Triestbriefe: Das Finale als ein Jahreswechselritual. Angekündigt im Arbeitsjournal des Freitags, den 30. Dezember 2022. Bei Sonnenschein und Joni Mitchell. Mit einem, leider, Wort zum Tode Michael Hohmanns.

[Arbeitswohnung, 12.38 Uhr
Joni Mitchell, Hejira (1976)]

 

 

 

(Zweites Frühstück, 11.30 Uhr)

Joni-Mitchell-Tag, ich denke an den alten Freund Andreas Werda, der diese Sängerin, in die er schwer verliebt war, mir nahebrachte: auch ich, ihrer Stimme, verfiel sofort. Ich war einundzwanzig, als Hejira erschien. Was mich dann aber berauschte, war ein Jahr später Don Juan’s Reckless Daughter; die Doppel-LP riß mein e-musikalisches Herz (ein andres hatte nie | mein Ohr) ein- für allemal auch für den Jazz auf; vielleicht, weil Mitchell „eigentlich“ vom Folk kommt. Die junge Dame, die Andreas und ich gleichermaßen umschwärmten, sah ihr sehr ähnlich. Er übrigens, wenn auch immer nur kurz, kam in den – ich meine das Wort sehr emphatisch – Genuß. Und ich, ich habe noch heute ein Foto von ihr, das mich, liebste Freundin, Ihnen zu zeigen der Datenschutz nicht erlaubt. Seit Jahrzehnten habe ich keinen Kontakt mehr und kann sie also nicht fragen. Längst wird sie Mutter längst erwachsner Kinder sein. — Anke. Ah, die Melancholie!
Dabei bin ich’s gar nicht, melancholisch, sondern voller Drang. Denn ich weiß jetzt, weshalb ich nicht → zu Schulze (Parallalie) nach Italien fuhr. Der Gedanke kam mir am 27., als Broßmann und ich uns gegenseitig fragten, was wir an Silvester vorhätten. Ich hatte erst kochen wollen, Reh, für paar Freunde. Aber dann. Dann. Du schreibst in der Silvesternach den Triestroman zuende.
Das hat sich gefirmt; nichts andres will ich mehr, nur mit mir sein und meinen Figuren. Bis in den Neujahrstag hinein. Bis die erste Fassung s t e h t. Es warten im Kühlschrank bereits zwei Crémants de Loire. Ein wenig Gras ist auch da, für meine neue Indian pipe. Ich werde nur meiner tatsächlichen Reise nach Triest folgen müssen, der → vom September. Denn der Briefautor fährt hin, um die Adressatin der Briefe zu treffen. Wie das ausgehen wird, ahne ich gut genug, um drauf hinzuschreiben. Offen ist „nur“, ob der Roman enden wird, wo er enden sollte: in der Grotta Gigante. Doch dieses Ob bestimmt die Sídhe.

Damit ich’s aber schaffe, werde ich alles andere von nun an beiseitelegen müssen, morgens auch nicht mehr erst die Presse lesen dürfen, und also denke ich, Sie werden, hochverehrte Frau, das nächste Arbeitsjournal erst an Neujahr zu lesen bekommen und sehr wahrscheinlich da erst am Abend. Wenn das F i n e unterm Ende stehen wird oder mein p i n x i t oder f e c i t. Danach werde ich die kleine, halb schon fertige Erzählung für die Sonderausgabe von text+kritik komplettieren sowie, wenn sie hinausgeschickt ist, sofort mit der Überarbeitung zur zweiten Fassung beginnen, unterbrochen freilich von einem Hochzeitsredenprotokoll, aus dem ich bis Mitte Januar einen ersten Redeentwurf geschmiedet haben möchte. So daß der Januar mit strenger Tegesplanung anfangen wird, erste Hälfte jeweils Triest, zweite Hälfte Rede.
Ende Februar sollte die zweite Fassung des Romanes fertig sein, ist alles nur noch Fleißarbeit, und dann schon → an Elvira gehen können.

Oh, und dann erreicht mich soeben die Nachricht vom Tod Michael Hohmanns, den ich zwar nicht gut, immerhin aber doch kannte.

Er war für meine Literatur nie sehr offen, stand meiner Arbeit eher skeptisch gegenüber, vielleicht auch nur eigentlich, wie so sehr oft, meiner Person, doch wenn wir uns begegneten, war es immer fast ein bißchen freundschaftlich. Für Frankfurt am Main war er eine Kulturinstanz, die als solche stets meine Achtung hatte. Gerade einmal ein  Jahr älter als ich, ist er am ersten Weihnachtstag dieses Jahres verstorben. Woran, weiß ich noch nicht.
Ich schließe dieses Journal mit einer Verbeugung vor ihm. Es ist nun, nach Werner Ost, der zweite große Verlust, der der Literaturstadt Frankfurtmain in diesem durchaus unheimlichen Winter zugefügt wurde. So gehn wir alle nach und nach. Schon deshalb ist es dringend Zeit, aufzubrechen → nach Triest:


Denn solche Menschen ehren wir am tiefsten, wenn wir weiterdichten und am Leben halten, für was sie selber lebten.

ANH
[Joni Mitchell, Face Lift (1998)]

 

 

I went so numb on Christmas day
I couldn’t feel my hands or feet
I shouldn’t have come
She made me pay
For gleaming with Donald down her street
She put blame on him
And shame on me
She made it all seem so tawdry and cheap
„Oh, let’s be nice, Mama, open up your gifts
You know, happiness is the best facelift“I mean, after all, she introduced us
Oh, but she regrets that now
Shacked up downtown
Making love without a license
Same old sacred cow
She said, „Did you come home to disgrace us?“
I said, „Why is this joy not allowed?
For God’s sake, I’m middle-aged, Mama
And time moves swift
And you know happiness is the best facelift“ 
Oh, love takes so much courage
Love takes so much shit
He said „You’ve seen too many movies, Joni“
She said „Snap out of it!“
Oh, the cold winds blew at our room with a view
All helpful and hopeful and candlelit
We kissed the angels and the moon eclipsed
You know, Happiness is the best facelift

We pushed the bed up to the window
To see the Christmas lights
On the east bank across the steaming river
Between the bridges lit up Paris-like
This river has run through both our lives
Between these banks of our continuing delights
Bless us, don’t let us lose the drift
You know, Happiness is the best facelift.

 

2 thoughts on “Triestbriefe: Das Finale als ein Jahreswechselritual. Angekündigt im Arbeitsjournal des Freitags, den 30. Dezember 2022. Bei Sonnenschein und Joni Mitchell. Mit einem, leider, Wort zum Tode Michael Hohmanns.

  1. Joni Mitchell mag ich auch sehr. Viele ihrer Aufnahmen haben eine so sehr private Intensität und Wärme, dass man sich mit ihrer Musik wie bei sich selbst zuhause fühlt… Wie das erste Eintauchen in eine Badewanne mit sehr warmem Wasser. River liebe ich zum Beispiel sehr. Neben vielen anderen.

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