Ich meine, 100.000 Teilnehmer[1]Nach Angaben der Polizei. Die Veranstalter sprechen dagegen von 350.000. Dazu → dort im TAGESSPIEGEL recht erhellend ein Bericht. auf der Gegen-Rechts-Demo ist doch schon mal klasse, hier für Berlin – auch wenn die Münchener die geradezu doppelte Anzahl Füße in Bewegung zu setzen verstand, 400.000, also Füße — in der Tat für ein solches Örtchen zu viel; es mußte dor denn auch – aus Sicherheitsgründen, heißt es – abgebrochen werden; im noch viel kleineren Bamberg kamen, obwohl die Regnitz deutlicher gefährlicher ist als in München die Isar, 6000 Menschen zusammen, ebenfalls also enorm. Meinen Studentinnen und dem einen Studenten hatte ich, dran teilzunehmen, auf eine Weise freigestellt, daß sich davon sprechen ließe, ich hätte sie direkt dazu aufgefordert. War auch meine Intention. Leider folgten ihr nicht alle; so setzte ich, obwohl ich selbst gern mitgegangen wäre, das Seminar fort. Was mich dann überraschte, war, daß „meine“ Demonstrantinnen nach Ende des Marsches wieder in die Uni zurückkehrten. Irgendetwas mache ich richtig.
Fast alle hatten → die durchaus anspruchsvolle Hausaufgabe erledigt, einige sie auch abgegeben, per Mail, doch erst am Freitagvormittag, eine Studentin sogar am Abend. Anderthalb davon konnte ich während der Zugfahrt und nächstmorgens zwischen sechs und acht Uhr lektorieren, so daß wir uns vormittags vermittels Overhead-Projektor der insgesamt vorliegenden Arbeiten gemeinsam annehmen konnten. Nur ein oder zwei Teilnehmeende hatten keinen Ansatz gefunden. Sie werden’s aicher aber noch. Mein Ziel ist es, daß bis Ende dieses Lehrauftrags jede und jeder einen literarischen Text in Händen hält, der sich auch vorweisen läßt. Dazu müssen die jungen Leute freilich durch die Kärrnerarbeit des permanenten Korrigierens, teils Umwerfens, in jedem Fall Wieder- und Wiederumarbeitens durch. Was mühsam zwar bleibt, aber dann verlockend ist, wenn Menschen ein Gelingen spüren, mehr und mehr. In jedem Fall ist es erstaunlich, zu welchen Ansätzen sie jeweils schon gefunden haben; es ist wirklich keiner dabei, der nicht erfolgversprechend wäre; bei einigen sofort sichtbar, bei anderen muß ein bißchen umgegraben werden. Wie oft in solchen Seminaren vermittle ich vor allem das Handwerk – das Handwerkszeug aber auch: und das kommt ohne Theorie nicht aus. Wobei ich immer wieder meine eigenen Theoreme (oder sagen wir: Thesen) einstreue; da bin ich durchaus selbstbewußt. Von einer der begabtesten Studentinnen, die allerdings auch kurz davor steht, daß ich sie „eine Kollegin“ nennen müßte, kam denn auch scharf Widerspruch — nicht generell, indes in Sachen, nun jà, „Pathos“, Pathos und Dramatik. Sie vertrat dort eine germanistisch fast schon basal gesicherte Position etwa „in Sachen“ Ironie, der meine eigene Ästhetik diametral entgegensteht; d.h. ich, als Dozent, geriet in eine Verteidigungsposition. Was dem Lehrprozeß insgesamt aber guttut, sowohl mir, als auch den Studentinnen und Studente, die nun selber entscheiden müssen, anstatt sich aufs Wort der vorne stehenden, meinetwegen, „Autorität“ zu verlassen. Von einer „demokratischen Lehrdidaktik“ ließe sich’s sprechen. Vergessen, Freundin, wir nie, daß Hans Sachs ein Schuster war, und → Hilbig, rund 450 Jahre später, war ein Bohrwerksdreher. Große Dichterinnen und Dichter sind nicht notwendigerweise Akademiker, auch wenn’s zunehmend – leider – der Fall ist. Denn so verschwindet die Welt aus der Dichtung; jedenfalls besteht die Gefahr.
Nachmittags dann, am Sonnabend also, legte wir die Geburtstexte erst einmal beiseite, es ging ans Fundament des Schreibens von Romanen. Wie fange ich an, was brauche ich, um anzufangen? Na klar, erst einmal eine Idee, dann einen Konflikt, dann Charaktere, die ihn durchleben. Ab hier nun scheiden sich die Geister. Entweder ich gehe nach Lehrbuch vor: „klassische“ Plot-Entwicklung, Kapitelentwürfe, Schluß — lauter Schubladen, die ich nur noch ausfüllen muß. Imgrunde strikter Determinismus, tautologische Ästhetik: Was ich vorne reintu, das kommt hinten raus. Serien, heutzutage, werden derart gemacht. Dagegen steht die – vermeintlich postmoderne – „digressive“ Erzählung. Gerade sie freilich bedarf, um nicht einfach zu zerfließen, einer bei mir oft rhythmisierenden, ja metrisierenden Form.
Ich hatte Sternes „Tristram Shandy“ mitgebracht, 1760 (!!!), die Moderne fängt früh an. Nietzsche nannte diesen Autor den „freiesten Schriftsteller aller Zeiten“[2]Menschliches, Allzumenschliches, II, 113, womit er nicht nur unser heutiges Leipzig und Hildesheim mit allem Recht geradezu verhöhnt, sondern an ausgerechnet den „harmonisch-gestrengen“, klassischen Goethe anschließt[3]„Ich kenne noch immer seines Gleichen nicht in dem weiten Bücherkreise.“ Goethe an Zelter, 1830:
Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äußerlich nehmen zu können.
Dennoch, können sollte man sowas wie Plotentwicklung s c h o n — auch, wer, wie ich, jegliches Zielgruppendenken radikal ablehnt. Über das wir aber selbstverständlich diskutierten. Von der „Digression“ ging’s dann in die nächste Aufgabe: „Beschreiben Sie einen Unfall, irgendeinen, aber tun Sie’s in Form“ – kurzer Exkurs, Virginia Woolf, Henry James, James Joyce (fast hätt ich aus dem Wolpertinger etwas vorgetragen, aber verkniff’s mir) – „… in Form eines stream of consciousness, also einen inneren Monolog entweder des oder der Verunfallten oder einer Beobachterin, eines Beobachters.“ Mithin ging es nun um die bewußte – und eben dramaturgisch planvolle – Auflösung semantisch-grammatischer Strukturen (wobei ich „die Form“ selbstverständlich wieder hineinzog: jetzt aber als rhythmisch/metrisches Strukturwerkzeug).
In dieser Zeit waren die Demonstrantinnen weg, die die Aufgabe aber noch hörten und jetzt daheim für sich lösen und mir selbstverständlich auch diese Texte zum Lektorat noch schicken können. Insgesamt waren die Ergebnisse hier sehr gemischt. Was niemanden Wunder nehmen muß, wenn die Leute an der, nun jà, Ästhetik Juli Zehs „geschult“ werden, deren Bücher unterdessen Abi-Stoff sind — als politische Botschaften wichtig, denke ich, ästhetisch aber ein Verbrechen. So begräbt man die Dichtung. Nicht ganz falsch widersprach mir meine kritische Studentin aber auch hier entschieden: „Es sind doch dieselben Strukturen, die auch von der anderen, der gegnerischen Seite angewandt werden.“ Imgrunde sei es Agitation. Dem zuzustimmen, es aber unter Beisetzung „Doch auf der richtigen Seite“ zu relativieren, ist ästhetisch ein schwaches Argument, nämlich — keines.
Ich denke, daß wir diesen Komplex noch eingehender diskutieren müßten, bin mir aber unsicher, ob genug Raum dafür ist; wir haben ja insgesamt nur vier Tage. Das Thema kann ganze Semester füllen, wenn man sich auf es einläßt. Gefährlich, gefährlich, denn auch der Pop begänne da, eine höchst bröckelnde Rolle zu spielen; eir geräten sehr schnell gerieten Gefilde kultureller Anmaßungen. Was dem Zeit“geist“ nun überhaupt nicht gefiele. Bestimmte, auch eigentlich wichtige, ja grundlegende Fragen sind der Correctness Tabu. Also werden sie nicht mehr gestellt. Sich über dergleichen bewußt zu werden, darf ich klugerweise allenfalls antriggern. Zumal ich keine und keinen verletzen will. Wir sind doch so empfindlich geworden. (Empfindsam? „Sentimental Journey“?)
Interessant freilch, daß meine Art zu gendern, die jegliche Verhunzung der Sprache strikt vermeidet, so überhaupt keinen Widerspruch im Seminar auslöst; das hat durchaus etwas von Befreiung. Vielleicht, hm, kommt es ja noch. (Daß ich nicht von „Studierenden“ spreche, wurde sofort akzeptiert, als ich meine Gründe erklärte. Übrigens. — Im Seminar s i n d es Studierende freilich, nur halt danach auf der Straße nicht mehr.)
Und schon war der Tag wieder rum. Er war wundervoll verschneit. (St.Michael, leider wird immer noch saniert und bis 2025 unbesuchbar bleiben. In meiner Bamberger Zeit war dieses Kirchenkloster fast täglich Pilgerziel für mich.)
[Arbeitswohnung, 16.52 Uhr]
Für meine eigene poetische Arbeit hat der Lehrauftrag allerdings reichlich Konfusion gebracht. Immerhin warte ich noch immer auf die Anmerkungen meines Verlegers zu den Triestbriefen, die ich erst letztüberarbeiten kann, aber die Zeit drängt, wenn ich sie, die Bemerkungen und etwaigen Einwände, bekommen haben werde. So begann ich schon mal mit den Sappholiedern. Die aber nun ebenfalls unterbrochen sind. Das macht mich durch und durch kirre, und zwar so sehr, daß ich mal guckte, was es alles an liegengebliebenen, bloß angefangenen Erzählungen in meinen Dateihaufen gibt. Es sind viele, s e h r viele. Da ist nun die Verführung groß, die eine oder andere, wenn ich bei Sappho steckenbleibe wie gerade jetzt (immer noch → der Zueignungstext), aufzunehmen und fortzuführen. Dabei weiß ich genau, daß dies meine Konfusion erst recht aufkochen ließe. Obendrein sitzt mir das Finanzamt ein bißchen drohend im Nacken. Hab ich aber selbst verschusselt, ich seh’s ja alles ein. Nach dem 7. 2. werde ich eine Woche für Steuererklärungen einschieben müssen, dann im April noch einmal. Vor den Ergebnissen bange ich etwas; eine richtige Sorge lasse ich freilich nicht zu: fiskalische Verdrängung, wenn Sie so wollen. Von irgendwoher müßte mal ein guter Geldschwapp kommen, doch meine Ästhetk schließt ihn aus, jedenfalls seitens des Literaturbetriebs — was an meinen Büchern-selbst gar nicht liegt, sondern daran, daß ich sie geschrieben habe. Wir sprachen, Freundin, darüber längst genug; sinnlos, es immer und immer weiter zu tun. Nur manchmal halt kocht’s hoch. Und dann steht auch noch die 69, leider nicht die „Stellung“, vor der Tür, der letzten vor der Siebzig. Latelife crisis dürfen Sie’s nennen; das hat zumindest Witz, vor allem, wenn Sie sich vor Augen halten, daß ich lange Zeit geglaubt habe, ich müsse nur erst „etwas älter sein“, also in mein letztes Lebensalter treten, die Animositäten verschwänden dann schon. Ein Herr von siebzig Jahren würde doch nicht mehr derart ver- und vor allem geschmäht werden, zumal nach einem solch umfangreichen Werk, erst recht nicht nach – was ich, bis es so weit war, vor Augen aber gar nie hatte – einer Kanonisierung durch → text+kritik. Nun zeigt sich, die hat nix bewirkt. Denn ja! ich werd bald siebzig (und mir bangt davor), doch werd ich halt nicht älter. Mich hat ja selbst der Krebs nicht wirklich altern lassen, nicht einmal sonderlich empfindlicher werden. Selbst neulich noch die Lungenentzündung saß ich – ziemlich luxuriös in meinem Einzelzimmer – auf meinen beiden Arschbacken ab, anstatt doch wenigstens leidend zu liegen; und erst recht zog ich diese Krankenhaushemdchen nicht an. Sowas macht die Leute einfach fuchsig. Überdies noch mein Narzissmus! Ohne freilich d e n | wär ich schon lange tot. Deshalb greiselt er auch nicht, so daß man von einem Spleen sprechen könnte oder gar „Wunderlichkeit“. Vielmehr ist er mir über den schlimmsten Abgründen lebenslang eine wenn auch nur hängende Brücke gewesen, die darum reichlich schaukelte, huihui-huihui-hui! — etwas, das aber ebenfalls jung hält, fast so gut wie Kinder. Ich sollte ihm eine Hymne schreiben, zumindest ein kleines Dankesgedicht in sein Poesiealbum mitten hinein:
Narzissmus mein, ich bin ganz Dein,
Du hast mich fein geleitet,
hast früh mich vorbereitet,
zwar talentiert genug zu sein,
doch eben nicht berufen,
was andre vor mir schufen
fortzusetzen und zu feilen,
und dennoch es zu schaffen
zum Ärger all der Affen
die zu den Wärtern eilen,
um brav um die Bananen
anzustehn, und ahnen
vor Betriebsgekreisch
nicht einmal mehr, daß Pflicht
der Dichter und der -innen nicht
ob im Geiste oder Fleisch
ihnen zu gefallen ist,
schon gar als Moralist
und -in oder ergeben
in den Flattergeist der Zeit;
ich jedenfalls steh nur bereit,
die Stimmen zu erheben
für wirklich Not und Lust,
nicht um banalen Frust
und woken Biedermeier-Chic;
um das auch wirklich durchzuhalten,
ließ ich Dich Narziss in mir walten,
der nicht zu beugen ist.
Ihr ANH
P.S.
24. Januar, 19.44 Uhr
Dieses Arbeitsjournal konnte erst heute eingestellt werden, weil ich zum einen unbedingt den → Horcynus-Orca-Essay in Der Dschungel haben, ihn sozusagen aus der Jungen Welt → herauslösen wollte und weil zum zweiten das kleine Spottgedicht, so lustig es jetzt auch dahertappst, s o leicht zu schreiben nicht war; es hat mich vielmehr drei Tage gekostet, in denen ich immer mal wieder drangegangen bin, ohne es wirklich in den Griff zu bekommen. Es wurde erst soeben einigermaßen, sagen wir, „rund“.
Aber whouww!!! Allan Pettersson bei → France musique contemporaine! Es tut sich was! Wird → dieser große Komponist nun endlich dem Nibelungenhort der Musik tatsächlich zugeführt?
References
↑1 | Nach Angaben der Polizei. Die Veranstalter sprechen dagegen von 350.000. Dazu → dort im TAGESSPIEGEL recht erhellend ein Bericht. |
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↑2 | Menschliches, Allzumenschliches, II, 113 |
↑3 | „Ich kenne noch immer seines Gleichen nicht in dem weiten Bücherkreise.“ Goethe an Zelter, 1830 |
Ein Text ohne Ironie ist wie eine Suppe ohne Salz :-