“Die Karlsruher Nacht”: Briefe nach Triest, 44. Wiederaufnahme, Überarbeitung 4.

[Aus dem vierundzwanzigsten Brief]

(…)

Seltsames Karlsruhe! Hohl unverbundene, vor allem unbelebte lange Straßenzüge; eine Stadt aus trübester Novembertusche. Die verlassenen Baustellen, ihre ausgehobenen Schächte, in denen jeder Regenguß zu einem stehenden Tümpel wird, die Leere vor dem Bahnhof, der drinnen aber, als ich gestern ankam, gefüllt mit Menschen war. Kaum treten die Leute indessen ins Freie, lösen sie sich in der Trübigkeit auf; fadenscheinige Geister, zerbläst sie ein geringster Wind. In Karlsruhe, wer noch Gestalt hat, bleibt darum besser zuhaus. Tatsächlich leuchteten hinter nicht wenigen Fenstern die Lichter. Sogar jetzt noch, nachts, beinah frühmorgens, blieben sie hell hinausgeht wohl nur, wer nichts mehr zu verlieren hat. Dabei war es die Nacht auf den Sonntag! Andernorts schwärmen die Menschen da aus, egal, ob es regnet, und überall schallt Lachen, Rufen, Gejohle. In Berlin gehen sie erst heim, wenn es lange schon Tag ist; hier liegt schwere Stille. Nur morgens, nach meinen anderthalb, vielleicht zwei Stunden Schlafs, riefen sich quer über den Bahnhofsvorplatz zwei heisere Stimmen einsamer Jungtürken zu, warnten einander, dachte ich, vor den Geistern. Hab acht! Hab acht! Mir war, als ob mich eine Frau in die linke Schulter bisse – da Du nicht da warst, mich zu schützen. Tatsächlich habe ich dort nun ein Zeichen; ich sah es vorhin, als ich mich rasierte, im Badezimmerspiegel; deutliche Spuren von Zähnen; bis jetzt noch ist die Markierung zu erkennen. Du aber, geliebte Sídhe, warst in den zweidrei Minuten von mir abgefallen, die meine Karlsruher Einfahrt währte, und unversehens fand ich mich ein nächstes Mal verlassen. Selbst Dein in mir gebliebenes Du ließ mich allein. Es war eben dies, was mir der blind gewordene Spiegel dieser trüben Stadt zurückwarf. Daß es so zeitig dunkel wird, machte es ihm freilich einfach dunkler und früher als je in einem Dezember zuvor, also über das Maß der seit November ohnedies zu kurzen Tage hinaus: als stiege seine Dunkelheit mit meinen Lebensjahren noch an und breitete sich aus, bis es eines kommenden Jahres im Dezember überhaupt nicht mehr hell werden wird, sondern alles bleibt Nacht und greift von dort aus unerbittlich auf den November und den Januar über, besetzt schließlich das ganze Jahr. So daß es, Geliebte, eines Tages gar nichts anderes mehr geben wird als unentwegte Dunkelheit. Gut möglich aber, daß es nur für einen selbst so ist. Weil ich dann nämlich tot bin. Mich darauf einzustimmen, ward in dieser Nacht modellhaft an mir vorprobiert. Oder war ich, ohne es zu wissen – geschweige, daß mich jemand gewarnt hätte – in eine morbide Performance des ZKMs geraten, vielleicht ganz Karlsruhe die Bühne? Es wäre erlösend gewesen, hätte ich sowas glauben können, doch selbst als Plotidee war es zu schal. Was aber den Geist anbelangt, der mich gebissen hat, war morgens mein Bett komplett auf-, nicht nur verwühlt, ein Schlachtfeld aus Kissen und Decken, von denen die Bezüge halb nicht abgezogen waren, nein -gezerrt. In verknoteten Ballen wölbte das Zeug sich über Matratze und den hölzernen Rahmen des Bettes hinaus, und das stellenweise freigelegte Laken hatte lange Risse, als hätte über es hin ein stumpfes Messer gewütet. Das zu gewahren, brachte mich zu mir. Nein, ich war nicht erschreckt, sondern selbst die Stadt, die sich regungslos betrachtet. Denn in Verlassenheit – wenn wir es sind, so verlassen – fühlen wie immer nur sie.
Außerdem war kein Blut zu sehen.

*

Kalevi Aho, Konzert für Kontrafagott und Orchester (2004/5)]

O über die Exzesse! Ich komme auf die Reinheit zurück, auf die verlorene Unschuld und, da es für Reue zu spät ist, auf Lenz und seine Buße. An der Lydierin geht er verloren und beichtet am Ende den Steinen den in der Mauer verbauten wahrscheinlich, die er an meiner Statt errichtet hat. Bewußt hätte ich ihn das nicht tun lassen; insofern war schon die Idee nicht ‚meine‘, sondern etwas ließ sie in mir auf- und aus mir heraussteigen, und als sie sich die als rotweißen Schleim anhaftenden Geburtssekrete aus Nase und Mund geschnaubt und gespuckt und aus den Ohren sowie insgesamt von der Haut gewischt hatte und, sich vor meinen Blicken stolz aufrichtend, ihre gnadenlos schöne Kontur derart sichtbar wurde, konnte ich nur das Knie beugen und mußte einmal mehr dem Gebot der poetischen Gerechtigkeit folgen. In solchen Momenen spielen persönliche Wünsche keine Rolle mehr. „Verloren“ heißt, daß wir erst jetzt verstehen, was die Unschuld ist. Wir verlieren sie in dem Moment, da wir sie erkennen. Zum ersten Mal die Hand auf Deinem flachen Bauch. Darf sie denn da überhaupt noch liegen?
Mein Leben lang bin ich gegen den Begriff der Reinheit angerannt. Jetzt ward sie mir und schlug mich. Karlsruhe war die, volkschristlich gesprochen, Hölle meiner Zukunft. Auferstehung w i r d nicht, zumal keines Uns. Die Veranstaltung am Abend hatte mir vorübergehend Unterstand gewährt. Nun kam die Kälte Sie ist nicht einmal Sturm. Der ließe ja agieren, hingegen ich nur starren konnte. Und laß mich auch hierin ehrlich sein: Es war gar nicht ich, der auftrat im CIRCUS 3000, sondern die in ihrem Selbstkitsch fast rührende Kunstfigur des Dichters einer vergangenen, in Dir untergegangenen Zeit. Nur deshalb war alles mir dort leicht.

(…)

Briefe nach Triest 43 <<<<

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