[Arbeitswohnung, 15.40 Uhr]
Ans Arbeiten ist nicht zu denken; statt dessen von → Scholzens Regierungserklärung an die Parlamentsdebatte verfolgt – wobei es schon erbärmlich ist, daß die technische Ausstattung des Reichstagsgebäudes nicht nur keine störungsfreie live-Übertragung zuläßt, sondern die Störungen sich in permanenten Wiederholungen des bereits Gesagten und Gezeigten manifestieren, manchmal so, daß jemand denken könnte, hier werde mit Absicht geschnitten, und zwar durchaus nach rhetorischen Maximen. Außerdem erschrak ich, weil ich ausgerechnet Alice Weigel, einer, wenn nicht der AfD-Frau, in einem Punkt zustimmen mußte, was nämlich die Mitschuld des Westens, namentlich der NATO, an der Ukraine-Katastrophe anbelangt, ein Thema, um das sonst fast alle einen Riesenbogen des Nichthinsehens schlugen. Wobei die Frage nach eigener Schuld im Augenblick ziemlich unwichtig ist. Es mag Mitschuld sein, aber nicht ein Verbrechen, wie es diese russische Invasion ist. Putin hat sogar die Atomstreitkäfte in Bereitschaft versetzt – las ich im → Newsblog der ZEIT, der in meinem Arbeitscockpit dauerhaft auf dem linken großen Screen mitläuft. — Nein, an meine Arbeit ist nicht zu denken. Oder zu denken s c h o n, aber sie kommt mir müßig, ja objektiv ohne jedes Interesse vor, das jemand noch, selbst ich, an Laupeyßers Schicksal haben könnte. Es ist wohlfeil. Mein Roman ist zur Zeit komplett überflüssig, ein lächerlicher Luxus sichselbstfindender Sentimentalität.
Kurz auch überlegt, an der großen → Demonstration teilzunehmen, es aber schnell wieder verworfen und die Parlamentsdebatte gewählt. Ich brauche meine eigenen Gedanken, die ich nicht in skandierten, gar mitskandierten Massenchören untergehen lassen will, zumal mit ihnen, anders als in Rußland, für die Teilnehmer nicht der Pups einer Gefahr verbunden ist. Gut, es mag ein Zeichen der Solidarität für die Ukraine sein, aber mich wohlfühlen, weil ich mit so vielen „auf der richtigen Seite“ stehe, ist etwas, das ich ablehne. Für mich, bitte nicht mißverstehen; anderen Menschen ist, zu einer Gruppe zu gehören, die auch das Überich beruhigt, ganz sicher wesentlich. Für mich war es das nie und wird es auch nicht werden. Wär es indessen gefährlich, grad für jede und jeden persönlich, hätte ich mich anders entschieden und wäre gegangen. Vermute ich, weiß es aber nicht. Doch war, mich meiner Angst zu beugen, noch niemals meine Stärke. Egal.
Also Weidel. Furchtbares Erlebnis für mich. Die anderen Beiträger der AfD waren voraussagbar entsetzlich, da war ich wieder (etwas) beruhigt. Imponiert allerdings hat mir, als einzige Rede, Robert Habecks Ansprache (anklicken, dann können Sie sie hier anschauen):
S e h r imponiert, nicht nur, weil ich ihm so zustimme, sondern weil das Video zeigt, wie jemand gegen seine tiefste Überzeugung sie relativieren und ideologisch sogar umschwenken muß. Ich habe vor so etwas höchste Achtung. Sein Satz „Wir kommen aus dieser Sache mit sauberen Händen nicht mehr heraus“ wird Geschichte werden, ist es schon. W i e schmutzig sie werden könnten, zeigten einige Beiträge zur, inklusive wahrscheinlicher Wiedereinführung der Wehrpflicht, beschlossenen Aufrüstung der Bundeswehr (mit einem Fonds von 100 Mrd. €) … zeigten einige Beiträge, die mehr oder minder verdeckt auch mit atomarer Bewaffnung flirteten. Ich weiß, das Wort, „flirten“, ist unangemessen, sogar stillos, aber ich kann mein Erschrecken nur euphemistisch ertragen. Schlimm indessen war auch → Merz, um von Dobrindt, den ich deshalb nicht verlinke, am besten zu schweigen (Weidel verlinke ich trotz meiner teilweisen Zustimmung erst recht nicht. Der heutige Kotau der AfD vor einem Massen- und Völkermörder ist schlichtweg widerlich. Bei Markus Söder, den ich genauso wenig mag, wär Weidel besser aufgehoben und diente ihrer Wählerschaft mehr, als daß sie sie Observationsobjekte des Bundesverfassungsschutzes werden läßt.)
Wozu also momentan Dichtung? Meine Zweifel, Freundin, sind riesig. Die russische Armee kommt nur schleppend voran, die Ukrainer schlagen sie immer wieder, einstweilen, zurück. Aber eben „noch“. Deutschland unternimmt eine historische Kehre und liefert dem bedrohten Volk nun doch deutsche Waffen.
Ein Dammbruch nach dem anderen. Lindner, dessen Rede mäßig war, eher noch bürokratisch, bricht mit seinem versprochenen Sparkurs – eben für die Aufrüstung. Er kriegte den Stock nicht aus dem Arsch, der, jener, bis in den Hals hinaufstak. Und den hab ich gewählt! – Dagegen, in ihrer Leidenschaft sowohl an- wie berührend und beklemmend, Britta Haßelmann:
„Kiew ist von Berlin so weit entfernt wie Rom.“ Dringlicher läßt es sich nicht sagen. → Parallalie lebt in Amelia knapp neunzig Kilometer nördlich. Ich spüre zunehmend deutlich den Abgesang, der → die Béartgedichte sind, am Ende einer Ära. Doch das, was melancholisch war, ist nun angstbesetzt, und voll wutpraller Trauer. Es will sich die Utopie nicht erheben, die russischen Soldaten desertierten (eine Idee, auf die mein Arco-Verleger kam), alle, gemeinsam; sie bleibt am Boden, diese Utopie, und zittert da vor Lebensnot. So verschaffen sich die Körper doch wenigstens Wärme. Ihre russischen Mütter, die Väter daheim haben dieselbe Angst wie die ukrainischen. Und je deren Brüder, Schwestern, Freundinnen und Freunde. (Indem ich hier tippe, verlier ich ein bißchen meine Unruhe, die auch daher rührt, daß ich so vieles, in → Anderswelt, vor allem in Thetis, vorhersah. Unter anderen Vorzeichen freilich.)
[Unterbrechung: Videotelefonat mit der Löwin]
Alles in mir dreht sich um die Ukraine und letztlich um Europa, das ich derart liebe, und nun den grundsätzlichen Paradigmenwechsel nicht nur der deutschen Politik, sondern auch unseres deutschpolitischen Selbstverständnisses nach dem Zweiten Weltkrieg und deutscher Verantwortung: was sie bedeute. „Nie wieder Krieg!“ – dieses auch für mich unbedingte Manifest, das lebenslanges Bekenntnis war, wurde auch in der heutigen Parlamentsdebatte zu einer lächerlichen Maxime, die zu verhöhnen direkt zu spüren war, wie manche Redner es genossen. Fast spür ich sie, nur entsetzt, ganz genauso. Nicht die Spur billig Selbstbestätigtseins in mir – anders als in einigen Reden namentlich aus den Reihen der „christlichen“ Parteien. Sondern ich empfinde, was soeben geschieht, als einschneidender, ja gar nicht damit auch nur vergleichbar, als damals den → Nachrüstungsbeschluß, der Anlaß eines der wenigen Male war, daß ich an Demonstrationen teilnahm (und prompt verhaftet wurde). Damals habe ich noch gedacht, unsere Proteste würden etwas bewirken. Unterm Strich habe ich gelernt, daß gewaltfreie Demonstrationen zu gar nichts führen und solche mit Gewalt oft das Gegenteil dessen bewirken, was sie erreichen wollen. Die meisten Demonstrationen waren, nach meinem Erleben, Selbstfindungs und -bestätigungsakte. Auch deshalb ging ich heute nicht hin. In Rußland ist das anders; dort wird eigenes plötzlich-Verschwinden riskiert. Es ist das Gegenteil jeglichen Wohlfeilseins. Wobei wir, in einem noch derart gläubigen Land, die russisch-orthodoxe Kirche hinzudenken müssen, der, wer an der Macht ist, für von Gott dort hingesetzt gilt. (Deswegen das ukrainische → Schisma). In Rußland ist ziviler Ungehorsam auch innerhalb der eigenen Familien- und anderen Sozialgebilde stets blasphemisch Tabubruch. Hier hat man Joints danach geraucht, tut es vielleicht jetzt noch.
- Nichts, übrigens, gegen Joints. → Liligeia hat mich gelehrt, für THC recht dankbar zu sein, zumal es jetzt bei mir auch wirkt. Was jahrzehntelang nicht so war. Weshalb die Veränderung, darüber hat klug mein Sohn mich in Kenntnis gesetzt.
(Eigentlich eine Idee grad, im Döschen ist noch a bisserl. Doch nein, ich schieße mich jetzt nicht weg. Zumal ich grad gerne in der letzten Vorstellung von → Janáčeks Makropulos säße; da es mein drittes Mal wäre, hab ich nicht gefragt.
Musik ist Erlösung auf Zeit.)
Die Putin-Riege droht mit Atomwaffen, Jen Psaki kontert, dreiundzwanzig Minuten ist’s her: „Wir haben die Fähigkeit, uns zu verteidigen.“ Laut dem Bericht der ZEIT (in deren Übersetzung).
Der Schrecken wird Kalkül. In Deutschland ebenso – nicht dem vor ’45.
Letzte Nachricht, bevor ich dies hier erstmal beschließe: Auch Schweden liefert nun Waffen. Auch dort ist es ein Dammbruch. (Ein Problem dabei, wenn geschieht, was ich befürchtend → schon formulierte: Unterliegt die Ukraine dem Völkerrechtsverstoß, wie ich’s für wahrscheinlich halte (und wäre dankbar, sehr, würd ich eines dann wirklich Besseren belehrt), geht alles Material ins Eigentum des putinrussischen Großmachtstrebens über – daß dann ein „Streben“ nicht mehr ist.)
ANH
[19.06 Uhr]
Helmut Schulze
handschläge sind fatal, manchmal kommt man nicht darum herum, sobald einem ein anderer handschlag verweigert wird… man infiziert sich, notwendigerweise mit der verweigerung und auch mit einem ja… immerhin, daß das atompotential ins spiel kommt, das…
ANH
Ich hatte es n i c h t erwartet, jedenfalls gehofft, es käme nicht so, und es offenbar verdrängt. Aber nicht das ist der Schrecken, daß Putin so droht, sondern daß Deutschland mit dem Gedanken an atomare Aufrüstung „spielt“. Es liegt aber in der, ich s…
• Helmut Schulze
„Eine dekadente Gesellschaft gibt letztlich alles auf, wenn sie die Natur erst einmal aufgegeben hat.“ ein satz mit zwei seiten; zum einen meint er die „verweichlichte“ westliche gesellschaft, ihre verwurschtelte naturbeherrschung, ihr aufklärertum, an…
• ANH
Helmut Schulze Ich meine n i c h t das „Aufklärertum“, das ich als „tum“ niemals bezeichnen würde, sondern hinter dem ich- als von Gustav Landauer kommender anarchistischer Anhänger Voltaires – vollen Unfanges stehe. Sondern ich meine die gekünstelte …
• Helmut Schulze
nun gut, Werther ist nun wirklich kein Aufklärer, aber das mit der naturbeherrschung ist mir geblieben aus dem verkrachten germanistikstudium (vieldeutiges wort für mich…), und kein ratgeber für schlaflose nächte mit der pistole an der schläfe
• ANH
lacht. Ich erschieße doch nicht mich selbst. Wozu? Mich dazu zu bringen, hat nicht einmal der Krebs geschafft.
• Helmut Schulze
sei drum umarmt
• Michael Koeller
„wenn sie die Natur erst einmal aufgegeben hat“ Aber auch ein Irrsinn, sich an den Begriff der „Natur“ zu halten. Jedenfalls ein Unglück.
• Sabine Scho
habecks rede ist sehr gut, weil er eben sagt, die waffenlieferung ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner.
Ihre Arbeitsunfähigkeit teile ich leider. Ebenso den Verlust des Sinn-Horizonts für die eigene poetische Produktion. Ich habe dann spontan entschieden, einen Text zu schreiben, der als Untersuchung und Selbstbefragung dem Grund nachgeht, warum denn bisher mein lebenslanges Schreiben für mich Sinn gehabt hat, wenn dieser Sinn so plötzlich verloren gehen kann.
Es muss diesen Sinn geben. Einen Sinn, der unabhängig ist von Leuten wie Putin. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre der Sinnverlust total, auch wenn Putin heute noch einen Schlaganfall bekäme und tot umfiele.
Der Sinnhorizont nicht für mein ganzes Werk ging verloren, der ist weiterhin, auch glühend, da … – aber der Horizont für ein jetziges Schreiben – auch, weil ich weder thematisch noch formal über die Andersweltbücher noch hinauskommen. Vieles darin Erzählte ist in den vergangenen zehn/fünfzehn Jahren bereits Wirklichkeit geworden und einiges wird es, leider, jetzt. Angesichts dessen hat ein, kommt es mir vor, Blick in die wenn auch nicht sehr entfernte Geschichte, unter anderem meiner selbst, nicht mehr den Sinn, den er braucht. Mit der neuen Aufrüstung Deutschlands, die leider auch ich für nötig erachte, wird ein Strich durch dreißig Jahre Geschichte gemacht, die ich selber – wie sehr viele andere auch – in politischen Haltungen wie Handlungen mitgestaltet habe. Dadurch stellt sich in mir – ich hoffe, nur momentan – ein enormes Gefühl persönlicher Geschichtslosigkeit her, also auch und gerade meiner Identität. Das aber ist ein schlechter Ausgangs- bzw. Fortsetzungspunkt poetischer Arbeit. (Allerdings könnte ich selbstverständlich politische Gedichte schreiben; doch an solcherart, auch feine, Agitation habe ich niemals geglaubt, sie sogar abgelehnt. Und die mir nach wie vor wichtigen Themen sind in den Béartgedichten, ich glaube abgeschlossen, behandelt, die in drei Wochen als Buch endlich vorliegen werden. Der Abgesang, den sie darstellen, ich schrieb es oben schon, verdoppelt sich jetzt. Vielleicht hebt er sich als solcher auch auf, da im Falle eines mit Atomwaffen ausgetragenen Krieges die Gendersternchen und -synkopen, inklusive der Abkehr von Natur, sowie deren Gründe völlig belanglos, ja einfach nur lächerlich werden werden, wie gleichfalls, wie wir jetzt sehen, die nahende Klimakatastrophe absolut keine Rolle mehr spielt. Sie tritt dann noch schneller ein, als wir dachten – nämlich unmittelbar. Will sagen, daß selbst übers Klima noch, wie berechtigt auch immer, zu schreiben, dann ebenfalls nur noch lächerlich ist.
Da, nicht in meinem Glauben an Kunst an sich, liegt mein Problem. Der ist nach wie vor da.)