Ukraine-Dialoge XI: Einschätzungen aus Rußland. Autor und Übersetzerin zu de Zayas und Baud sowie ein Beitrag Olga Martynovas. Tatiana Baskakova | ANH (3).

Sonnabend, 12. März 2022, 8.01 Uhr

ANH
Ich denke jeden Tag, quasi dauernd, an Sie. Hier ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung von heute früh.

A.

11.52 Uhr

Baskakova
Danke, Albano,

ich fühle Ihr Nah-Sein und Ihre Erreichbarkeit! Auch Olga Martynova schrieb mir und schickte ihren → Artikel.
(…)
Herzlich, Tania

Dienstag, 15. März 2022, 11.08 Uhr

ANH
Liebe Tania, da ich in Der Dschungel erst später darauf eingehen werden – und noch nicht weiß, wie – schicke ich Ihnen hier zwei PDFs[1]Interview Baud, → Interview de Zayas, die, glaube ich, jede und jeder kennen sollte, um Hintergründe des furchtbaren Kriegs zu verstehen, die Sie auch gerne weiterverteilen dürfen.. Sie sind in dieser Schweizer online-Zeitung erschienen. – Über einen Leser, mit dem ich korrespondiere, kam ich auf diese Dastellungen. Besonders die eine ist ausgesprochen akribisch. Beide Autoren waren bei der UNO beschäftigt, einer sogar bei der NATO. Beide sind Wissenschaftler, Forscher.
In der Hoffnung, daß es Ihnen nach wie vor einigermaßen gut geht, bleibe ich in unverbrüchlicher Freundschaft
Ihr Albano

12.20 Uhr

ANH
Postskiptum: Wegen Baud müssen wir aber auch vorsichtig sein. Ich schicke Ihnen hier noch die deutsche Übersetzung der französischen Wikipedia über ihn. Also seine Bewertungen kritisch sehen; wichtig sind aber die Fakten (also Daten).
A.

18.15 Uhr

Baskakova
Lieber Albano,

das Interview mit Jacques Baud scheint mir höchst tendenziös und unglaubwürdig. Z.B.: «Ja, in unseren Medien wird es so dargestellt, dass die Russen alles zerstören würden, aber das stimmt offensichtlich nicht». Ich sah schon Unmengen von Photos mit den zerstörten Städten, getöteten Kinder, Strömen von Flüchtlingen. Ich ruf täglich zweimal meinen nahen Freund in Kiev an und frage ihn, ob in der Nacht Bombardierungen waren (in Kiev war es bis jetzt relativ ruhig.). Ich las ein Tagebuch von meiner Bekannten, einer ukrainischen Übersetzerin (auf Deutsch publiziert), die in einem kleinen Städchen in der Naehe von Kiev wohnte und die vor zwei Tagen gezwungen war, wegen der Bombardierungen diesen Ort zu verlassen.
Über die Krim (in 2014) hatte Putin am Anfang gesagt, es seien dort keine russische Soldaten gewesen, um aber später zu erklären, daß — doch — die Armee dort benützt wurde. Ich kenne auch persönlich die Leute, die nach 2014 die Krim verlassen haben und in die Ukraine gingen.
S. 14: «Daraufhin hat Putin einen Artikel geschrieben, indem er die historische Entstehung der Ukraine erklärt. Er hat kritisiert, daß man zwischen Ukrainern und Russen unterscheidet usw. …Ich habe den Artikel gelesen, er ist absolut sinnvoll». Das ist Unsinn. Es sind verschiedene Völker mit verschiedenen Sprachen. Die ukrainische Kultur wurde in den Dreißiger Jahren fast völlig eliminiert. Daher stammen diese — unrechten — Maßnahmen gegen die russische Sprache in der heutigen Ukraine. Mariupol, Charkiw, Cherson sind Städte mit russischsprachiger Bevölkerung, dort protestieren die Leute jetzt gegen Putin.
Ich selbst war in der Ukraine in 2014, ganz kurz vor dem Krieg (dann noch in 2015, 2018). Damals gab es dort (in Kiev) gar keinen Haß gegen Russen, ich hatte einen Leseabend dort, las auf Russischen, man fragte mich etwas auf Ukrainisch oder auf Russisch, egal, ich verstand die Menschen, antwortete aber auf Russisch, es war ganz normal. Ein Teil von Russland werden wollte aber niemand. Die Rechtsextremisten allerdings existieren dort, gewiss. Ihre politische Wirkung aber ist nichtig. Sie werden sich jetzt, nach dem Krieg, verstärken, denke ich.
Und der Artikel von Dr. Alfred de Zayas? Ich verstehe sehr gut seine und Ihre Sorge: der Atom-Krieg darf nicht beginnen. Das Problem ist, dass die Ukrainer nicht bereit sind, das Opfer dafür zu werden, ihre Verwandten und Kinder zu verlieren. Und wer bin ich, um ihnen etwas zu raten oder nur diese Erlösungs-Variante zu propagieren, zu publizieren? Eine Bürgerin eines Staates, der ihr ganzes Leben zerstörte und jetzt noch zerstört?
Mir geht es gut genug, und ich schätze Ihre Freundschaft sehr und die Möglichkeit, mit Ihnen ganz offen zu sprechen,
Ihre Tania

18.29 Uhr

ANH
Liebe Tania,
ja, ich finde Bauds Wertungen und Persektiven ganz wie Sie hoch problematsísch, habe das eben in Der Dschungel auch geschrieben.
Und was Sie erzählen, glaube ich sofort. Interessant an Bauds Text sind aber die – hierzulande nahezu unbekannten – Fakten der Daten usw. Seine Sicht auf Putin ist selbstverständlich ebenfalls problematisch; nur hat bisher die Abläufe noch niemand so deutlich herausgearbeitet. Das heißt, alles wegstreichen, was bei Baud Ideologie, Parteinahme, auch Verschweigen ist und immer nur das lesen, was reine Information ist. In d i e s e m Sinn ist der Text wichtig.
(Ich muß immer wieder an meinen Stiefvater, einen Völkerrechtsjuristen, denken, der als eingefleischter CDU-Mann immer nur linke Zeitungen las, und zwar mit dem Argument: “Da merke ich, wo ich betrogen werde; bei meinen eigenen Leuten aber nicht.” Er bildete sich seine politische Meinung fast ausschließlich über die ihm kenntlichen Fehler des Gegners. In d i e s e m Sinn habe ich auf Bauds Text hingewiesen. Übrigens ist, aber das werden Sie in meinem Beitrag verlinkt finden, auch der englische → Guardian hier kritisch. – Worum es im Westen geht, ist, daß man auch sehen muß, Mitschuld an dem Krieg zu tragen, nämlich über die NATO und übers aktive Wegsehen. Bei Putins gräßlichem Tschetschenienkrieg hat niemand Sanktionen verhängt, obwohl da nachweislich Völkermord stattfand. Sondern irgendwie war er dem Westen ganz recht; es ging ja u.a. gegen Islami.
Doch ganz unabhängig davon, deshalb mein letzter Absatz, und wer immer Schuld und Mitschuld hat – daß dies alles auf dem Rücken der jetzt furchtbar leidenden ukrainischen Bevölkerung ausgetragen wird sowie auf dem der Russinen und Russen, die sich gegen Putin stellen, ist nicht zu ertragen. Die nationalistischen und teils revisionistischen Äußerungen Kulebas sind es aber auch nicht. Wann immer nach “Ruhm” gerufen wird – nach “Sieg”, nach “Helden” -, ist etwas ganz, ganz schlimm.)
Ihr Alban

18.37 Uhr

Baskakova
Lieber Albano,

falls Sie es nützlich finden, könnten Sie meinen Brief — mit meinem Namen — veröffentlichen. Nur mit einer Bemerkung, daß es ein Privatbrief, geschrieben vor der Publikation, war (weil Sie selbst schreiben, Sie glauben diesem Interview nicht gänzlich, — meine Antwort würde sonst überflüssig).
Und ja, ich verstehe, was Sie mit Mitschuld des Westens meinen, das Interview selbst aber scheint mir nicht sehr original — es ist die übliche Argumentation von Putin selbst.
Ihre Tania

ANH
Das finde ich ganz, ganz großartig. Aber nicht als Kommentar, sondern als Fortsetzung auch unseres Ukraine-Dialoges, wovon es ja schon zwei Stücke gibt. Das wäre dann der dritte, und er bezöge sich auf den heutigen Beitrag. So wird auch zugleich der Erkennnisprozeß-selbst prozessual thematisiert, was, wie wohl kaum jemand so gut weiß wie Sie und Elvira, meinem poetologischen Ansatz insgesamt entspricht.
Und, selbstverständlich: Wenn ich den Beitrag fertiggebaut habe, schicke ich ihn Ihnen zur, wenn nötig, Korrektur oder auch für Ergänzungen. Vor allem will ich Ihnen ja auf keinen Fall schaden; Sie können einfach besser als ich abschätzen, was erscheinen darf und was nicht.
Einverstanden?

Baskakova
Ich bin einverstanden, dann warte ich auf den Entwurf.

Tania

Mittwoch, 16. März 2022, 22.25 Uhr

Baskakova [unkorrigierte Umlaute nach Email]
Lieber Albano,

Mit dem Text der Publikation ist (fast) alles gut. Nur Umlaute habe ich hinzugefuegt (in E-Mails kann ich sie nicht benuetzen). Und ein Datum korregiert.
Ich schicke Ihnen einige meine Photos. Wenn Sie moechten, koennen Sie sie einmontieren.
Herzlich, Tania

_____________________________________
[Bilder von oben nach unten:

1 Ein Haus in Kiev, Jaroslawiw Wal 15-b, dekoriert mit vergrö-ßerten alten Photos.
2 Baskakova mit dem ukrainischen Übersetzer aus dem Deutschen → Mark Belorusez. (Ukrainisch-Belorussisch-Russischer Übersetzerworkshop „Günther Aichs Mädchen aus Viterbo“, organisiert durch die Goethe-Institute in Kiew und Minsk, Kiew 13-15.6.2015 / Minsk 18.-20.11.2015.
3 Kiev, 3.7.2018. Zwei junge Schauspielerinnen lesen aus Jewhenija Bjelorussez‘ → Glückliche Fälle. (Ins Deutsche übersetzt von Claudia Dathe, Matthes & Seitz, Berlin, 2019)
4 Plakat (Ausschnitt) der Ankündigung zu Tatiana Baskakovas Vorstellung ihrer russischen Übersetzung des Romanes Hundsnächte von Reinhard Jirgl, Kiew 2008.]

References

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .