„Winter“zeit. Die im Arbeitsjournal des 30. Oktobers 2022, nämlich heute, beginnt, in welchem vom Kollwitzmarkt erzählt werden wird, der einen frühen Sommer vortäuscht. Wärn nicht die bunten Blätter gewesen, die trudelnd auf uns niedergingen. Sowie von unsrer nach wie vor luxuriösen Lebensblase. Weniger freundlich schließlich zu Olexij Makajew.

    [Foto Furtwängler/Lindholm ©: NDR / Frizzi Kurkhaus]

[Arbeitwohnung, 7.47 Uhr
Leszek Możdżer, Pasodoble (live, Berliner Philharmonie)]
Gearbeitet gestern quasi null. Vormittags die üblichen Besorgungen, dann schon wieder das melancholische Gefühl, alleine zu sein. Dabei war vortags mein Sohn hiergewesen, wir hatten lange und innig geplaudert. Geht dann die Wohnungstür aber wieder zu und das „Bis bald, Pa!““ ist im Treppenhaus verhallt, kann ich mich eigentlich nur an den Schreibtisch setzen, um mich auf anderes zu konzentrieren, das den leisen Schmerz überwölbt. Es ist dies, was für mich altzuwerden bedeutet, nicht irgendeine Krankheit oder sonstige Gebrechlichkeit, schon gar nicht mehr der Krebs, auch die Polyneuropathie nicht, die ich als normale Abnutzungserscheinung empfinde und mit der ich deshalb, auch wenn sie nervt, eigentlich ganz einverstanden bin. Auch sie ist ja ein Zeichen von Lebendigsein, und ich habe dazu die vielen anderen Menschen meines Umkreises im Kopf, die bereits mit dreißig/vierzig Ausfallerscheinungen hatten, ich hingegen nahezu nie. Da ist, empfinde ich, Gerechtigkeit. Nur aber, ja, dieses Alleinsein, das ich mit meinen Figuren fülle. Weil mir das gelingt, komme ich gar nicht auf die Idee, es zu beklagen; ich leide halt nur – und nur a bisserl – vor mich hin. Doch dann, von लक्ष्मी, über Whatsapp:

Zwanzig Minuten später Treffen Helmi Ecke Duncker/Raumer, लक्ष्मी ihr Fahrrad angeschlossen, zu Fuß weiter die Duncker hinunter, über die Danziger, in die Kollwitz bis zum Markt. An dessen Anfang gleich zwei Austern, für den Wein nachher, am Fischstand reserviert. Und zu den Gösleme weiterflaniert, in die Schlange ge– und einen der hier mit Hefe verkneteten dünnen Fladen bestellt, den unseren mit Hackfleischmischung, dann am Kollwitzdenkmal des kleinen, dem Spielplatz anrainenden Parks gemeinsam verzehrt, diesen beigeklätschelten Sauerrahm vertrage ich sogar — und schließlich weiter zum Weinstand, nachdem wir die Austern abgeholt hatten und eine noch obendrauf, die letzte noch vorrätige, geschenkt bekamen.
O wie die Sonne prallte!
„Ich trinke aber nur einen Wein, sonst ist der Tag dahin“: So nicht etwa ich, sondern sie. Ist fast immer das Zeichen dafür, daß der Tag dahin sein w i r d. Was aber heißt hier „dahin“? Er erfüllt sich. Man kommt auch schnell ins Gespräch mit anderen, die mit am Stehtischchen stehen.
Es gab keine Weingläser mehr. „Wir sind fast ausverkauft, ich fasse es nicht: Die Leute trinken seit elf.“ „Ist doch klasse, wenn einem Stand das passiert!“ Die Frau hinterm provisorischen Tresen lachte. „Stimmt.“ Ich zog zwei Gläser aus den Abstellmulden für benutzte, reichte sie rüber. „Wir haben aber nur Wasser, um sie abzuwaschen.“ „Nichts ist, das besser reinigt.“ Also hatten wir unsere Gläser.
Auf dem Tischchen hatte लक्ष्मी die drei Austernbootchen zu einem Stern angeordnet. Ein älterer Herr (wozu ich schmunzeln muß; wie sich herausstellte, hatte er auf der Seele drei Jahre weniger als ich) habe, sagte sie mir gleich, Austern noch niemals gegessen. Ich schob ihm eine meiner drei hinüber, लक्ष्मी hatte keine gewollt. Nicht tapfer, sondern vor Neugier funkelnd schlüfte er die Molluske aus der Schale. „Oh“, entfuhr es einer älteren Dame, die mit ihrem Mann ebenfalls mit bei mit uns stand, „sowas bekäme ich niemals runter.“ Der Austernneuling leckte sich die Lippen. „Meer“, funkelte er. „Es schmeckt nach Meer.“ ‚Nach Frau‘, wollte ich entgegnen, schluckte es aber hinunter; sein Funkeln hatte ohnedies gezeigt, daß er’s nun längst wisse. Auch deshalb versagte ich mir die weitere Bemerkung, nämlich für die ältere Dame, daß ihre Scheu mir nachvollziehbar sei, sie sich aber vor Männern hüten müsse, falls sie sie teilten. Statt dessen ihr Mann: „Der Prenzlauer Berg ist nicht mehr, was er war. Man hört fast kein Berlinisch mehr, sogar fast überhaupt kein Deutsch, nur noch andere Sprachen.“ In solchen Fällen reagieren लक्ष्मी und ich fast unisono. „Mich beglückt es, wenn hunderte Sprachen durcheinanderwirbeln, das macht Berlin zur kleinen g a n z e n Welt.“ „Und es ist eben nicht nur Englisch, bzw. US-Amerikanisch, sondern Französisch genauso, und Spanisch, und Arabisch, und Türkisch.“ „Und Ukrainisch jetzt.“ „Und auch Russisch, Vietnamesisch, Chinesisch, sogar Japanisch.“ लक्ष्मी: „Viel Urdu auch, schaun Sie nur all die Radfahrer für WOLT – und Bengalisch, Gujarat …“ „Außerdem immer wieder Farsi.“

Das Großartige an Begeisterungen ist, daß sie sich übertragen. Wenn das geschieht, ist für Ausländer-, sagen wir, -skepsis überhaupt kein Raum mehr, sie welkt quasi ebenso ein, wie die sehr indisch aussehende Mama unseres Sohnes mit ihrer gern getätigten Offenbarung, daß sie ein typisches Hessenkind sei, jeglichen „deutschen“ Vorbehalt schlichtweg unterläuft, vor allem dann, wenn sie auch noch „hesselt“. Das bekommt sie aufs charmanteste hin – ja, dann gerät ihr liebevoller Spott so richtig in Fahrt.
Es war nun schon für sie und mich jeweils das dritte Glas, 0,2er wohlgemerkt. Der Austernneuling hatte sieben Becher Federweißen in sich und trollte lächelnd, leicht indessen schwankend, von dannen. Und लक्ष्मी schoß das fast schon rituelle Selfie für die Kinder, das sie auch sofort an die Zwillinge und unsern Sohn hinauswhatsappen ließ:

 

„Teilen wir uns noch einen?“ So ich. Sie: „Du, dann laß uns noch einen im Schwarzsauer nehmen.“ Halber Strecke zu ihrem Zuhause. Es war unterdessen fast schon Abend.
So saßen wir denn dort noch dreißig Minuten; sie hatte sich aber für einen Pernod entschieden, ich blieb beim Wein. „Magst du kosten?“ Erst wollte ich nicht. „Einfach nur die Zunge reinstecken“ – eine Formulierung, die es mir komplett unmöglich machte, abermals abzulehnen. Fassungsloserweise paßte der Anisgeschmack auf meinen Riesling gefährlich gut.
Nachdem ich die Frau heimgebracht hatte und über Gneist- wie Raumer-, von dort den Helmi durchflaniert, und Dunckerstraße heimgekehrt war, war ans Arbeiten freilich gar nicht mehr zu denken; auch daran nicht zu lesen. Also in einen Tatort mit meiner ganz sicher aus erotischen Gründen Lieblingskommissarin, Maria Furtwängler-Lindholm, hineingeschaut, doch auch das abgebrochen und sage und schreibe um halb neun ins Bett. – Klar, daß ich nach fünfeinhalb Stunden wieder wach wurde und erstmal nicht mehr einschlafen konnte; ich überlegte sogar, ob jetzt gleich – um 2! – aufstehen, mir einen Latte macchiato bereiten und mich an den Schreibtisch setzen. Entschied mich dagegen, stand nur kurz für ein Glas Wasser auf, nackt, klar, vor allem, weil ich frieren wollte, um einen Grund zu finden, wieder unter die Decke zu schlüpfen; leicht fröstelnd schnell auch noch aufs WC, ausnahmsweise im Sitzen pinkelnd, mit nämlich geschlossenen Augen. Und es klappte auch: Nun war mir kalt genug, um das Bett wieder anziehend zu finden. In dem ich auch ein- und bis sechs Uhr durchschlief, was sich nun als sieben Uhr herausgestellt hat. Ah jà, Winterzeit! Doch Winterzeit in einem Herbst aus Sommer. Über den लक्ष्मी  begeistert war, ebenso wie ich, doch: „Meinetwegen könnten“, sagte ich, „in Berlin Agaven wachsen, und Palmen. Doch etwas unheimlich ist es s c h o n.“ Außerdem fehlte natürlich das Meer.

[→ Możdżer, Danielsson, Fresco: Praying]

 

Da heute abend einer wunderbaren Einladung zu folgen ist – ab 19 Uhr werde ich erwartet –, werde ich tagsüber allerdings davon absehen, erneut hinaus in diesen ungewöhnlichen Spätsommer zu schreiten, sondern strikt am Schreibtisch sitzen bleiben; es ist ein Konzept für eine Béart-Veranstaltung zu schreiben, das ich dem LCB vorlegen möchte, wie mit Florian Höllerer, dem Leiter des Hauses, anläßlich des → Marianne-Fritz-Perfomance-Abends abgesprochen. Ich habe die Idee, meinerseits eine Art Performance zu bauen, in der nicht „nur“ Rivettes La belle Noiseuse und du Welz‘ Vinyan eine Rolle spielen sollen, sondern auch → meine Gedichtvideos; wie, ahne ich bisher nur, habe da ein, verzeihn Sie, Freundin, meine Esoterik … habe da „ein Spüren“. Be“spielt“ werden sollte das gesamte Erdgeschoß; ganz sicher machte auch meine Lektorin mit und mit ihrer als Specherin zutiefst magischen Stimme लक्ष्मी  genauso, die auch sehr gerne, wie sie gestern sagte, bei meinem Projekt, → Anderswelt als Hörbuch einzusprechen, mit dabeiwär. Ihr fehlt, „spürte“ ich schon zuvor, die poetische Hörstückarbeit fast ebenso wie mir. – Doch damit, die → Andersweltromane w e i t e r einzusprechen, werde ich erst einmal bis zum Dienstag warten müssen, weil ich doch hören möchte, was meine Lektorin zum schon eingesprochenen THETIS-Vorspiel sagt, die momentan noch durch die kretischen Berge reitet – eine in mir so bildhaft bewegte Vorstellung, daß ich ganz unruhig vor Beglückung bin — selbst dann, wenn ich nun erst einmal nachlesen werde, wie es um den entsetzlichen Ukrainekrieg steht, der uns alle nicht nur unter der Haut begleitet. Oder, wie es gestern लक्ष्मी  ausgedrückt hat: „Wie leben hier in einer Blase.“

Ihr, schöne Freundin,
ANH

***

[11.41 Uhr]
Dauernd Jungmädchenanfragen bei Facebook um „Freundschaft“. Manchmal reagiere ich, z.B. wie soeben:

[14.39 Uhr
Johannes X. Schachtner, Symphonischer Essay (2008/2016)]
Olexij Makajews Forderung[1]Hier von → Zeit online eingefügt, Autorin: Verena Hölzl. ist, so sehr sie sich morallogisch auch nachvollziehen läßt, scharf abzuweisen. Zum einen folgt Moral keinem logischen System, sondern sieht eben auch innere Widersprüche; zum anderen, und das ist entscheidend, müssen wir uns — wenn wir Europäer denn, wie dauernd behauptet, Werte tatsächlich haben, die im Abendländischen wesentlich christlicher Natur sind — fragen, wie hätte an unserer Stelle der Nazarener gehandelt. Hätte er die geflohenen Kriegsdienstverweigerer aufgenommen, auch wenn sie vor der russischen Teilmobilmachung für diesen widerlichen Krieg gewesen sein sollten, oder hätte er sie in den sicheren Tod zurückgeschickt? Die Antwort ist eindeutig. Zumal diese Menschen tatsächlich noch niemanden getötet haben oder Ukrainern mit eigener Hand sonstwie geschadet. Aber selbst, hätten sie es getan, wären sie aufzunehmen, ihnen danach allerdings ein rechtsstaatlicher Strafprozeß zu machen, in dem nach Beweislage vorzugehen und im Falle mangelnder Beweise in dubio pro reo zu entscheiden wäre.

[Johannes X. Schachtner, Quatre tombeaux de vent (2013)]

 

References

References
1 Hier von → Zeit online eingefügt, Autorin: Verena Hölzl.

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