[Medikamentenversuch Pregabalin → Vierzehnter Tag]
[Montag, 6. Dezember 2022
Arbeitswohnung, 16.39 Uhr]
La Monte Yioung, The Well-Tuned Piano (1964-1987)]
Obwohl der Roman auf sein Ende zu jetzt rast – und offenbar ist mir der Übergang ins Finale tatsächlich gelungen (in Whatsapp las ich die drei Seiten gestern Ricarda Junge vor), konnte ich heute nicht, jedenfalls noch nicht weiterschreiben. Es war ein Hexenlebkuchenhäuschen besorgen und zu लक्ष्मी hinüberzuradeln, ein, für die Zwillingsjugendlichen, deshalb verspäteter Nikolausgruß, weil der einzige mir bekannte Bäcker, der so etwas komplett herstellt – „Hacki„, Stargarder Straße – gestern, was ich vergaß, geschlossen hatte. Montags immer. Und zuvor war die gestern abend leider gerissene Lammfellweste meiner Mutter zum Schneider zu bringen sowie ein Rezept von der Ärztin abzuholen, für das ich einige Zeit in der Schlange warten mußte. – Bei लक्ष्मी ein gutes, auch nötiges Gespräch; die „Kinder“ (Jugendliche sind es längst) waren leider längst aus dem Haus; die Schulen fangen viel zu früh an, vor allem, da Zwillinge verschiedene zwar, doch beide je sehr lange Hinwege haben, zwischen vierzig und sechzig Minuten. Beginnt ein Unterricht dann um halb acht, ist es sogar gesundheitsgefährdend. Indessen, darüber sprachen wir nicht.
Nach dem Chai gleich wieder los, erst zur Apotheke, dann schnell heim, die Unterlagen für meinen Onkologen rausgesucht, im Umhängerucksack verpackt und ab zur halbjährlichen Krebs-Nachkontrolle (Blutabnahme usw. sowie Ultraschall); der Termin fürs jährliche CT wurde gleich mit dem → Sana ausgemacht. Als ich von allem zurück in der Arbeitswohnung war, gings fast schon auf vier, und ich mußte erstmal etwas essen. Na gut, mußte nur aufgewärmt werden. Doch eigentlich war ich müde, der Mittagsschlaf fehlte – zumal ich auf dem Rad mal wieder eine Wirklichkeitsauflösung hatte, siehe die Medikamentenprotokolle. Und muß auch gleich s c h o n wieder los; das von der Ärztin verschriebene Medikament, meine Fettverdauungsenzyme, war in der Apotheke nicht vorrätig, mußte bestellt und muß nun abgeholt werden. Es ist ohnedies noch einzukaufen, vor allem für morgen die lange Zugfahrt nach Salzburg (Erstgespräch für eine neue Hochzeitsrede); ich will mich ausreichend „verproviantieren“. Und es muß auch schon gepackt werden, da es sehr früh losgehen wird. So werde ich erst im ICE weiterschreiben, denke ich.
Der Ultraschall lief übrigens gut, nur die Milz war nicht zu finden. „Ist die damals mit rausoperiert worden?“ – Ich hatte keine Ahnung. – Er sah in den Akten nach, also der Datei. „Nö, ist noch drin, muß im Bauch noch irgendwo sein.“
So gibt es immer wieder heitre Momente. – „Wird ein großes Organ herausgenommen, suchen sich die andern Organe oft neue Positionen, und bei Ihnen liegt der Darm offenbar auch noch darüber.“ Den nun keiner von uns beiden ernstlich beiseitewühlen, bzw. ich -wühlen lassen wollte Er nämlich a u c h | fand spannender, und zwar sehr viel mehr, → mein Tattoo. Wobei ich gar nicht weiß, ob er weiß, daß ich ihn → in meinem Krebstagebuch zu aš-Šarīf Ḥusain b. aš-Šarīf ʿAlī al-Hāšimī, dem spätren also Faisal I, gemacht habe, mindestens indes zu Sir Alec Guinness. Wir sprachen nie darüber. Schöne Täowiererinnen warn eh ein sehr viel feinres Thema, so zwischen cisMann-Arzt und cis-Patient. Selbstverständlich sollte ich nicht deshalb meinen Hosenbund noch etwas weiter tiefer ziehen. Und lass‘ jetzt echt das Zoten s e i n. Aber wußten, Freundin, Sie, daß das US-amerikanische Wort „Sheriff“ eben von „Šarīf“ kommt, im Deutschen mithin „Scheich“? Der Wilde Westen, so gesehen, hatte eine arabische Exekutive. Zum Beispiel solche Zusammenhänge finde ich ganz besonders erheiternd. Zumindest in den Sprachen sind wir seit je global gewesen, sie brauchten eine -„ierung“ nie. Oder anders herum war schon der Sheriff-selbst „cultural appropriated“, und ist es nach wie vor.
[Abbruch wegen des Apotheken- und Einkaufsgangs]
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[Dienstag, 7. Dezember 2022
ICE 703 , 10.06 Uhr
Britten, Serenade für Tenor, Horn und Orchester]
Da kam ich gestern dann zu gar nichts mehr; heute Punkt sechs, und zwar sofort, hoch — und alles anders gemacht als sonst: nicht erst Latte macchiato und Morgenpfeife bei onlineLektüre des TAGESSPIEGELs, der NZZ und ZEIT, sondern den Kaffee zwar bereitet, aber parallel den Orangensaft (zum spätren Mitnehmen) gepreßt sowie den Eiweiß-Bananendrink (ebenfalls zum Mitnehmen) „geshakt“ und dann, diesmal gleich für zwei Tage, das zweite Frühstück vorbereitet, meine tägliche Caprese, nun aber Tomaten, Bufala, Basilico und Olivenöl salatartig vermischt und in eine Tupperware getan, diese gut abgedichtet, zwei Scheiben von Lindners unschlagbarem italienischen Landbrot in einer Papiertüte drauf, dann alles irgendwie in dem Stoffbeutel verstaut, den ich stets für solche Zwecke nehme.
Sowie mußte es jetzt ans „Schluß“- und besonderem „Klug“packen gehen, da ich für drei Tage ganz gewiß nicht den großen Rucksack nehme und dennoch ein zweites Paar Lederschuhe mitsamt den Holzspannern dabeihaben will; ich geh mit meinen Schuhen sorgsam um, kein Paar wird ohne eine Pause dazwischen länger als ein Tag getragen. Ist für die Füße a u c h gesünder. Interessanterweise gilt für Tabakpfeifen, sofern sie aus Holz, das gleiche, nur daß es auf letztre, also die Füße, keinen Einfluß hat. – Und nachdem ich im Bad war. wurde es Zeit, mich zu kleiden; herausgelegt und zusammengestellt h a t t e ich bereits, was ich tragen wollte, jetzt trage. Alles ist Form, wenn es gut sein soll, alles soll zur Kunst gehören; so wirken Alltagshaltung und literarische Formung wechselseitig aufeinander ein. Mein Tattoo treibt dies ins Extrem: Der Körper selbst wird Literatur. Ständig probiere ich vor allem auf der Handoberseite mit dünnem Filzer sowie Hautmarker weiter herum, will heute aber zurückhaltend sein, um nicht das Paar möglicherweise zu verschrecken, das ich heute abend in Salzburg treffen werde, um für die Hochzeitsrede das erste lange Gespräch zu führen – und es mitzuschneiden; aus dem „Protokoll“, also seiner Übertragung in die Schriftform, werde ich den ersten Entwurf der späteren Rede formulieren; ist immer rasend viel Arbeit, eine indes, die bislang durch meine Ergebnisse mehr als nur gerechtfertigt war. Wahrscheinlich werde ich das heutige Gespräch bereits morgen im Zug nach Stattgart, zum zweiten Paar auf dem Weg, übertragen
[Britten, Nocturne for Tenor, seven obligate instruments and orchestra op. 60
Ian Bostridge, Berliner Philharmoniker, Rattle]
und jetzt aber gleich an → die Triestbriefe gehen. Der Übergang in die (von mir auch für die Dichtung so genannte) Stretta endete folgendermaßen:
Nein, Schönste, das ist nicht nur Theorie von Kunst, sondern ihre Praxis. Und sie verändern sich auch, ja erst recht, nach den Sídhe, die in sie gefahren. Indes diese auch. Manchmal seid Ihr dann gar nicht mehr auseinanderzuhalten, manchmal gewinnt eine die Überhand, oder einer. Schließlich gibt es auch männliche Sídhe. Die meine, nun, heißt Lars. Nur daß ich nicht komponiere, jedenfalls keine Töne. Aus „componere‟, zusammenstellen, leitet der KLUGE1 es her. Lars die Noten, ich die Lettern; unsere Verfahren haben sich seit je überschnitten. Wahrscheinlich war das die Basis unserer Freundschaft, nun die meiner Liebe zu Dir, die die seine gewesen. Es ist nicht der geringste Moment meiner Hoffnung, daß Du mich anblicken werdest wie damals ihn. Übermorgen.
Übermorgen, ach!
Sie selbst beginnt dann so:
16.10 Uhr, Aufbruch. Zu früh, ich weiß, bin aber schon vor normalen Reisen nervös, auch wenn es nur zu Lesungen geht und nicht darum, die eigne Existenz grundsätzlich zu verändern. Die Furcht, den Bus oder Zug zu verpassen, hat eine andere Qualität, eine die fast schreit.
Erst U7 bis Yorckstraße, dann die S2 zum Südkreuz; die Bushaltestelle muß ich nicht mehr suchen, die kenne ich ja schon. Als ich die andere Fahrt aufgeben mußte, „Cancelled‟, es war wirklich nicht zu fassen.17.05 Uhr, Südkreuz, Hildegard-Knef-Platz. Aber das kann doch wohl nicht wahr sein! Abermals „Cancelled‟! Diesmal kein handgeschriebenes Blatt darunter. Aber ich werde mich nicht aufhalten lassen. Ich muß Dich endlich sehen, endlich. Zum allerersten Mal. Und also erzwingen, daß er kommt, dieser Bus. Allein mit der Kraft der Fiktionen.
Erst bin ich übrigens falsch gegangen, aus dem Ost- statt dem Westausgang raus. Da war natürlich nichts zu finden. Beim Tabacchaio gefragt, die freundliche Bedienerin, ein untersetztes Frauchen von allenfalls Fünfzig, schien wirklich betrübt zu sein. „Da müssen Sie wieder zu den Bahnsteigen hoch, einmal ganz durch und dann erst wieder runter. Dort dann links halten und draußen nochmal links.‟ „Haben Sie Dank. Ah jà, ein paar Cigarillos bitte, Natur, nicht mit den süßen Flavours.‟ „Oh, ich kenn mich da nicht aus.‟ „Was haben Sie denn so?‟
PETITS von Nobel. Die sind prima. – Ich rauche schon die dritte, als die beruhigende Anzeige, der Bus nach Triest fahre pünktlich ab um zwanzig nach fünf, soeben in dieses vermaledeite Cancelled wechselt. Ich begreif es aber sofort als einen letzten Versuch der Realiät, mich am Betreten des phantastischen Raumes zu hindern, das, wenn es gelingt, in der Tat ein Angriff und furchtbar für sie wäre, eine scharfe Attacke, auf dem feurigsten Roß des Fantasie gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten geritten, körperlich jetzt in meiner Person und nicht nur als Vorstellung, wenn ebenso qua Willen.
Und so wird es, gleichsam in Echtzeit geschrieben, bis zum Ende weitergehen: strikt im Präsenz. Wobei „Stretta“ selbstverständlich eine Beschleunigung, vielleicht sogar „action“, verlangt. Das werd ich dann noch hinbekommen müssen und will eigentlich bis Weihnachten oder in den ersten Rauhnächten fertig damit sein, um, sollte ich, was noch nicht heraus ist, auch dieses Jahr über Silvester zu dem Freund nach Umbrien reisen, in Amelia mit der zweiten Fassung zu beginnen. Es hätte dies etwas von einer Formklammer, hier Leben und ein langer Text erneut zusammengelegt. (Eine andere nicht wirklich „Überlegung“ als mehr bloß Idee ist, über Sivester noch einmal nach Triest zu fahren, um dort, dieses Jahr ein zweites Mal vor Ort, mit der Umarbeitung zur zweiten Fassung zu beginnen; dann lernte ich die Stadt auch im Winter kennen – was für die Erzählung aber, die ja nur im Sommer spielt, nicht wirlich nötig ist; andererseits vertiefte es meine Vertrautheit mit ihr, in der viele meiner Protagonisten halt auch im Winter leben. Und wenigstens einmal sollte ich die Bora an mir spüren.)
Gut, liebste Freundin, dies korrekturlesen jetzt, dann einstellen — und an den Roman!
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Ihr ANH , 11.27 Uhr
(Soeben in Erfurt eingefahren)
1Lektoratsanm.: Kluge, Etymologisches Wörterbuch, de Gruyter Berlin & New York 1999, S.467. „com‟ =‟zusammen‟; „ponere‟ aus „po-‟=‟ab‟ und „sinere‟ („situm)=‟niederlassen, niederlegen‟
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[14.17 Uhr, EC 115 (München Hbf durch)]
Eigentlich gehört das in die → Alltagsmythen:
(Schild auf Bahnsteig 14, dort mittendrin im Raucherbereich)