach sieben durchschlief — nun allerdings, vorhin, nicht unbeschwert wie fast sämtliche Tage vorher erwachte, sondern erstmals seit Beginn der Chemo war mir richtig schlecht. Es half auch nichts, sich zur Seite zu drehen. Ich spielte tatsächlich mit dem Gedanken, einen Blauen Fisch einzuwerfen, doch widerstand, brauchte das Gefühl eigenen Willens – und bekam die Übelkeit tatsächlich mit ihm weg … fast: im Hintergrund grummelt es, doch aushaltbar, weiter.
Dazu die ständig, jetzt schon tagsüber, geschwollenen Füße, für mich vor allem ein ästhetisches Problem. Doch das ständige Kribbeln nervt, weil es der Fußsohlen Tastwahrnehmungen so sehr einschränkt, daß die Trittsicherheit nicht völlig gegeben ist. Ich merke es beim Spazierengehen, wenn ich wie ein Beschwipster „die Spur nicht halten“ kann, unversehens nach recht oder links abdrifte, ohne daß dem eine Entscheidung vorausgegangen wäre. Tatsächlicher Hintergrund sind mögliche Nervenschädigungen durch eines des Zytostatica, die sogenannte Neuropathie.
Wie nun auch immer, wenn ich die Chemos bislang vergleichsweise locker an mir runterlaufen lassen konnte, dreht sich da grad was. Es macht sich nicht so sehr speziell bemerkbar, Füße, Übelkeit, Nasenbluten, als mehr als Gefühl einer allgemeinen und grundsätzlichen Schwächung, der mein wieder deutlich zurückgegangener Appetit entspricht: seit vorgestern von den guten knapp 74 kg wieder auf 72,6 runter. Auch „Schwächung“ ist eigentlich falsch ausgedrückt, präziser wäre: Weichung, Erweichung der wahrgenommenen Außenkonturen: Ich lege die Hand an eine Wand an, die sich aber wie eine Stoffdecke anfühlt – als ob ich die Wand nach innen eindrücken, sie wie ein Marshmallow durchdrücken könnte. So dann auch manchmal ein leichter Schwindel, der nicht mit Übelkeit verbunden ist, sondern bloß die momentane Balance gefährdet. Man kippt nicht gleich um, bewahre, doch spürt, daß so etwas in den Bereich des Möglichen eindringt … geschehen könnte eines Tags, und dies aber bereits wird schon als Gegenwart erlebt. Und wieder lege ich mich auf mein Lager, in die Musiken versunken, die Lider geschlossen, völlig entspannt, nein, ausgegossen, ein Wasser ohne Flußbett. Es ist dabei heller Tag. Ein schwüler Tag. Der Himmel jetzt einmal bedeckt, seit gestern, vorgestern schon, dazu die hohe Luftfeuchtigkeit, die mir aber ebenso guttut wie sie meine Körperempfindung weiter und weiter aufweicht. Es ist durchaus anspruchsvoll, hiergegen den Arbeitswillen aufrecht zu erhalten, der ein notwendigerweise stets konturierter ist und selbst konturieren muß. → In der Wüste fällt das leichter als am „realen“ Schreibtisch — weil sie fordert und nicht „nur“ das eigene Mögen oder Wollen.
Also sollte ich, bevor ich hier weiter vor mich hinsinniere, schnellstens wieder → auf mein Rih. Es ist eine nicht ungeschickte Strategie, innere Prozesse nach außen zu projezieren, sie dort dann aufzulösen und als gelöste wieder in sich hineinzunehmen, eine imgrunde dem mathematischen Vorgang des Ausklammerns analoge Strategie. Ausklammern also, um zu objektivieren: In uns selbst haben wir keine Distanz, die es erlaubte, das Skalpell auch anzusetzen.
Am, nun jà, „schlimmsten“ ist aber diese Dauermüdigkeit, die ich – wiewohl mir beizeiten prophezeit – jetzt erst, in dieser dritten Phase, zu spüren bekomme. Sie erwischt mich auf der Hinterhand, und entwischen – wenn – kann ich ihr einzig in der Nefud. Denn dabei gibt es → keinen Trick. Und ich habe so gut wie keinen Bartwuchs mehr, sehr irritierend für jemanden, der sich, bevor er abends ausgeht, in aller Regel ein zweites Mal rasieren muß. Es ist sogar so, daß mein üblicher Dreitagebart — ausfällt: deutlich sichtbar in der Mulde zwischen Kinn und Unterlippe. Immerhin, noch halten sich die Augenbrauen.
ANH, 10.24 Uhr
Schostakovitsch,Cellosonate d-moll (Rostropovitsch, Schostakovitsch)
Wichtig, diese angewandten Texte zwischendurch. Über die Jahre hab‘ ich immer wieder erlebt, dass Dschungelgäste glaubten, hier sei nahezu alles Fiktion – oder zumindest fiktionalisiert.
Doch leider, verd…, die Tumorin könnte realer nicht sein.
Interessant, liebe Phyllis Kiehl, „angewandte Texe“ … wie Angewandte Kunst, etwas, auf das wahrscheinlich nur eine Bildende Künstlerin kommen kann: Krebs als zu gestaltender Alltagsgegenstand, was die Tumorin zwar verletzen wird (sie ist ausgesprochen, so mein Eindruck, eitel), ihr aber einen derart pragmatischen Ort gibt, daß man seine Zielrichtung beinahe mit der der Namensgebung gleichsetzen könnte.