[Arbeitswohnung, 6.44 Uhr
Keith Jarrett, The Köln Concert (1975)
Als ich einundzwanzig war, ein Jahr jünger
als heut → mein Sohn)]
Ich hab sie noch, die erste, selbstverständlich auf Vinyl, Pressung des Konzertes, dieses wie auch die-Platte-dann längst eine Legende:
Tatsächlich siebenundvierzig Jahre ist sie jetzt alt. Siebenundvierzig Jahre lang Teil meiner Sammlung. Und hören Sie sich, Freundin, einmal an, was sie durch meine ProAcs k a n n | und durch den Linn. Daß sie paar Kratzer hat, spielt da keine Rolle. Es ist, als säßen Sie in dem Flügel mitten drin – einem, → erzählt Wikipedia, „mäßigen Bösendorfer-Stutzflügel (…), der eigentlich nur für die Probenarbeit verwendet wurde und verstimmt war; zudem hakten die Pedale und einige Tasten klemmten.“ Was deren improvisierender Gott kompositorische Kraft werden ließ. jede Wendung Schöpfung. Dem entsprechen die Kratzer auf meiner Platte ja grade, so daß sich Technik und Jarretts selbst den, wenn’s ihn denn gäb, Himmel beglückende Fähigkeiten, die gleichermaßen der Zärtlichkeit wie gewaltigen Leidenschaft sind, für die deshalb meistverkaufte Jazzplatte aller Zeiten gleichsam noch einmal die Hand geben, weil hier ein Musiker, zum wahrscheinlich ersten Musikgeschichtemal, Orgasmen beim Spielen bekam (wenn, ward er mit ihnen gesegnet), Multiple Orgasmen, einen nach dem anderen, und sie sofort zum Leitmotiv machte, sie klangumfassend werden ließ – in „Echtzeit“, um’s profanierend auszudrücken, wir wollen ja nicht kitschig werden; denn das, es wäre ein Verrat. (Kitsch ist Verrat an den Markt, unsres innersten Intimen; deshalb hat das Wort im Privaten nichts zu suchen). — Nur ein Jahr vorher, in Terni, ist etwas Ähnliches zu hören, doch mit dieser sich auf jede und jeden, die und der zu hören versteht, vulkanisch übertragenden, weil fruchtbaren Gewalt noch nicht – die selbst auf die gewirkt hat, die es nicht verstanden und nur, sagen wir, ‚zufällig‘ dabeiwarn. Aber zu verstehen ist nicht schwer, die Melodik simpel; es sind Jarretts improvisierte Variationen, Legierungen und Modulationen, die selbst das gebildetste Ohr beglücken, wenn’s nicht sogar staunen muß. Was es quasi dauernd tut. Nur ein einziges Mal, glaube ich nach mehrfachem Neuhörn, patscht er in die Phrase eines ‚Standards‘, der die naiven Ohren beseelt, — und fängt sie für die feinen auf.
In derselben Zeit, übrigens, gab mir ein Freund Chopin zu hören, die Etüden, und zwar von Pollini gespielt. Er, der Freund, hörte sonst nur Beat. Und eben Jarrett. Rauf und runter dieses eine Konzert. Ich selber hörte, außer Mahler, fast nur Neue Musik, Arnold Schönberg, Alban Berg noch mehr und über Anton Webern Hans Otte, Karlheinz Stockhausen, Nono. Das war noch in Bremen – eine Stadt, die mich bis heute quasi verschweigt. So wichtig sie für mich gewesen. Selbst was ich, mit beinah siebenundsechzig und also zweiundvierzig Jahre später, → literarisch heute tue, wäre ohne sie nicht möglich. Ich muß Namen nennen, meiner Förderer damals, Herrn Schmidtkes vom Kultursenat (ich weiß seinen Vornamen nicht mehr, glaube „Thomas“, und nicht einmal, ob er noch lebt; Heddy Pross von Radio Bremen, der ich enorm zu danken habe; mit Ulla Hahn war’s dort für mich aus, die ich in den DSCHUNGELBLÄTTERn das schnellste Literaturhuhn des Literaturbetriebes nannte, was sie geliebt haben wird, diese, als DKP-Renegatin, Lieblingin Reich-Ranickis, des fürwahr entsetzlichen. Wie nun auch immer, daß ich Bremens – ich nannt‘ es: – Studienrätigkeit bis in ein Buch verachtet habe, nimmt die Stadt mir übel bis heute (wie über lange Zeit Lübeck Thomas Mann die Buddenbrooks). Das ändert sich vor meinem Tod wohl nicht. (Musikalisch lernte ich in Bremen auch Joni Mitchell lieben, was bis heute anhält, Andreas Werda sei Dank, doch nicht die fruchtbare, ich wiederhole es, Gewalt Keith Jarretts hat und nicht die gestoßne Zärtlichkeit des Mannes mit der kleinen Hand (→ Benn). Auch Wolfgang Gruber, den Jesuiten, der damals meinen Geist wie kaum ein zweiter forderte, und Martin Korol muß ich nennen, der seit einiger Zeit eine so ungute politische Kehre genommen, daß es mir bitter den Atem verschlägt, indessen er mich seinerzeit zu Arno Münster führte, dem ich meinen, als Autor, Nachnamen danke, nachdem er mich realisieren ließ, daß „du in Deutschland unter diesem furchtbaren Geburtsnamen niemals einen Roman wirst veröffentlichen können“. Das war 1980, etwa ein halbes Jahr, bevor ich nach Frankfurt am Main zog, die zweite Station meiner inneren Befreiung. Die letzte Phase hat möglicherweise jetzt erst, durch → Liligeia, begonnen. Ich mag, während als Lebensphasen selbst, die großen Lieben nicht vergessen, ihrer nicht eine einzige, die mich bis hier getragen haben. Es waren nicht wenige – fünf waren, und sie sind’s teils n o c h, gewaltig – , ich bin privilegiert — was mich heute befähigt zu fühlen, wie ich’s gestern Do schrieb:
Für mich am tollsten aber Adrian. (…) Es ist, als hätte ich den Stab im Staffellaufen weitergegeben. So daß gar nichts, gar nichts stirbt. Meine nun schon knapp zwei Jahre währende sexuelle Abstinenz ist wie von einer Gnade überleuchtet. Wirklich habe ich das Gefühl, gar nichts mehr selbst tun, geschweige beweisen zu müssen, sondern es wird getan, als ob ich’s selber täte.
Jarrett biegt mich in der Zeit zurück, ohne daß ich jünger würde. Ich regrediere nicht, im Gegenteil, sondern steh nun mitten im Gewesnen drin als aber reifer, fast schon alter Mann; sie legen sich aufeinander, ineinander, die Zeiten, und verschmelzen: mein Vorgestern und Gestern und das Heute und alles, was dazwischen; es ist dies, was es für die Überarbeitung der Verwirrung brauchte, und also Gnade a u c h.
Zumal. Wenn alles geht. Bleibt die Musik. — Dennoch, es wartet die poetische Arbeit.
Ihr ANH
P.S.: E s bleibt Musik.
(Es begibt sich. Es geschieht. Und es schreibt sich. Wir selber sind es n i e.)