[Arbeitswohnung, 6.46 Uhr
France musique contemporaine:
Théo Mérigau, „Hoquetus Animalis“ pour orgue
Erster Latte macchiato]
Auf seit Punkt 6, Orangen ausgepreßt (hab ich mir seit knapp zwei Monaten angewöhnt), den Latte machiato bereitet, Pfeifen gewechselt und geputzt, beginne ich den Tag mal wieder mit einem Arbeitsjournal; lange Jahre war es ja Usus, bis, hm, bis Corona kam? Ah, neue Nachrichten in meiner Warnapp … oh, der vierzehn Tage lang rot angezeigte Alarm, ich sei mit mindestens drei positiv getesteten Leuten mehr als eine Viertelstunde beisammengewesen und hätte demzufolge erhöhtes Ansteckungsrisiko, ist in die grüne Entwarnung übergegangen; beunruhigt war ich aber nie, schon weil ich jeden, bisweilen auch nur zweiten Tag den Antigentest mein Naseninnres kitzeln lasse; an der Stargarder 74 kennen die Mädchen und Jungens mich schon, die da ein feines Geld verdienen. Auch mein Sohn jobbt unterdessen in einer Teststation, weil der Stundenlohn so gut ist.
Neben der weiteren Überarbeitung der Verwirrung, wovon es morgen in Der Dschungel das mittlerweile achte Beispiel geben wird, und einiger Korrespondenz sowie neuerdings wieder mehr Prosa zur Musik übertrage ich täglich ein bis zwei Notate aus dem nunmehr alten Notizbücherl hierher; da ich jeweils unter dem Datum datiere, an dem die entspechende Augzeichnung niedergeschrieben wurde, werden Sie sie, Freundin, nie gleich sehen, sondern unter → NOTATE nachsuchen müssen, momentan noch im April 2018 — eine Mühe, der sich, wenn überhaupt jemand, nur wenige meiner Leserinnen und Leser unterziehen werden. Aber darauf kommt es nicht an; soweit ich dort Skizziertes nicht mehr werde umsetzen können, mag es als Teil des Nachlasses gelten. Ich selbst finde diese Beiträge übers ins Suchfeld eingegebene abgekürzte Wort „faks.“ schnell wieder, weil es sonst nirgendwo vorkommt, jedenfalls bislang. (Gleich bei der ersten zu übertragenden Eintragung konnte ich meine Handschrift nicht vollständig lesen. Also fotografierte ich sie ab und stellte → dort das Foto als quasi-Faksimile ein.)
(Ich muß mal die Musiksparte wechseln; in „Contemporaine“ wird mir heute morgen zu viel gequasselt. Schade. Aber gut, nunmehr Telemanns „Wer ist der, der von Edom kömmt“; auf Musiken des Barocks läßt mein Geist sich ähnlich gut wiegen; sie umhüllen das Imaginationsvermögen, ohne es zu stören, mit einer gleichsam Sonne aus Zuversicht. Was heute morgen, da erneut der Sturm tobt und der Amselhahn nicht singt, dem ich so gerne lausche in Früh, auch ziemlich nötig ist. Neue Musik hingegen stimmt mich meditativ.)
Aber was ich erzählen will
(es ist mir,
dem es noch letzte Woche passiert ist, daß eine Kassiererin ihm „Junger Mann, kommSe mal hierhin!“ zurief, und so immer mal wieder auch in anderen Zusammenhängen mit anderen Menschen geschah,
zum allerersten Mal widerfahren)
:
PENNY, später Mittag, gestern. Stehen sich zwei Herren gegenüber, beide mit Einkaufswagen, und der Durchgang ist eng. Jeder mag dem anderen den Vortritt, bzw,. die Vorfahrt lassen, mehrmals bedeutet der eine, bedeutet der andere, je mit leichter Verbeugung. Sagt der andere, er mag um die vierzig sein, zu mir: „Nein, Sie. Sie sind der sehr viel Ältere, ich bin der Jüngere, und also kann ich warten.“
Das war dann doch schon ein Erlebnis. Ich trug ja nun FFP2, da ist man eigentlich nie richtig zu erkennen. Lag es an meiner Körperhaltung? Stand es mir in den Augen?
Wie Sie, Freundin, lesen, beschäftigt es mich bis jetzt. Dennoch, nach dem Krebs: Unenttäuscht sein (auch dieses ein, aber neues, Notat). Es hat uns aus der Zeit katapultiert. Dann fiel mir ein möglicher neuer Roman ein (als ob ich neben den teils schon begonnenen, teils fast fertigen Typoskripten und längst beschlossenen Projekten für so etwas Zeit hätte!):
Der Nazi und die Jüdin
Idee, ein wirklich „gläubiger“ Nazioffizier verliebt sich in eine Jüdin, es überfällt ihn, eine Allegorie hat sich in ihn gestürzt. Ihr geht es ebenso. Beide sind restlos hilflos. Sie gehört in eine Gruppe zu Deportierender. Beide sind nicht nur verliebt, sondern lieben. So kommen sie gewissermaßen aus Haß zueinander. Keine Ahnung, wie das endet. Ob er überhaupt begreift, begreifen kann. Vielleicht versuchen sie zu flüchten, er, der ihr hilft, sie, die die Ihren nicht zurücklassen will, sich schuldig machen würde, obwohl alle Schuld auf seiner Seite und der aller seiner Mitnazis ist, und auf der der, ob aus Überzeugung oder Fucht, Mitläufer, also des quasi gesamten sich für „Arier“ haltenden Übermenschenvolkes, vom Universitätsprofessor bis zum Arbeiter hinunter.
Aufgezeichnet vielleicht von dem – ohne seine Eltern aufgewachsenen – Sohn der beiden, dessen Vater sich selbst gerichtet und dessen den Völkermördern entkommene Mutter das Kind gleich nach seiner Geburt weggegeben hat und nach Israel emigriert ist und die er, der Sohn, erst recherchieren mußte. Mit ihm ein Treffen lehnt sie ab. So muß er sich alles, so muß er die Wahrheit erfinden.
Eine ähnlich solche Geschiche hat meines Wissens bislang nur Pynchon erzählt: die Liebe des Nazioffiziers zu dem jüdischen Jungen Gottfried (gleich z w e i Tabus!) in Gravitys Rainbow, wobei es dort nur dieser ist, sich für den anderen zu opfern, und es im Cockpit der Rakete „00000“ dann auch tut.
Drauf gekommen bin ich aber sicherlich wegen der Verwirrungs-Überarbeitung, denn die Auseinandersetzung des Hauptprotagonisten Laupeyßer mit der Nazivergangenheit nicht nur seiner Vorfahren, sondern fast durchweg aller auch nur leicht älteren Mitbürger ist ein Kernthema des Buches, wie auch seine, Laupeyßers – ein junger Mann von, zum Zeitpunkt, da er seine Aufzeichnungen beginnt, kaum vierundzwanzig – rasende Unfähigkeit, mit alldem klarzukommen. Sie wird ihn dazu bringen, sich völlig verschwinden zu lassen: Er und eine Spiegelfigur lösen sich in einem Dritten auf, der allein es, auszubrechen nämlich, vermag.
[NACHTRAG, 22. Februar:
Siehe hierzu auch ausführlich → d o r t .]
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Noch etwas beschäftigt mich, ein fast unheimlicher Zusammenhang, der mir aber erst vor fünf Tagen klar wurde.
Daß mein Sohn neben dem Zeugnis seiner indischen Vorfahren den Namen Adrian bekam, ist selbstverständlich → Leverkühns Verdienst, auch wenn ich damals schon wußte, welch eine Bürde er, der Name, bedeuten könne. Aber man sieht ein Feuer und faßt rein. Es sollte nur bewußt geschehen.
Leverkühn war Komponist. Nun ist auch Adrian einer.
Da lief’s mir, Freundin, s c h o n über den Rücken, als das mir gegenwärtig wurde. Nomen fatum est.
Haben Sie einen guten Tag.
ANH
Wie gut ich verstehe, dass sogar (oder gerade) die ungehalten dahingerotzte Floskel „junger Mann“/“junge Frau“ Zauber wirkt. Ging mir vor wenigen Tagen so: ich, etwas in Gedanken die nicht sehr frequentierte Gipsstr. überquerend (unachtsam, da kein kommendes Auto im Ohr). Scharf bremsender Radfahrer, ca. Ende Dreißig, Anfang Vierzig, rotzt mich an: „bißchen gucken, junge Frau!“. Konnte ihm den zurechtweisenden Ton gar nicht übel nehmen. Ich hatte keine Maske auf, aber eine schwarze Sonnenbrille und wahrscheinlich eher jugendlich wirkende Boots an, restliche Kleidung eher altersunspezifisch. Hat mir innerlich einen Lift gegeben, so gedacht, das hätte er vielleicht doch anders formuliert, wenn er mich als 56einhalb identifiziert hätte… („aufpassen, Omma!“(?)) Dass mir das als bemerkenswert widerfuhr, heißt aber auch, dass so etwas selten passiert. Ich versuche an einer besseren, aufrechteren, dynamischeren Haltung zu arbeiten, die macht einen Riesenunterschied („aus dem Knick kommen…“)
P.S. Die Idee zu „Der Nazi und die Jüdin“ verursacht Gänsehaut.