[Probenfotos ©: Stephan Rabold / Staatsoper Berlin]
Eine größer Distanz als zu Heiner Müllers „Quartett“ nach (von ihm verschandelt) Laclos läßt sich kaum erspüren. Schon dieses Wort, „spüren“, ist ganz falsch. → Bei Müller und den Navigators wird unentwegt mit Wackersteinen aus Hohn geworfen und gefeixt dazu über das menschliche Leid. Das ist bei Büchners Woyzeck völlig anders, den wozzecksch Alban Berg noch härter faßt, weil formal fokussiert. Das Opfer wird als Opfer gezeigt und nicht müllerschgeil das Opfern gefeiert, obwohl das Opfer selbst zum Täter schließlich auch hier wird. Wir erleben zwar, wie bei Müller, den gnadenlosen Vollzug durch das Elend, es gibt und gibt kein Hinaus. Also der Pessimismus ist derselbe. Aber hier wird menschlich Stellung bezogen – und ohne jeden Kitsch, geschweige des Zynismus’.
Wenn das Kind am End’ allein zurückbleibt und steht da auf der Bühne, das Steckenpferderl zwischen den Schenkeln, „Hopp, hopp! Hopp, hopp! Hopp, hopp! “, dann sind wir nur beklommen – sogar, entsetzt zu sein, wäre jetzt einfach zu groß. Erst recht fürs Pathos hämisch perfekter Bonmots ist kein Platz. Uns wieder aufzurichten, bleibt den Gesprächen vorbehalten, weil wir die nachher führen dürfen.
Andrea Breths Inszenierung von 2011 hat über diverse Kalamitäten einen riesigen Hürdenlauf hinter sich: Erst mußte das Haus für sieben Jahre ins Schillertheater, dann kam Corona … doch am 14. Dezember schaffte sie es endlich auf die für sie vorgesehene Bühne, zwar nicht mehr mit dem auftraggebenden, nun leider schwer erkrankten großen Dirigenten, Daniel Barenboim, doch seinem unterdessen kaum noch minder bedeutenden Nachfolger Christian Thielemann. Allerdings hatte ich ihm recht skeptisch entgegengesehen; er ist hinreißend für das spätromantische, sagen wir heikel: „deutsche Haus“ – doch aber für die sperrig-“atonale“ Moderne? Und riß mich komplett mit. Was er aus den orchestralen Zwischenmusiken an Energie wie schmerzhafter Schönheit herausholt, ist im Wortsinn unerhört. (So gleichzeitig klangschön intensiv habe ich Berg bislang nur unter Bernstein gehört – in dem berühmten „Andenken eines Engels“, das 1969 Isaac Stern mit den New York Philhamonic eingespielt hat; ein Eindruck, der bis heute in mir nachglüht). – Frau Breth hatte also völlig recht, diese sozusagen Konzertstücke auf keinen Fall bildlich mitinszenieren, sondern vor geschlossenem Vorhang „einfach“ nur erklingen zu lassen. Seit ich das am 18. Dezember gehört habe, bin ich von Thielemanns Wahl als neuem Generalmusikdirektor rundweg überzeugt.
Hinzu kommt, wie genau das grauenvoll enge Bühnenbild auf das beklemmende Geschehen paßt – sogar, als es sich später unversehens weitet. Freilich verlangte da das blutige Eisen seinen Raum: „Wie der Mond rot aufgeht“: Sowas braucht ein Wasser, und sei es bloß das eines Teichs – und der braucht halt die ganze Bühne: Der Mord wie der Mörder verloren, das Elend saugt sie ein.
Ihre aber größte Magie bezieht Andrea Breths Inszenierung aus Martin Zehetgrubers bühnenbildnerischem Amalgam aus imaginärem Raum (in den Engen der Holzstäbe, in die Zimmer und Kammern nicht nur der „armen Menschen“, sondern der Machtpersonen genauso eingeschlossenen sind, auch der zwei besonderen, ich schreibe mal, „Unmenschen“, des Hauptmanns, des Doktors) und einem fast schmerzhaften Realismus, wenn etwa Andres, Wozzecks Kamerad, einen Hasen aus dem Balg schlägt (und dazu singt: „Saßen dort zwei Hasen, / Fraßen ab das grüne Gras“). Das ist gerade in der … lassen Sie mich von der „eigentlichen Feldszene“ sprechen … – ist gerade in ihr eine radikal symbolische Engführung der Seele dieser Oper. Zumal der wirr sprechende Wozzeck
Hohl! Alles hohl! Ein Schlund! Es schwankt! Hörst Du, es wandert was mit uns da unten! Fort, fort!
auf die Johannesapokalypse anspielt:
Ein Feuer! Ein Feuer! Das fährt von der Erde in den Himmel und ein Getös‘ herunter wie Posaunen. Wie’s heranklirrt!
Bei Breth sind die nach dem Bühnenbild des Librettos im Freien zu schneidenden Stöcke
längst zu den Gitterstäben der Raum- und Zimmerwände geworden. Daß die Vorstellung des 18. Dezembers beinahe geplatzt wäre, nämlich eines Warnstreiks der Gewerkschaft Verdi wegen (an einem Opernhaus hat dieser Name nochmal besondre Bedeutung), „liest sich“ d a fast als Versprechen auf Erlösung – weil es eine Gewerkschaft gibt. Zu Wozzecks und zu Büchners Zeiten war an sowas nicht zu denken. Um irgendwie doch durchzukommen, man selbst, die Frau, das Kind, ließ man sich schon mal für Experimente verdingen, etwa für Ernährungsversuche. Von denen in dem wieder einmal ausgezeichneten → Programmbuch Jasmin Ostermeyer erzählt (S. 52 ff).
Wozzeck jedenfalls hat wochenlang Bohnen, Bohnen, Bohnen zu essen; anderes zu sich nehmen darf er nicht. (Bei Büchner sind es Erbsen, die vermutlich für Berg symbolisch wie sanglich nicht stimmten.) Jetzt halluziniert der „arme Kerl“ bereits, hat entsetzlich abgenommen – was den Doktor jubeln und gönnerhaft seiner Versuchsratte – waren es Hasen, die aus dem Balg geschlagen wurden, und nicht doch Versuchskaninchen? – … ihm das Salär erhöhen läßt. Dessen unangetraute Frau rättet derweilen mit ‘nem anderen, einem, sagen wir, gestandenen Mannsbild, herum, was zwar schlimm ausgeht. Doch Wozzeck kommt damit noch weniger klar als mit der ihn zerfressenden Kost. Eigentlich kommt er gar nicht klar. „Ich rieche Blut“ heißt es schon in Akt II, fünfte Szene, 665 – 669.
Was ein Narr, zu Wirtshauses grauslichem Walzergeschunkel, allerzuerst roch: Simon Keenlysides Wozzeck und als Narr im Falsett der mit der Lindenoper längst zusammengewachsene Stephan Rügamer lassen es kurz schon vorherfließen, es steht auf den Stufen des Zwischengangs schon, wir spüren’s sogar an den Händen, zwischen unsern Fingern – wie auch gleich danach Thielemann zum subito al tempo die Daktylen der Töne zum Aufschreien treibt. Und als Wozzeck schlafen danach nicht mehr kann, fängt tückisch die Musik an, in den Bässen zu schnarchen – was hier zum Luftabschnüren wird, es ist ja ein Soldatenort … – „einer nach dem andern“ durchexerziert (Ende von Akt II); schaudernd weht ein Wind, auf dem Mariens Leidlied reitet um „den armen Wurm“, das Kind, von Büchners Zeiten her über die Kälteversuche der Vierzigerjahre bis herauf in unsren Rang.
Anja Kampe weiß ihm ein Gebet als Sang wie Jacob Tougas Gigling (als Bub und bloße Erscheinung) die völlige Verlassenheit zu geben (piano, pianissimo: „Hopp, hopp!““, „Hopp, hopp!“ – verlöschend lautet die Anweisung für die begleitenden Streicher). Dies Endbild jedenfalls, wer je es in dieser Aufführung hört und sieht, wird es nicht mehr vergessen. Weshalb ich noch immer, hier, jetzt am Schreibtisch, nur noch damit schließen kann:
Ach komm doch, komm und wende
dich her zu mir! Ach neig dich nieder
und leg das Dunkel deiner Hände
auf meine kranken Lider
und auf das ganze wehe,
versinkende Gesicht!
Ich glaube, daß ich dich dann sehe.
Jetzt sehe ich dich nicht.
Manfred Hausmann, de profundis

| ____________ ANH, Berlin Dezember 2025 |
Nur noch eine Aufführung in dieser Spielzeit. |
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Musikalische Leitung: Christian Thielemann – Inszenierung: Andrea Breth |
Wozzeck Oper in drei Akten (1925) Musik von Alban Berg Text nach dem Dramenfragment „Woyzeck“ von Georg Büchner |
Simon Keenlyside – Anja Kampe – Andreas Schager – Florian Hoffmann
Wolfgang Ablinger-Sperrhacke – Stephen Milling – Anna Kissjudit Friedrich Hamel
Dionysios Avgerinos – Stephan Rügamer – Staatsopernchor, Kinderchor der Staatsoper
Staatskapelle Berlin
