Meyer-Kupferman-Tag. Zum Seminarvorbereitungs-, Sappho-Zueignungs- und sonstigem Arbeitsjournal des Donnerstags, den 11. Januar 2024. Und daß meinen „Psappholieder“ Bierl, bekäme er von ihnen Kenntnis, sehr wahrscheinlich skeptisch, wenn nicht scharf ablehnend sogar gegenüberstünde. (Sappholieder, 9).

 

           Mein Sohn hat jetzt immer häufiger live-Auftritte → mit seiner Musik, ist sich aber noch unsicher, ob auf der Bühne zu stehen „sein Ding“ eigentlich ist, wiewohl er den offensichtlich starken Applaus sehr genießt. „Es ist einfach etwas anderes, ob ich im Studio so nahe ans Mikro gehe, daß ich im Baß sprechen kann, oder ob ich’s vor einer versammelten laut rufenden, teils kreischenden Menge tu; da geht das so einfach nicht, da muß ich alles eine Oktave höher anlegen, um überhaupt verstanden zu werden“, erzählte er gestern abend, als er – zum ersten Mal im neuen Jahr – zu mir in die Arbeitswohnung kam, „nur auf eine Stunde, dann muß ich wieder los“ —

— doch um einiges länger blieb, auch weil wir in ein politisches Gespräch gerieten. Selbstverständlich sieht er die auf uns zukommenden
Gefahren überaus klar, kennt aber einige Hintergründe nicht, die ich selbst
noch erlebt habe, besonders nachdrücklich in meiner Börsenzeit, in die
sowohl die erste Intifada, Alfred Herrhausens Ermordung und der Fall
der Mauer fielen; auf beide letzten Geschehen habe ich eine durchaus
abweichende Perspektive, in jedem Fall ist das Bekenntnis der „dritten RAF“
nicht ohne einige Zweifel verdaubar. Damit, daß Kohl aus Madrid die Senkung
des Leitzinses verkündete, war die Finanzhoheit der Bundesbank gebrochen,
für die Herrhausen unerbittlich eingestanden hatte. Ich erinnere mich noch gut,
wie erbost Kurt Richerbächer, der bei uns ein bißchen Spielgeld hatte, in unsren
Tradingraum stürmte und mir zurief: „Herr v. Ribbentrop, Kohl hat Landesverrat
begangen!“  Die politische Unabhängigkeit war, hierzu im scharfen Gegensatz zur
US-amerikanischen FED, eine d e r Säulen derSozialen Marktwirtschaft;
spätestens seit Kohls Verkündigung ist sie kaputt. Darüber rollte dann die deutsche „Wiedervereinigung“ hinweg. —

          Am Sonnabend also trat auxcapri, von seinen Fans unterdessen kurz „Capri“ genannt, was übrigens → darauf zurückgeht, in Leipzig auf, morgen wird er für einen Aufritt nach Luxemburg fliegen, in einer Woche folgt einer hier in Berlin; da wär sein Vater gerne Mäus’chen, was indes dem Dichter nicht steht; sowieso sei längst schon ausverkauft, er habe nicht mal Gästekarten. Dennoch bleibt der Vaterstolz — oder so erst recht.

[Arbeitswohnung, 11.57 Uhr
Meyer Kupferman,Fourth Symphony]
          Die Entdeckung dieses US-Komponisten war wieder mal das Ergebnis eines Schallplattenfundes auf dem Grabbeltisch, noch in meiner Bremer Zeit Mitte bis Ende der Siebzigerjahre; anders als der Harrison packte mich → Kupfermans Cellokonzert sofort und gehörte einige Jahre lang zu meinen Lieblingsstücken. Seine Kombinatorik harmonischer (spätromanticher) Klänge mit 12-Ton-Musik und Jazz gefällt mir bis heute und wie er, etwa jetzt in der Vierten, variierend Mozart zitiert und plötzlich nach Neoklassizismus klingt. Vermischung gehört, wie Sie, Freundin, sehr gut wissen, zu meinen ästhetischen Grundkategorien, und zwar sowohl der Formen als auch der erzählten Inhalte, etwas, das, glaube ich, die Mythen „ausmacht“, auf die ich mich immer wieder beziehe. Und wenn übermorgen der erste Seminartag meines diesjährigen Bamberger Lehrauftrags stattfindet, werde ich mich vor den Studentinnen und Studenten — zweiunzwanzig haben sich angemeldet, was wirklich enorm ist — genau das mit zur Sprache bringen.
Die diesjährige Aufgabenstellung habe ich wie folgt skizziert:

Anschließend an meinen letzten Bamberger Lehrauftrag, den die Studentinnen und Studenten im WS 2021/22 dem Thema des autobiografischen Schreibens widmeten (da noch in Zoom), möchte ich nun darüber hinausgehen, w e i t hinaus, und Sie ihre eigene Lebensgeschichte als einen Roman auffassen lassen, d.h. daß Ihr Schreibprozeß nicht mehr der objektiven Alltagsrealität, sondern einem Wie es auch gewesen sein könnte / Wie es auch werden könnte verpflichtet sein wird. Wir werden sehen, daß wir damit poetisch in einen anderen Wahrheitsmodus eindringen werden, für den Wahrheit nicht mehr nur Übereinstimmung einer Sache oder Angelegenheit mir ihrer (meß-, bzw. beweisbaren) Alltagsrealität ist, sondern einen emphatischen Klang bekommt. Ich möchte erreichen, daß Sie mit Ihren Texten genau diese Erfahrung machen sozusagen körperlich.
(Detaillierte Ankündigung der Uni → dort.)

Freilich kompliziert wird, wegen des Lokführerstreiks, die Anfahrt. Ich habe sicherheitshalber einen recht frühen Zug, der laut Notfahrplan auch eingesetzt sein soll, schon für morgen gebucht, werde also bereits am späten Mittag in Bamberg sein. Leider wird Nora Gomringer, schreibt sie mir grade, nicht in der Concordia, sondern dann schon auf dem Weg nach Ingolstadt sein. Da meine Übernachtgastgeberin erst ab 18 Uhr frei ist, werd ich mich also wohl in ein Café setzen und einfach etwas lesen.

Heute jedenfalls mal alles durchhören, was ich von Kupferman in meiner Musikothek habe, und dabei – für das Sapphobuch – weiter an dem allein deshalb nicht „freien“ Zueignungsgedicht, weil ich’s im Metrum der stropha Sapphica baue. Hier die erste von, ich weiß noch nicht wie vielen Versen:

„Psappho“ füsternd, lege ich Ihnen, Sappho,
hiermit meine Verse zu Füßen und hoffe
demutvoll auf eine mir zugeneigte
freundliche Milde.

 Ebenso wenig weiß ich schon, was ich in diesem Gedicht alles erzählen werde. Deshalb nehme ich dieses Arbeitsjournal in die → Sappho-Reihe nicht auf; die Zueignung[1]Hübsch: Nur ein Konsonant umgeordnet, und es verrät sich meine Zuneigung. sollte erst etwas weiter gediehen sein. Klargeworden ist mir allerdings, daß ich das Buch nicht „Sappho-„, sondern „Psappholieder“ oder vielleicht „Psappho . Lieder“ nennen werde. „Psappho“ ist die Koseform des Namens, die die Dichterin für sich selbst gern verwendet hat[2]Weil niemand sonst sie so ansprach?. Um so skeptischer wird, solle er von meinem Projekt Kenntnis erlangen, Anton Bierl ihm gegenüberstehen, vielleicht sogar es scharf ablehnen. Womit ich leben könnte und würde, denn ich weiß selbst,welch, sagen wir, Sakrileg es bedeutet.
Also Bierl, in diesen Belangen geradezu nabokovianisch[3]In Sachen Gedichtübersetzung hat sich Nabokov extrem gegen nachdichtende Aneignungen gestemmt und darauf gepocht, alleine der Sinn eines Gedichtes sei zu erfassen. Was meinerseits ich problematisch … Continue reading, schreibt:

Nicht eine „transponierende“ Übersetzung in hohe poetische Formen (…) samt Übertragung in die dort üblichen Versmaße wird der Dichterin gerecht, sondern das Bestreben, so nahe wie möglich den Wortlaut und die Satzstruktur der klaren Gedankenfügung des Originals zu bewahren (…) und zugleich bisweilen an unsere Alltagssprache heranzuführen. (…) Allzu deutliche Vergegenwärtigung ist freilich kontraproduktiv, vielmehr muss das archaisch wirkende Fremde in seiner schlichten Blöße spürbar bleiben. (…)
Es ist also verfehlt, die Lyrikerin Sappho im Gewand eines altrneisterlichen überhöhend-literarischen Deutsch umzu­ dichten. Archaische Lyrik hatte einen Sitz im Leben, ging auf in der Pragmatik, war anlassgebunden und besaß eine Funktion im kommunikativen Prozess. Sie ist weder am Schreibtisch ausgefeilte Gedankenlyrik noch Aufschrei des Gefühls noch Erguss des Inneren, sondern eine situativ bedingte Performance eines autoritativen Worts, das im Hier und Jetzt an ein bestimmtes Publikum gerichtet war. Sapphos Sprache ist deshalb meistens erstaunlich einfach, gegenständlich, direkt, uverstellt, unumwunden offen, z.T. entwaffnend deutlich und klar. (…) Das Wort versteckt sich nicht hinter einer prunkhaften Fassade, sondern zielt frontal auf die Aussage, auf Personen, fokussiert Gegenstände, Stimmungen und Erscheinungen. Der Stil ist ohne größeren Ornat, sondern immer kristallklar an dem Gehalt und der Idee orientiert. (…)
Zugleich ist die text-, sinn- und energiegetreue nackte Wiedergabe das adäquate Mittel, die Brüchigkeit und Lückenhaf­tigkeit des Textes zu vermitteln. Es g(i)lt, exakt den dürftigen bis kläglichen Verlauf der Worte zu dokumentieren – das Er­gebnis kann einen eigenen Lektürereiz erzeugen.

Andererseits hab ich ja nicht vor, die Fragmente tatsächlich nachzudichten — na gut, die No 1 vielleicht doch —, sondern will unter Bezug auf die Framente eigene Gedichte zu schreiben, Palimpsestgedichte, wenn Sie so wollen. Nun allerdings, indem ich Bierl derart ausführlich zitiere, muß dieses Arbeitsjournal d o c h → in die Reihe mit hinein, als nunmehr mithin No 9.

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Sappholieder 10

Sappholieder 8

 

Ihr ANH
[16.01 Uhr
Kupferman, → Fantasy Concerto for Violin and Orchestra]

References

References
1 Hübsch: Nur ein Konsonant umgeordnet, und es verrät sich meine Zuneigung.
2 Weil niemand sonst sie so ansprach?
3 In Sachen Gedichtübersetzung hat sich Nabokov extrem gegen nachdichtende Aneignungen gestemmt und darauf gepocht, alleine der Sinn eines Gedichtes sei zu erfassen. Was meinerseits ich problematisch finde, weil dieser Sinn auch in der Aura der Wörter klingt, in ihrem klanglichen Schwingen; ebenso bindet das Versmaß den Sinn: der Leib in einem Korsett ist ein anderer, selbst dann, wenn nur Bekleidung dieses Korsett ist.

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