Das Arbeitsjournal des 2. Novembers 2020. Rückblick: START im virtuellen Raum. Schreibkompetenzen I (2)

[Arbeitswohnung, 8.30 Uhr
György Kurtág, Jelek, Játékok és Üzenetek für Bratsche (1989 – 2oo5)]
Nachher also der Gang zum Chirurgen, der sich den Narbenbruch ansehen will und wahrscheinlich gleich einen OP-Termin anberaumen wird, schon um coronabedingt möglichen Engpässen zuvorzukommen. Den richtigen Schreck aber bekam ich heute früh — seit etwa sechs Uhr sitz ich am Schreibtisch —, als ich von der allgemeinen Ausgangssperre las, die über Österreich verhängt worden ist. Mit mich identifizierendem Entsetzen denke ich an meine Lektorin, meinen Wiener Arco-Verleger und die Innsbrucker Freunde. Als wär es mit dem „Lockdown“ hier nicht schon schlimm genug.
Ich werde das Gespür nicht los, mein Instinkt rebelliert geradezu, daß ich eine Normalisierung der Umgangsweisen nicht mehr erleben werde, und zwar, obwohl ich wieder sehr, sehr alt werden will; mein Cardiomeß’chen im iPhone prognostizierte gestern 93, was immerhin drei Jahre mehr als die Lebensspanne Sean Connerys wären, der gestern, las ich ebenfalls vorhin, starb. Vielmehr sagt mein Instinkt, daß wir uns alle zu Monaden werden foemen müssen, die nur noch ohne Körper kommunizieren, und wenn wir unsre Gesichter sehen, werden wir nie sicher sein können, daß sie nicht elektronisch hergestellt worden sind oder sogar tatsächlich einem Roboter, einer Roboterin zugehören (einem programmierten „Arbeiter“ also, einer programmierten „Arbeiterin“). Oder wir sind nur dann sicher, wenn etwas Störendes hinzutritt — wie an diesem Wochenende immer und immer wieder, wenn den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Seminars das Netz zusammenbrach, oft vor allem deswegen, weil ja daheim gearbeitet wurde, wo wochenends aber alle Familienmitglieder zugegen sind, vor allem in Coronazeiten, und alle gehen zugleich ins Netz, und sei es nur, um zu streamen. Oder es wird in den Nachbarzimmern derart laut gesprochen und auch telefoniert, daß es die Seminararbeit extrem stört. In der Tat hatten wir mit so etwas sehr zu kämpfen; da half es auch wenig, irgendwann drauf zu verzichten, sich anzusehen, indem man die (viel Netzkapazität ziehende) Videofunktion ausschaltete. Aber selbst mit dem Ton hatten wir oft Schwierigkeiten. Hinzu kam eine gewisse Scheu der Seminaristinnen und Seminaristen vor den Laptops; sie mögen, war mein Eindruck, ihr Smartphone alle lieber — nur daß sich darauf nicht wirklich gut Texte verfassen lassen. In einem Fall gingen wir da den Umweg über die Email, das heißt, gesprochen wurde im iPad parallel, so daß ich hier in der Arbeitswohnung mit drei Bildschirmen beschäftigt war und mich durchaus an meine Brokerzeit erinnert fühlte, in der ich immer mal wieder mit vier Telefonen zugleich balancierte … keine Ahnung mehr, wo und wie ich sie zum Sprechen unters Kinn und zwischen Wange und Schulter eingeklemmt habe. Irgendwie ging es, muß ja gegangen sein, so.
Dennoch, bei all diesen Unbillen, kamen einige bemerkenswerte Texte heraus, und wären nicht die dauernden technischen Schwierigkeiten gewesen, ich hätte allmählich großen Spaß an dieser Art des Lehrens bekommen— einfach, weil ich hier am eigenen Schreibtisch, meinem sowohl realen wie virtuelle  Cockpit also, unmittelbar auf alle nur denkbaren Medien zurückgreifen und sie übermitteln kann, etwas, das in realen, ich sage einmal: Klassenzimmern nicht einmal denkbar ist, schon aus Gründen des Urheberrechts. Jedenfalls hatte ich unterm Strich den Eindruck, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien denn doch recht zufrieden und sogar darüber ein wenig überrascht gewesen, wie gut solch ein Seminar auch virtuell läuft. So kam es dann auch zu diesem Abschluß-Gruppenfoto noch:

***

So, muß mich für den Arzttermin fertig machen.

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