Arbeitsjournal. Freitag, der 3. November 2006. Bamberg. Berlin.

6.26 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Beethoven, opus 110, Arrau.]
Bis nachts um halb zwei, nachdem ich länger mit der Mutter eines Klassenkameraden meines Jungen hin- und hermailte, >>>> “Once upon a Time in the West“ angeschaut, den ich noch nicht gesehen hatte. Es bleibt nicht viel von dem opulenten Streifen zurück, was a u c h an der Filmmusik liegt, die, abgesehen von dem Todesthema in der Mundharmonika, etwas volkstümelnd bayuvarisches hat, wo sie gefühlvoll sein soll. Man darf Schlichtheit nicht mit Einfachheit verwechseln, das wird mir immer deutlicher; genau das wird aber in der sogenannten Unterhaltungsmusik meist getan. Egal.
Um halb neun werd ich hier aufbrechen und mit dem 9.09er ICE nach Berlin reisen, heimreisen. Während der Fahrt ist für eine Freundin ein Text zu lektorieren, außerdem will ich an der Elften Elegie arbeiten, für die gestern die Entwurfszeilen entstanden; aber es fehlt noch ein Dreh, der ihren Beginn archetypisch genug macht. Alles weist auch hier auf Homer. Gestern kamen die drei bislang erschienenen Kunstbände zu den Äolischen Inseln an, für deren vierten ich über Stromboli schreiben soll: wundervoll gestaltet, feinstes Kunstdruck-Papier, die Vorsatzblätter kalligraphisch in Homers Versen auf Altgriechisch. Was mich sofort an das Geheimnis erinnerte, das aus künstlerisch gestalteten Suren herausatmet. Ja, für diese Buchreihe möchte ich g e r n e schreiben.
Die Bamberger frühen Morgen beginnen jetzt i m m e r mit stupenden Sonnaufgängen. Dann braucht’s einzwei Stunden, und das Wetter wird mies. Aber ’s ist W e t t e r. Ich schau jetzt in die elfte Elegie, dann nach dem >>>> Samhain-Gedicht, für das mir eben grad ein Lösungsweg einfiel; er liegt eigentlich ganz auf der Hand: „Kerze“ verlangt nämlich nach „Schwärze“, und damit wäre mein Problemchen imgrunde gelöst, und zwar ebenfalls: schlicht. Über einen Reim ‚im Volkston’, wie so etwas manchmal in der großen Musik genannt wird; es muß die Magie bekommen, die manche Kinderreime haben.
Noch drei Elegien, dann ist das Bamberg-Projekt, von dem ich noch, als ich hierherkam, gar nichts wußte, bereits in Rohform fertig; „Oh je!“, rief am Telefon gestern der Profi aus, eigenartig betroffen, „dann ist es schon fertig!“ Als wäre das ein Grund, besorgt zu sein. Doch irgend etwas sagt mir, daß diese elfte Elegie, die über Musik, Z e i t braucht und sich n i c h t derart aus dem Handgelenk des Persönlichen herausschreiben läßt.
Und ich spüre die ARGO-Überarbeitung näherrücken; mit dem Ende dieses Koloß-Rohlings habe ich den Bamberger Aufenthalt begonnen, mit der Überarbeitung des Kolosses werde ich ihn enden. Ich mag das: Formklammern im Leben.

Kein Mitstipendiat klopft hier mehr bei mir, schon gar kein Zschorsch. Ich habe des Gefühl, gemieden zu werden. Seit meiner Vergana-Lesung. Und merke, wie meinerseits ich selbst mich in mich zurückziehe. Auch der freundschaftliche, nahe, innige Kontakt zu A. ist, wenn auch wohl aus völlig anderen Gründen, zuendegegangen; sie meldet sich weder mehr, noch ist sie zu erreichen. Ein Herbst also auch der sozialen Beziehungen, in Bamberg, nicht in Berlin. Imgrunde will ich nur noch die Bamberger Elegien fertigbekommen, allein für sie, spüre ich, wird dieses Aufenthaltsstipendium dagewesen sein. Ein Fremdkörper war ich in meinem Leben immer, das ist nichts Neues. Auch wenn ich momentane Phasen habe, in denen ich etwas anderes glaube. Letztlich sind’s wenige, die mir nahkamen und denen, offenbar, ich nahkam. Das meiste ist selbstgewollte Täuschung. Die wenigen aber blieben und bleiben, kaum jemand unter ihnen ging. Selbst über Jahrzehnte, selbst über weite Entfernungen ist das so. Und selbst dann, wenn ich von mir aus Freundschaften vernachlässige. Es braucht dann immer nur ein Wort, und sie leben vollkommen auf. Das ist, ich weiß es, auch ein Privileg.
So, kurz was tun, dann packen.

(Ach ja, die Steuererklärung. Wie ich d a s hinbekomme, weiß ich auch mal wieder nicht. Zwar bekomme ich etwas Einkommensteuer zurück, aber diese vermaledeite Mehrwertsteuer! Ich weiß nicht, woran es liegt… oder doch: ahne es. Es sind die Arbeiten für den Öffentlichen Rundfunk, für die man Umsatzsteuer zahlen muß, ohne daß man sie als Vorsteuer in Rechnung stellen kann. Und die Miete für die Schönhauser Kinderwohnung ist mal wieder nicht pünktlich bezahlt, weil ich auf Überweisungen warte; etwa auf das Ausfallhonorar durch >>>> die Salzburger Festspiele. Ich werd mit meinem Anwalt reden müssen. Und dieser arme >>>> Text! So lange ich das Honorar nicht habe, kann ich ihn nicht anderweitig verwenden. Was schad das ist in diesem Mozartjahr, das Mozart allmählich vergißt.)

9.55 Uhr:
[ICE Bamberg-Berlin.]
Im Thüringer Wald ist der Schnee, der gestern fiel, sogar liegengeblieben. Man schlägt eine Buchseite um, und es ist Winter.

14.22 Uhr:
[Berliner Küchentisch.]
Man muß wirklich alles x-fach kontrollieren! Wie gut drum, daß ich mir, nachdem ich im Zug RH’s kleine Erzählung lektoriert hatte, eine der >>>> gestern hergestellten PETTERSSON-REQUIEM-CDs angehört habe – und einen kardinalen Fehler fand. Aus einem mir völlig schleierhaften Grund hat sich der von mir später neu aufgenommene und in das Stück nachträglich einmontierte >>>> Introitus , der ganz an den Anfang gehört, nicht nur dort sondern auch noch einmal ab etwa Minute 62 einkopiert, wo er nun mit den anderen Tönen einen zwar interessant klingenden Cluster bildet; aber die Dramaturgie des Stückes leidet, der gesamte Aufbau zum Libera me verliert an crescendierender Kraft. Göttinseidank ist erst eine der CDs hinausgeschickt worden; ich habe eben um Entschuldigung gemailt. Die anderen kann ich nun vernichten und neue brennen. Ärgerlich und unnötig mühsam.
Hab mich gerade – nachdem das falsche Stück in der Grundmontage aufgefunden und herausgelöscht war – darangesetzt, die Audiomontage nun noch einmal neu mitzuschneiden und aus der dann entstandenen Aufnahme die CDs neu zu fertigen.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 3. November 2006. Bamberg. Berlin.

  1. fremd bin ich eingezogen … Nirgendwo klingt das Fremdsein so schön wie bei Schubert. Fremd sein im eigenen Leben – am spürbarsten, wenn ich ein paar Tage in einem Leben war, das die anderen als das meine sehen, und ich dann wieder in meine Kammer zurückkehre. Und auch die wenigen, bei denen ein Wort genügt, gibt es.

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