Ein vor dem Ende | ganz zärtlich Intervall. Nabokov lesen, 47: Ada oder Das Verlangen, Nr. 6.

Ich möchte die Zeit liebkosen.
Ada 655

                                                 Und dann sind sie vorbei, diese siebzehn Jahre, die Adas Ranchergemahl um zu sterben gebraucht, jeden einzelnen, schließlich sechstausendeinhundertsechsunddreißig mal vierundzwanzig Stunden allminütlichen Siechtums. Nach deren Ablauf erst ist Mrs. Vinelander frei. Etwas weniger als drei Monate nimmt sie sich nun Zeit, bevor sie dem Geliebten kabelt, ihrem, wenn unterdessen auch beleibten, sagen wir, Ardonis, der in den knapp zwei Dezennien seines intensivfernen Liebens

die Pyraniden von Ladorah (die er hauptächlich wegen des Namens besuchte) bei einem Vollmond

betrachtete,

der die mit spitz zulaufenden schwarzen Schatten intarsierte Sandwüste versilberte. Er ging mit dem Britischen Gouverneuer von Armenien und desen Nichte am Van-See auf Jagd. Von einem Hotelbalkon in Sidra[1]i.e. „Ardis“ rückwärts gelesen wurde seine Aufmerksamkeit (…) auf die Spiegelung eines orangeroten Sonnenuntergangs gelenkt, der die Wellen eines lavendelfarbenen Meeres in Goldfisch-Schuppen verwandelte und ihn die bizarren kleinen, gestreiften Zimmer ertragen ließ, die er mit seiner Sekretärin (…) bewohnte (…). Er lernte den besonderen kleinen Kitzel schätzen, in fremden Städten dunklen Seitenstraßen zu folgen, obwohl er wußte, daß er nichts entdecken würde außer Schmutz und Langeweile (…) und (…) spürte oft, daß die berühmten Städte, Museen, antiken Folterhäuser und Hängenden Gärten nichts als Flecken auf der Landkarte seines eigenen Wahnsinns waren.
Ada 547/548

Und als Psychologe, der er geworden, schreibt er seine wissenschaftlich-philosophischen Bücher, in denen er sich mit der Zeit anlegt – mit ihr nämlich an sich.

Ganz plötzlich bemerkte er dann, daß drei, sieben, dreizehn Jahre in einem Zyklus der Trennung und dann vier, acht, sechzehn in einem weiteren verflossen waren, seit er Ada zuletzt umarmt, gehalten, beweint hatte. Zahlen und Reihen und Serien – Albtraum und Fluch als Marter reinen Denkens und reiner Zeit – schienen darauf gerichtet, seinen Geist zu mechanisieren.
Ada 548

Wie Anti-Terra Antipodin von Terra, zugleich deren poetische Verwandlung ist als Einspruch gegen den Heimatverlust, der sich in seiner Mutter, Marina Veen, geb. Durmanow, gleichsam wiederholt hat –

Zusammengekauert in einem letzten Streifen tiefstehender Sonne, auf einer Bank, wo[2]Übersetzerisch leider nicht schön, hier dieses „wo“; ANH er kürzlich eine von ihm favorisierte, linkische schwarze Studentin gestreichelt und gestoßen hatte, quälte sich Van mit Gedanken über ungenügende Sohnesliebe – eine lange Geschichte aus Gleichgültigkeit, belustigter Geringschätzung, körperlichem Widerwillen und gewohnheitsmäßigem Abtun. Er blickte um sich, verzweifelte Abbitte leistend, ihrem Geist gebietend, er möge ihm ein unmißverständliches und in der Tat all-entscheidendes Zeichen fortgesetzten Seins hinter dem Gewebe von Zeit, jenseits des Fleisches von Raum, geben –,
Ada 551

widerlegt er, Nabokov mit Van, sogar die Relativitätstheorie – ein auf Terra physikalischer Unfug, der peinlich nur deshalb nicht ist, weil er einerseits ironisch daherkommt,

Ich weiß, Relativisten, verstrickt in ihre „Lichtsignale‟ und „Reisewecker‟, versuchen, die Idee der Gleichzeitigkeit in einem kosmischen Maßstab zu zerstören,
Ada 665

vor allem aber, andererseits, für Anti-Terra (Demonia) poetisch vollkommen stimmt, „vollkommen‟ in – wie denn auch anders bei diesem Wort? – jeglicher Lesart:

Die Unbewußtheit (…) umhüllt sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart von allen denkbaren Seiten, weil sie nicht ein Merkmal von Zeit selbst ist, sondern von organischem Verfall, der allen Dingen eignet,

auch, wie wir gleich lesen werden, Ada (sofern wir selbst sie einmal als ein Ding verstehen wollen, uncharmanterweise),

ob sie sich nun der Zeit bewußt sind oder nicht. Daß ich weiß, andere sterben, ist in diesem Fall irrelevant. Ich weiß auch, daß Sie und ich, wahrscheinlich, geboren wurden, aber das beweist nicht, daß wir die zeitliche Phase, die ‚Vergangenheit‛ heißt, durchlaufen haben (…),
Ada 653

statt dessen er den Phänomenen „Raum‟ und „Zeit‟ jeweils ein anderes Sinnesorgan zuschreibt:

Wenn mein Auge mir etwas über Raum sagt, sagt mir mein Ohr etwas über Zeit. Aber während Raum betrachtet werden kann, naiv, vielleicht, doch direkt, kann ich der Zeit nur zwischen Anspannungen lauschen, für einen kurzen konkaven [!!!, ANH] Moment, wachsam und wehmütig, mit der wachsenden Erkenntnis, daß ich nicht der Zeit selbst lausche, sondern dem Blutstrom, der durch mein Gehirn und von dort durch die Venen des Halses zum Herz läuft, zurück zum Sitz privater Agonien, die keine Beziehung zur ‚Zeit‛ haben.
Die Richtung von ‚Zeit‛, der Pfeil der Zeit, einbahnige Zeit, hier ist etwas, das mir einen Augenblick lang nützlich zu sein scheint, aber schon im nächsten Moment auf die Ebene einer Illusion hinabsinkt.
Ada 657/658

Was zumindest für Van bedeutet, daß Ardis immer noch Gegenwart ist – wie für Nabokov Wyra[3]Den jungen Vladimir hatte die Mutter, wie → Brian Boyd in seiner zweibändigen Biographie schreibt, immer wieder mit den Worten „Wot sapomni“ (vergiss mir das nicht) ermahnt. Von früh auf … Continue reading, dem – vor dem Exil – russischen Landsitz der Familie. Um sich dies zu ermöglichen, muß er Zeit gewissermaßen kontinuieren; sie ist ihm – trotz ihres rhythmischen Seins ein Zustand, nicht Verlauf:

Vielleicht ist das einzige, was auf einen Zeitsinn hinweist, Rhythmus; nicht die wiederkehrenden Schläge des Rhythmus, sondern die Lücke zwischen zwei schwarzen Schlägen (…): das Zärtliche Intervall.
Ada 657

weshalb er nach schlichtweg logischem Schließen die Zukunft — weil sie

jenseits unserer Vorstellungen und Gefühle (bleibt). In jedem Augenblick ist sie eine Unendlichkeit sich verzweigender Möglichkeiten
Ada 688

— zur Fiktion erklärt, und die Vergangenheit

demnach eine konstante Anhäufung von Bildern (wird). Sie kann leicht betrachtet und belauscht, aufs Geratewohl getestet und gekostet

— gekostet ..!

werden, so daß sie aufhört, jenen planmäßigen Wechsel miteinander verbundener Ereignisse zu bedeuten,

was sie zur Gleichzeitigkeit werden läßt, ecco!

wie sie es im weiten theoretischen Sinne tut. Sie ist jetzt ein üppiges Chaos, aus dem der Genius totaler Erinnerung, an diesem Sommermorgen des Jahres 1922 herbeizitiert, alles nach Herzenslust herauspicken kann: übers ganze Parkett verstreute Brillanten im Jahre 1888; eine rothaarige Schönheit mit schwarzem Hut in einer Pariser Bar 1901; eine feuchte Rose zwischen künstlichen 1882; das verträumte Halblächeln einer jungen englischen Governante 1880, während sie säuberlich die Vorhaut ihres Zöglings nach der Gute-Nacht-Vergnügung wieder schließt;
Ada 667

auch deshalb wohl hat Nabokovs wohl bisher größter Biograf, Brian Boyd, diesen Roman „eine einzige große „Wunscherfüllungsphantasie‟[4]Brian Boyd: Ada. In: Vladimir E. Alexandrov (Hrsg.): The Garland Companion to Vladimir Nabokov. Routledge, New York 1995 genannt – was gewiß zu kurz reicht, nämlich viel zu weit: unwahrscheinlich, daß der Ada permanent durchziehende Verlust, der doch eben aufgehoben werden soll, auf des Autors Wunschzettel stand; genauso wenig wird auf ihm zu lesen sein, wie das Alter auch an Adas Leib herumgeknetet und ihn dehnend aus der Form gebracht hat:

Sie trug ein Korsett, was die unvertraute Stattlichkeit ihres Körpers noch betonte, der in ein schwarzsamtenes Gewand von fließendem Schnitt gehüllt war, zugleich exzentrisch und klösterlich, wie

ausgerechnet!

ihrer beider Mutter es bevorzugt hatte. (…) Hals und Hände waren so empfindlich blaß wie immer, zeigten jedoch fremde Fasern und geschwollene Adern. Sie machte reichlich Gebrauch von Kosmetika, um die Linien an den Außenwinkeln ihrer dicken, karmingefärbten Lippen und dunkel beschatteten Augen zu verbergen, deren undurchdringliche Iris jetzt infolge eines nervösen Zuckens ihrer angemalten Wimpern eher myopisch denn mysteriös zu sein schienen. (…) Nichts war übrig von ihrer linkischen Anmut, und die neue Gereiftheit und das Samtzeug hatten ein irritierend würdiges Aussehen von Hindernis und Abwehr.
Ada 682/683

Immerhin gibt es sinnliche Konstanten, und da es hier um die Zeit geht, um Zeit, sind sie akustischer Natur:

Nun ergab es sich so, daß sie niemals (…) per Telephon mit ihm gesprochen hatte; folglich hatte das Telephon die eigentliche

zeitliche eben

Essenz, das helle Vibrieren ihrer Stimmbänder bewahrt, den kleinen „Sprung‟ in ihrem Kehlkopf, das Lachen, das sich an die Kontur des Satzes klammerte, als fürch[te]te es, vor lauter Jungmädchen-Freude

welch eine Formulierung wieder!:

von den raschen Wörtern zu rutschen, auf denen es ritt. Es war das Timbre ihrer beider Vergangenheit (…) – und, was besonders entzückend war, [war] die Tatsache, daß ihr die Modulationen, die ihn hinrissen, absolut und auf unschuldigste Weise unbewußt waren.
Ada 681

So daß, weil im Klang eben die Zeit stabil bleibt, der Raum – jener von Adas Erscheinung – die Kontinuität dieser Liebe so wenig stören kann, wie siebzehn Jahre zuvor Ada Vans freshmanhafte Erscheinung, als ihre letzten Zusammentreffen

den höchsten Grad ihrer

damals

einundzwanzig Jahre alten Liebe

dargestellt hatten:

ihr kompliziertes, gefährliches, unsagbar strahlendes Mündigwerden.
Ada 634

Da hatte sie sie, seine Erscheinung, auf nichtnabokovsch warme, ja zärtliche Weise folgendermaßen kommentiert:

Oh, ich mag dich lieber mit dem netten Übergewicht – es gibt dann mehr von dir.‟
Ada 636

(Den Schnurres allerdings, den sollte er sich abrasieren). — Was seinerzeit aber noch geklappt hatte, daß ihre

Befangenheit, die als dumpfer Schmerz nach den heftigen Folterqualen von Fatums Chirurgie fortdauerte, bald in sexueller Begierde ertränkt zu werden

pflegte

und es dem Leben zu überlassen, sich nach und nach wieder hochzurappeln [,]

ist nunmehr keine Option mehr.

Jetzt waren sie auf sich selbst [!!] gestellt [,]
Ada 683

da sich auf seiner braunfleckigen Hand

ihr gemeinsames Muttermal zwischen den Altersflecken verloren hatte wie ein kleines Kind im Herbstwald [,]
Ada 684/685

was Nabokov, weil es so schmerzhaft ist, ganz unbedingt mit einer leicht höhnischen Nebenerzählung hinwegquittieren muß:

Baynard hatte seine Cordula

die auch mal seine, Vans, Geliebte war gewesen,

geheiratet, nach einer sensationellen Scheidung – schottische Tierärzte hatten ihrem Ehemann die Hörner absägen müssen (letzter Aufruf für diesen Witz).

Denn

Hätten sie diese siebzehn elenden Jahre zusammen gelebt, wäre[n] ihnen der Schock und die Erniedrigung erspart geblieben; ihr Altern wäre ein allmähliches Angleichen gewesen, so unmerklich wie ‚Zeit‛ selbst.
Ada 686 ­

Nun werden sie zu Bitterheit, die, um nicht Verbitterung zu werden, nur einen Ausweg kennt. Es ist vielleicht an diesem Buch das allererstaunlichste, daß Nabokov ihn nimmt, obwohl Van jetzt noch schreibt, daß

Andererseits (…) ‚Zeit‛, philosophisch betrachtet, nur Gedächtnis im Entstehen
Ada 686

sei.

In jedem individuellen Leben vollzieht sich von der Wiege bis zur Bahre

unschön freilich, diese Stanze zu bemühen; selten, daß ich bei Nabokov mal zusammenzucken muß,

die allmähliche Formung und Stärkung jenes Bewußtseins-Rückgrats, das die ‚Zeit‛ der Starken ist. „Sein‟ heißt wissen, man „ist gewesen‟. „Nicht sein‟ enthält die einzige „neue‟ Art von (Schein-) Zeit: die Zukunft. Ich lehne sie ab. Leben, Liebe, Libri haben keine Zukunft.
Ada 686/687

Die Tür zu seinem Ausweg aber, der auch der unsre sein wird, stets, öffnet ihm gleichsam das Exposé seines Vorhabens, seinen und Adas Roman zu erzählen, der an dieser Stelle schon fast vor seinem Abschluß steht, nämlich

eine Art von Novelle in der Form einer Abhandlung über die ‚Textur der Zeit‛ zu schreiben, eine Untersuchung über ihre schleierhafte Substanz, mit illustrierenden Metaphern, die allmählich zunehmen und ganz allmählich eine logische Liebesgeschichte aufbauen, vom Vergangenen zum Gegenwärtigen führend, als eine konkrete Geschichte erblühend und genauso allmählich Analogien umkehrend und wieder in reine Abstraktion

denn das ist der Tod

zerfallend.
Ada 691

Doch davon erst beim letzten Mal, wenn uns das große Buch

verkündet. Wonach wir, Freundin, von diesem Roman denn Abschied werden nehmen müssen. In uns wird er aber b l e i b e n .

Ihr ANH
21. Mai 2023

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Nabokov lesen 46

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References

References
1 i.e. „Ardis“ rückwärts gelesen
2 Übersetzerisch leider nicht schön, hier dieses „wo“; ANH
3 Den jungen Vladimir hatte die Mutter, wie → Brian Boyd in seiner zweibändigen Biographie schreibt, immer wieder mit den Worten „Wot sapomni“ (vergiss mir das nicht) ermahnt. Von früh auf hatte sie, die jedes Mal den Boden küsste, wenn sie auf dem Landsitz in Wyra ankam, die imaginativen, poetischen Talente ihres Sohns gefördert. Und dieser beherzigte die Mahnung ein Leben lang, die Wyra-Nostalgie ist in Brian Boyds Nabokov-Biographie das wichtigste Leitmotiv der ersten vierzig Lebensjahre. Einen Abglanz der zurückersehnten Vergangenheit konnte Nabokov dabei nur an wenigen Orten in der Welt wirklich heraufbeschwören, wie die Briefe an Véra zeigen. Zwischen Titisee und Waldshut aber muss es ihm gelungen sein.
Wie könnte ich den Verstand nicht verlieren? in: FAZ, 18.9.2016
4 Brian Boyd: Ada. In: Vladimir E. Alexandrov (Hrsg.): The Garland Companion to Vladimir Nabokov. Routledge, New York 1995

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