[Geschrieben für Faustkultur, → dort erschienen am 7. 2. 2022] |
[Bild (Faustkultur) © : Thomas Aurin, Deutsche Oper Berlin] |
[Siehe auch → dort.]
Eine Urauführung? Jain. In jedem Fall die erste tatsächliche Bühnenrealisierung des, in der zweiten Fassung von 1930, Musiktheaterstücks – siebzig Jahre nach dem Tod seines Komponisten, der trotz enormer Produktivität lebenslang und, meist vergeblich, um Anerkennung rang. Ob allerdings sich dieses Amalgam aus Mysterien- und christlich-allegorischem „Erbauungs”- wie schließlichem Erlösungsspiel eine Oper nennen läßt – Vaughan Williams hieß sein „A Pilgrim’s Progress” A Morality – bleibt fraglich. Es gibt, sehen wir, wenn die sich überhaupt so fassen lassen, nicht wirklich handelnde Personae noch gar eine sich mit und zwischen ihnen geschehende Handlung; alle anderen Figuren bleiben eben das sowieso, Figuren, und zwar nicht einmal mythische, sondern mystischreligiöse „Erscheinungen”, die nichts als Statthalter sind von Prinzipien: nämlich „der Mißmut”, “die Lüge”, „der Haß” usw. und gar „die große Hure” – eine schwer misogyne christliche Denunziation der antiken Großen Mutter (die vor dem Christentum Dreieinigkeit war, an der es sich also – für sogar sein Zentralmysterium – „bedient” hat).
Solche Prinzipien, bzw. figürlichen Allegorien haben, schon als Unwandelbares, das sie sind, keine Psychologie, so daß sie Innenkonflikte nicht kennen. Für Inszenierungen ist das ein Problem; die dramaturgische Arbeit muß sich auf etwas anderes stützen, sich etwa von der Faktur der Partituren leiten lassen, von den Klangauren und Rhythmen, und Bilder für sie finden. Was Ersan Mondtag radikal gelingt. Wo indes Provokation und Erschrecken sich momentan erschöpft haben und nun Personenführung nötig würde, die aus eben genannten Gründen kaum möglich, gibt er sie quasi an ein Tanzensemble ab, das choreografisch seinerseits leider ebenfalls bloß allegorisch interpretiert. Manchmal gelingt das, doch oft auch nicht. Dann retardiert das Stück, und es kommt zu gefühlten Längen, schon weil nun unsrerseits-wir erst lang und breit interpretieren müßten. Wozu aber grade die Zeit nicht ist, wollen wir nicht wesentliche Klangstrukturen überhören. Was grade deshalb leider geschieht.
Dennoch, im nachhinein verblaßt der Eindruck des tänzerischen Aufderstelletretens, zu stark sind die exzessiven Bilder gewesen – sowohl des enormen Bühnenbilds wie vor allem der tatsächlich extremen Kostüme, die sämtliche Dastellerinnen und Darsteller, bis auf einen einzigen, den aber geschundenen Antichristen, wie ohne Rücksicht nackt, wenn auch mit Farben körperbemalt, den stierenden Publikumsblicken sich aussetzen lassen; man meint, das tatsächliche Schamhaar durchscheinen zu sehen, die wirklichen Brüste und Gesäße, und zwar brutal-gleich, ob etwa ein Chorsänger auch nur von ungefähr einem Ideal von Schönheit gleicht oder schmerzhaft weit von ihm entfernt, oder ob eine Chorsängerin, die eben einfach nicht mehr jung (welchen Mut sie alle zeigen, ich kann vor Hochachtung nur zittern) … – kurz: Nahezu von Anfang an rückt Mondtag die Sexualität, eine entgrenzt orgiastische, in die Mitte seiner Interpretation, einesteils plausibel, doch heikel andernteils. Zu nahe die Affirmation der monotheistischen Diffamierung fast alles Körperlichen. Darüber täuscht auch das „erlösende” Ende des Stücks nicht hinweg, zu dem sich die Antipoden einander umarmend unter dem riesigen quasi-Gekreuzigten versöhnen, der herab vom Schnürboden aber hängt; da er hier nicht nur-männlich ist, sondern ein Mann mit geradezu ideal, die Schamlippen nach innen gefaltet, gestalteter Vulva – wenn unter „ideal” der populäre Zeitgeschmack verstanden wird. Auch deshalb birgt sein, des Heilands, Erhängtsein ein gleich nächstes Heikles, nicht nur das Empfinden, Mondtag habe Konzessionen billig an LGBT gemacht oder gar Attacken „woker” Gesinnungsideologen zu vermeiden versucht. Darüber ließe es sich lächeln. Ich meine etwas anderes: Zu hängen, erhängt sein, fragt nach dem Henker. Mondtag schnibbelt in den Saal ein theologisches Problem, das, um geschnibbelt werden zu können, eigentlich zu schwer ist. Nur bezieht seine Inszenierung aus gerade dem ihre Kraft. Wir bekommen es mit unentwegten Ambivalenzen, auch auf Seiten, ich schreibe mal, GOttes und permanenten, nicht selten brachialen Faustschlägen in den Bauch unserer je eigenen Moralen zu tun.
Dafür bedient er sich – der zugleich Bühnbenbildner ist sowie, mit Annika Lu Hermann, auch für die Maske zeichnet – des Horrorgenres von Bosch bis ganz tief in die MARVELwelten, etwa Venom. Auch da ist feine Kunst der Darstellerführung kaum gefragt; die Figuren sind holzschnittartig ohne Holz – woraus in der Inzenierung, so faszinierend, beklemmend wie grandios, die Bildwelt immer auch ist (genial, daß ich zweimal – eine optische Täuschung – vermeinte, der bühnenhohe Höllenrauch komme immer, immer näher!) … woraus aber ebenfalls Längen entstehen, die einen nicht aus Gründen des Getroffenseins, sondern des unversehens unbequemen Sitzes wegen unruhig hin- und herrutschen lassen. Wobei ich gestern noch dachte, es liege vielleicht an der Musik; jedoch sagt mir mein heutiges unterdessen dreimal Nachhören etwas anderes.
So daß ich jetzt auf das Zentrum jeder musiktheatralen Inszenierung komme, nämlich die Musik.
Es ist, im Vergleich der einzigen → mir bis dato bekannten Einspielung, hinreißend, zu welchen – ein Widerspruch, ich weiß – rauschhaften wie präzisen Klangwelten – Stephan Zilias’, der die Premiere dirigierte, Einstudierung dieses Orchester sich hat hinreißen lassen, und dann den Chor gleich mit. Ich hätte ihm bloß das indirekte Zitat vom Schluß des berühmten Boulez-Parsifals (1970) erspart, aber das geht auf Mondtags Konto gewiß, und die Verbrüdrungs/Verschwestrungsszenerie unter dem hängenden Zwiegeschlechtsmessias stehen und vom Chor umgeben lassen. Daß freilich der den wunderschönen, von fremden Klangmassen nun ungestörten, geradezu neoklassizistisch fugierten Schlußchoral wunderschön auch singen mochte, und es tat, steht nach all dem Unheil für eine Hoffnung, die wir, ein Blick nach Rußland genügt, haben nicht können, doch brauchen wie zum Atmen die Luft. Das wurde auch gestern abend deutlich (dem 5. Februar; ich hatte zur eigentlichen Premiere nicht gekonnt, bin deshalb in die zweite Aufführung gegangen), als aus Mainz Hermann Bäumer für den anscheinend erkrankten Zilias ausgesprochen kurzfristig eingesprungen ist; denn dennoch blieb jegliches Glühen erhalten. Zu dem beim Schlußapplaus noch Bäumers derart bescheidenes Entgegennehmen der Ovationen hinzukam, daß sich Langgaards Gläubigkeit geradezu noch einmal, und nun in der Demut, manifestierte.
Langgaard war Synkretist (abstrakte Puristen würden es Eklektizismus nennen, Protestanten, wie zu seinen Zeiten in Dänemark, erst recht). Seine Musik, besonders diese des Antikrists, erinnert bisweilen ein bißchen an Wagner, dann wieder Richard Strauss, und drinnen blinkt auch Debussy. Aber nicht nur deren Ineinandergewirktsein macht den Charakter seiner Klangcollagen aus, sondern auch Neufindungen, die Langgaard kompositorisch Jahrzehnte voraussein lassen wie manchmal an Charles Ives erinnern, der freilich ihm vorausging und allerdings der sich erhebenden Moderne treu blieb. Langgaard indes fällt immer wieder in einen Romantizismus zurück, der seines kompositorisch Gewagten Mutterboden ist und aus einer eng mit der Theosophie verwandten Gläubigkeit stammt. Die wir schlucken müssen wie Bruckners kindlich lieben Gott. Wenn wir dies tun, und sei es nur für den Abend, werden wir beschenkt.
Gehen Sie hinein! – und sei es nur, um aus dem Himmel ein Taxi kotflügelabwärts stürzen zu sehn, das auf der Straße aufschlägt.
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Rued Langgaard
Antikrist
Musikalische Leitung: Hermann Bäumer
Inszenierung, Bühne: Ersan Mondtag
Kostüme: Ersan Mondtag, Annika Lu Hermann
Licht: Rainer Casper
Chöre: Jeremy Bines
Choreografie: Rob Fordeyn
Dramaturgie: Carolin Müller-Dohle
Tänzerinnen und Tänzer der Deutschen Oper Berlin
Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Stephan Zilias / Hermann Bäumer