Rossis zweite Begegnung mit der Lydierin. Briefe nach Triest, 62.

 

[Siebenunddreißigster Brief, Fortsetzung:]

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Kein Tag, Ersehnte, vergeht, ohne daß ich Dir schreibe. Manchmal braucht solch ein Brief aber zwei Tage, nur selten noch mehr. Doch Du erkennst die Wechsel an den Sternchen. Ob ich aber eine Fahrt nach Triest schon gebucht habe, verrate ich nicht, schon gar nicht, wenn, für wann. Nach jedem Brief aber brauche ich etwas Erholung, für, wie gesagt, wenigstens vierundzwanzig Stunden, also seit Lars mich nicht mehr beauftragt. Es ist da vielleicht eine Leere. Außerdem habe ich ein paar Tage lang vermutet, daß meine Erschöpfung von der Anstrengung rührt, diese Trauer zu füllen und zugleich eine gewisse Angst niederzudrücken, die sich aus dieser, wie ich früher leichtsinnig schrieb, Realitätskraft der Fiktionen ergibt; ich habe meine Helligkeit von früher nicht mehr. So daß ich mich manchmal fragen muß, ob Lars’ Erkrankung damit zu tun hat. War ich diesem schwierigen Mann tatsächlich derart nah? Es kann aber ebensogut, also -schlecht, am Älterwerden liegen, an etwas mithin, das mich Lars jetzt voraussein läßt.
Seltsamer Gedanke. Ich muß ihn dennoch weiterspinnen. Ist er jetzt ein männlicher Sídhe, einer, der mich besetzt hat? Nein, das ist Unfug, sonst hätt ich bei meiner Begegnung mit der Lydierin – mit, meine ich, ihrer Sídhe – nicht plötzlich solch eine Panik gehabt. Aus der mich allein, daß Du hinzugekommen bist, gerettet hat; Du weißt schon, vor der Haustür der Giacomo di Monte 2. Als Du mich für Jan Rossi hieltst, aber die Lydierin es nicht tat. Genau, ich wollte ja erzählen, wie es mit ihr und ihm, Jan, nach der ersten Begegnung weiterging. Davon zu berichten, wird mich aus meiner Bedrückung holen. Wenn ich erzähle, bin ich daheim.
Er sah sie also auf der Terrasse des TOMMASEOs sitzen und gab sich einen Ruck.
„Wir sind einander schon begegnet.‟ Was stimmte, es war dies eine banale Anmache nicht. Das ließ ihn rundum seriös wirken, trotz seiner etwas abenteuerlichen Jünglingskleidung. Nur daß die Lydierin erst keine Lust auf neue Bekanntschaften hatte, aus, je nach den Versionen unserer Erzählung, sehr verschiedenen Gründen. Nach der menschlichen, in der sie und Zoë mit Jessir und Lenz als Patchworkfamilie leben, weil für noch einen Mann nun wirklich kein Platz mehr ist; nach der anderen, weil Lenzens Tod sie noch zu sehr beschäftigt, was wiederum sie sich hat Jessir wieder anschmiegen lassen, und schon ihrer Tochter wegen will sie diese mehr oder minder Harmonie nicht gefährden. Noch war Lenz freilich nicht tot, in dieser nunmehr dritten Version; denn darin stürzt er vor den Treppenstufen erst, nachdem die Venus aus dem Hafenbecken stieg, freilich in derselben Nacht. Doch ist es ungewiß, ob es schon bekannt ist. Wir wissen ja nicht, wie viele Tage seit der Lydierin und Jans erster Begegnung vergangen sind; außerdem, wäre Lenz schon aufgefunden worden, hätte IL PICCOLO ganz gewiß von der Wiederentdeckung der Venere di Carsomare berichtet. Es konnte aber ebenso sein, daß die Lydierin, ganz wie zum Beispiel Judith, prinzipiell Abstand von Männern genommen hat, weil ihr die Selbstbestimmung zu wichtig war, also jenseits ihrer Mutterschaft einfach Raum zu haben für sich allein. Wir können sagen, sie habe ihre Symbiontin fast schon erdrückt. Was ihr wirklich Freiheit gab. Sie nun ausschließlich entschied für sich. Außer Zoë und den Notwendigkeiten ihres Berufs hatte niemand und nichts einen Anspruch mehr, und unter Auftragsmangel konnte sie nicht klagen. An den fast-Zusammenprall erinnerte sich aber die Sídhe allzugut, und sozusagen wachte sie auf. Was der Lydierin Abwehr ein wenig unglaubwürdig wirken und Jan deshalb hartnäckig bleiben ließ. Er ging sogar in die Vollen: „Sie werden es nicht glauben, aber ich habe Sie tatsächlich da ins Wasser springen sehen.‟ Er streckte den linken Arm Richtung Pier aus. „Ja, ich weiß, es ist verrückt, war einfach nur eine Vision. In der aber sah ich Sie …‟ „Wie, ins Wasser springen?‟ So daß Jan tatsächlich alles erzählte. Nur die pikanten Einzelheiten ließ er besser aus. Doch es gelang ihm nicht, denn die Frau fragte nach: „Mit allen Klamotten?‟ Als er herumstockte, mußte sie lachen. „Ich werde doch wohl die Unterwäsche anbehalten haben?‟ Auch vor i h r füllte ein sibernrundes Tablett die Platte des Tisches fast ganz aus. Als sie Jans verlegenen Blick auf das Gedeck bemerkte – sie hatte die cicheti fast nicht angerührt –, rief sie leise auflachend aus: „Nun setzen Sie sich meinetwegen, Sie machen den Eindruck, hungrig zu sein. – Was trinken Sie? Ich lade Sie ein. Nein, keinen Widerspruch bitte.‟ Die Färbung ihres Apérol Spritz paßte geradezu vernichtend auf seinen wie stets Friaulan. Ohne seinen Eindruck zu erklären, sagte Jan gleichsam hilflos: „Ob wir noch weitere Gemeinsamkeiten haben?‟ „Oh, auch Sie springen gern ins Hafenbecken nackt?‟ „Nur bei Tag, nicht am Abend.‟ „Ah, jetzt verstehe ich, weshalb Sie mir nicht nachgesprungen sind.‟ „Das hatte einen anderen Grund.‟ „Nämlich?‟ „Als ich den Pier erreichte, waren Sie schon untergetaucht.‟ „Und haben meine Kleidung einfach da liegenlassen? Wie uncharmant!‟ „Ich hätte nicht gewollt, daß Sie am Ende Ihres Schwimmausflugs nichts mehr anzuziehen haben.‟ „Ein Cavaliere hätte die Kleidung b e w a c h t.‟ „Sie haben recht. Verzeihen Sie. Die Dessous waren dann auch weg.‟ Sie hob eine Braue. „Dessous?‟ „Aubade.‟ Was er nur wissen kann, weil er, ohne das zu wissen, nur mein literarischer Stellvertreter, also meine Fiktion ist. Doch das bislang noch etwas verschlafene Interesse der Symbiontin stand unversehens in Feuer; sie loderte, die Sídhe, der Lydierin aus den Augen. Was die reale Frau einigermaßen in eine scheinbar durch sie selbst bewirkte Bedrängnis brachte. Lecker sei er ja schon, mußte sie befinden und warf auf seine Finger einen Blick, ob da ein Ehering …. – Keiner. Nun gut. Nur war ja auch sie nicht verheiratet und lebte dennoch als Paar oder in dem Patchwork. Andererseits, Jessir war mal wieder auf Reisen, Zoë längst Teenager, und Lenz eremitete wie seit je vor sich hin. Zeit hätte sie heut abend schon. „Und womit beschäftigen Sie sich, wenn Sie grad mal nicht spannen?‟ „Ich bitte Sie, das habe ich nicht! Also gespannt. Ich habe nur nicht weggucken können.‟ „Scusi, ich meinte es nicht so. Wirklich nicht. Ihre Geschichte ist halt nur etwas bizarr.‟ „Ich habe einen Jazzclub.‟ „Oh, ein Freund von mir liebt Jazz!‟ „Dann lassen Sie uns uns doch treffen. Ja, gerne auch zu dritt. Bringen Sie ihn mit.‟ „Wahrscheinlich kennt er Ihren Club?‟ „Das mag sein. Gibt ja nicht so viele.‟ Da legte die Lydierin ihre Sídhe wieder an die Leine. Nichts überstürzen. Und deshalb: „Morgen abend?‟ „Da findet aber kein Konzert statt, nur der übliche Barverkehr.‟ „Vielleicht ganz gut so. Und ich bringe Pietro mit.‟ Jan erhob sich. Auf ihren irritierten Blick: „Nein, nein, ich habe Sie lange genug belästigt.‟ „Aber woher wissen Sie ‚Aubade‛?‟ Was sollte er da antworten? Wenn er noch nachgesetzt hätte, was ihm spontan einfiel, nämlich Sensory illlusion, wovon er aber doch keine Vorstellung hatte, er wäre erst recht in die Klemme geraten. „Ich habe geraten‟, gab er, und zwar eben deshalb, zur Auskunft. So sagte sie es: „Sensory illusion.‟ „Bitte?‟ „Das Modell. Und es stimmt. Ich kann den Zweiteiler seit neulich abend nicht mehr finden, weiß einfach nicht, wo ich ihn abgelegt habe. Seltsam, oder? Denn daß ich nicht nackt in ein zumal derart verschmutztes Hafenbecken springe, müßte Ihnen eigentlich klar sein. – Wir sehn uns dann morgen Abend. Aber darf ich noch nach Ihrem Namen fragen?‟ „Jan. Wenn Ihnen das zu unbequem ist, dürfen Sie auch Andrea sagen. Mein zweiter Vorname.‟ Das kam ihr entgegen. Noch ein Crucco[1]Seit dem Ersten Weltkrieg (nord)italienisches Spottwort für „Deutscher“; abgeleitet aus dem Kroatischen, „cruch“ = „Brot“, um das die Gefangenen bettelten.
wäre ihr zuviel gewesen, schon weil das croce drin mitschwang. „Via dei Cavazzeni 10A‟, erklärte noch Jan. „Geht hoch von der Cavani ab.‟ „Wo der Grieche ist?‟ „Um die Ecke, ja. Quasi gegenüber dem Albergo James Joyce[2]Dort..‟

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Briefe nach Triest 63
Briefe nach Triest 61

References

References
1 Seit dem Ersten Weltkrieg (nord)italienisches Spottwort für „Deutscher“; abgeleitet aus dem Kroatischen, „cruch“ = „Brot“, um das die Gefangenen bettelten.
2 Dort.

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