Ich bin auch in Ravenna gewesen,
Ist eine kleine tote Stadt,
Die Kirchen und viel Ruinen hat,
Man kann davon in den Büchern lesen.
Du gehst hindurch und schaust dich um,
Die Straßen sind so trüb und naß,
Und sind so tausendjährig stumm,
Und überall wächst Moos und Gras.
Das ist wie alte Lieder sind –
Man hört sie an und keiner lacht,
Und jeder lauscht und jeder sinnt
Hernach daran bis in die Nacht.
Ich lernte Ravenna zweimal kennen, einmal im Nebel, davor aber über ein Lied, das wie ein altes aber nicht alt ist, weshalb ich seinen Text für Kitsch hielt wie vieles von diesem Dichter. Ich ahnte nur, daß er sich in dem Lied wie dieses sich in der Stadt erfüllte, als hätten die drei Strophen ihre Vertonung beschworen und wären im Klang zu sich gekommen. Als ich in strahlendem Sonnenschein von Venedig aus die Lagune und durchs PoDelta südwärts fuhr, die Stimmen Hunderter Touristen im Ohr, dachte ich aber nicht daran, sondern an venezianische Gesänge, an Vivaldi, Sinopoli, und röhrend rasten die italienischen macchine in atemberaubenden Überholmanövern an mir vorbei. Es wurde immer heißer, ich schwitzte – doch als ich den Reno überfuhr und mich etwas landeinwärts hielt, trübte sich die Luft Meter um Meter ein, und vor den Toren Ravennas stand der Nebel. Es wurde, selbst bei geöffneter Scheibe, still. In einer Art stummen Erschreckens gewahrte ich, als wären sie von dichterer Luft gefiltert, Fahrradklingeln. Das ist für Italien, das ja nicht grundlos als lärmend gilt, mehr als nur ungewöhnlich.
Ich parkte den Wagen, stieg aus, und es war eine kühle Feuchte, was mich empfing. Kühl und feucht war die Stiftskirche Dantes, kühl und feucht schimmerte die Pflasterung der Gassen, auf denen die Schritte der wenigen Fußgänger tatsächlich hallten. Unmittelbar war mir bewußt, eine andere Welt betreten, alle Gegenwart hinter gelassen zu haben – oder vor mir – gleichviel. Die schweren, ihrer Fresken und jeglichen Zierats ledigen Mauern standen wie eine steingewordene Ewigkeit da, hoben sich um mich auf, und die paar Treppen untern Altar hinab schimmerte grünlich ein See, dessen Spiegel mit der Kryptadecke spielte, – und so fern war, allem Kirchenstaat zum Trotz, das Christentum, so mittelalterlich-heidnisch atmete es wieder. Und gleichgültig, wo ich dann später auch noch stand, sann und leise spazierte, überall wehten die Töne dieses Liedes von Othmar Schoeck auf die Worte Hermann Hesses, wehten aus jeder Pforte, von jedem Grabmal stiegen sie auf, und selbst, als einmal, geisterhaft, ein Autobus auf der Piazza hielt und einen Trupp Touristen entließ – aus der geöffneten Tür flatterte momentlang Italopop -, wurde dieses Stückchen Moderne sofort vom Nebel eingesponnen, ummantelt sowie chromatisch verkapselt und — schwieg:
Othmar Schoeck, Ravenna von Hermann Hesse
Dietrich Fischer-Dieskau, Karl Engel
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