Sonntag, der 18. Juni 2006. Bamberg – Berlin.

5.14 Uhr:
[Schostakovitsch, Präludien & Fugen.]
Kurz nach fünf auf, doch diesmal wohl mehr aus privaten denn literarischen Gründen, die von jenen allerdings profitieren: Bin auf weiterer Jagd nach meinem Parfum, für das ich abermals bei Ebay eine Quelle entdeckt habe; die Versteigerung geht um sechs zuende, und bei so was ist „Musik“ ja immer erst in den letzten zehn bis fünf Minuten. Gibt man zu früh auch mit Limits versehene Bids ein, wird der Preis in die Höhe getrieben. Also ist’s sinnvoll, da gegenwärtig zu sein. Ich leg mir jetzt, um ihn im Kühlschrank lichtdicht zu verwahren, einen kleinen Vorrat an: da das Parfum nicht mehr hergestellt wird und nur noch auf genanntem Weg oder aber schweineteuer zu bekommen ist, und aus dem außereuropäischen Ausland sowieso nur. Dabei haben einerseits paar Händler, andererseits die wenigen Männer ihre Hand im Spiel, die weltweit das Parfum so tragen. Wer was ist, läßt sich ganz gut daran merken, was die Mitbieter sonst noch so ersteigert haben. Das wär bestimmt ein hübsches Projekt, die tatsächlichen männlichen Patou-Träger mal auf einen Wein und/oder, es könnten ja auch Moslems sein, einen Kaffee zusammenzubekommen. Haben die – haben wir – etwas Gemeinsames? Ist übrigens eine hübsche Erzählidee.
Sie werden nicht glauben, was ich j e t z t tat: Weil ich zu faul bin aufzustehen und Papiertaschentücher aus dem Schrank zu holen, zerschnipple ich Mitropa/DB-Servietten. Es ist morgenkühl, immer noch; als ich erwachte, deckte ich meinen Jungen, der, weil sich oben abends die Wärme so staut, wie ich nur unter dem Bettbezug schläft, mit der unbezogenen Bettdecke zu: denn die Kühle zieht im Laufe der Nacht dann doch auch hinauf. Jetzt, mir genau gegenüber, geht die Sonne über zwei aneinandergebauten Barockhäusern auf, dringt durch den Wipfel eines hinter ihnen stehenden Baums; noch vor anderthalb Monaten ist sie deutlich weiter rechts aufgegangen. Es wird ein heißer Tag werden, vorabends jagten die Schwalben sehr hoch. Und mein „n“ macht sich wieder mal selbständig, durchschießt die Wörter, plötzlich jagt es eigenwillig los und will die ganze Seite bedecken. Dann muß ich einmal drauftippen, und es stoppt; markieren sodann, löschen sodann. Ein paar Sätze Ruhe. Abermals.
Keine Frage, übrigens, mit diesem Gedanken schlief ich ein, daß >>>> das mit >>>> dem zusammenhängt. Ich bin da auf einer Spur. Auch wenn der Profi sie für „ein Konstrukt“ hält. Ich habe beim „dem“ noch einmal die Kommentare nachgelesen und über den letzten nachgedacht, der völlig übersieht, daß es um „Nabelschau“ nicht geht, sondern darum, die Prozesse zu begreifen, denen man unterworfen ist, damit sie sich nicht wiederholen – oder, wenn das schon unausweichlich zu sein scheint, damit ihre Konsequenzen zumindest abgefedert werden können, und zwar g e r a d e für das Kind. Die praktische Schroffheit, die die Kommentatorin an den Tag legt und moralisch verbrämt, hat s o den Geschmack pragmatischer Abwehr. Auch wenn sie sich als elterngerechte Entscheidung tarnt.
(Selbstverständlich bin ich mir klar darüber, welches “Ei” ich mir j e t z t wieder ins Nest lege, wenn ich doch an jemanden sehr denke, die das hier lesen wird und dann merkt, wie und was in mir alles gärt; aber ich will dennoch klar bleiben, offen und eben n i c h t strategisch sein. Sondern mir auch von meinen eigenen Bedürfnissen nicht vorschreiben lassen, was ich öffentlich denken darf. Also eben n i c h t – im bürgerlichen Sinn – “klug” sein. Dabei sind die Zwangsmechanismen stark; tatsächlich habe ich gestern kurz darüber nachgedacht, ob ich nicht besser eine Zeit lang die Klappe halte. Mach ich aber nicht. Schon aus Stolz. Und weil es letztlich um meine Arbeit geht, um Arbeitsethos. Und persönliche Offenheit. Die Ambivalenzen austragen, nicht sie unterdrücken.)

Um 15.09 Uhr geht’s nach Berlin zurück; ich werde den morgigen Tag dort verbringen, allerlei Zeug dort erledigen und abends die Freunde treffen. Es muß vor allem geklärt werden, wie meines Jungen Mama und ich es während der in drei Wochen anstehenden Sommerferien halten. Also ist noch ein Brief zu schreiben, da das Telefon ja nie abgenommen wird.

Gleich geht’s an ARGO.

6.02 Uhr:
Ah, schade, hab das Parfum n i c h t bekommen. Plötzlich schossen die Gebote in die Höhe; da wurde es mir zuviel. Es ging an einen, na klar, Händler. Egal.

8.21 Uhr:

Er hat heut einen solchen Schlaf!
(Ich arbeite – und ziemlich gut. Es gibt imgrunde keine freien Tag. Das ist der Beruf. Stets hat das Δ verletzt.)

10.30 Uhr:
[Händel, Rinaldo.]

Sohn & Vater.
11.28 Uhr:
[Mein Junge spielt mit der Nachbarstipendiatin Fußball. Es ist einfach großartig, wie selbständig dieser Sechsjährige ist – und wie schnell er Herzen einnimmt. Manchmal genügt ein Lächeln. Und immer geht er auf Menschen z u.]
Was >>>> diese nun nach über einem Jahr weitergeführte Diskussion anbelangt (und d a schon lag der erste Eintrag bereits ein Jahr zurück), an die ich beim Rasieren und unter der Dusche weiterdachte, so ist es jedenfalls unendlich beruhigend, daß, was ich seinerzeit schrieb, zwar möglicherweise wahr sein mag, daß aber die knapp sechseinhalb Jahre mit meinem Jungen haben unterdessen eine ganz andere Verbindung wachsen lassen: sie ist gemischt aus der ursprünglichen Frauen-Liebe und einer Kindesliebe, die inhaltlich verankert ist: im Staunen, im gemeinsamen Lachen, in gemeinsamer Arbeit, in einer, übrigens wechselseitig empfundenen, Verantwortung. Etwa sagt der Junge gestern, etwa zwei Stunden, nachdem er, weil ich auf eine versehentliche Bemerkung nachgefragt hatte, spürbar ungern von dem ‚Anderen’ erzählt hat: „Du bist so still, Papa. Das ist nicht gut.“ Können Sie ermessen, wie ich ihn für so etwas bewundere? Was dieses Kind schon t r ä g t! Und daß er das mit ebender Lebensglut tut, die ich mir erst erschrieben habe… daß er diese Grundsicherheit hat! Man könnte gläubig werden (-„was war Ihre erste Bemerkung mit Gott?“ wurde ich schriftlich vor dem Kirchentag gefragt, und ich antwortete: „Daß ich im Mund einer Frau kam, und daß sie es so unfaßbar genoß“-).

22.47 Uhr:
[Berlin, Kinderwohnung. Küchentisch.]
Das war eben ein – hier trifft das Wort – gutes Gespräch mit einer Frau. Sie wollen Näheres wissen? Nö. Heute mal: Nö.

Der Junge schläft, meine Haut brennt vor Sonne; auf Adrians Hochbett, in dem ja auch ich, neben ihm, schlafe, steht die Hitze wie über dem Bamberger Bett. Der Bursche hat mein Naturell geerbt und genießt’s. Bis 21 Uhr war er auf, bis etwa 21.45 Uhr las ich vor. Da er dann immer noch nicht schlief, sagte ich: „komme gleich wieder“, gab ihm einen Kuß, kletterte hinunter, stöpselte in der Küche den Laptop ein, wartete fünf Minuten, ging nachschauen: Da war der Lausbub bereits hinweggetreten.
Während der Zugfahrt, einmal, ich war eingenickt, er hatte mit einem Mädel gespielt, berührt er plötzlich meine Hand, ich seh auf, er sagt: Ich liebe dich, Papa. Unfaßbar.
Ich mach hier jetzt nicht mehr viel, trinke mein Bier, surfe etwas herum, schreibe mein DTs… ah ja, vorhin merkte ich: Ich b i n ja schon so gut wie am Ende mit ARGO und weiß gar nicht, ob überhaupt noch einer der Erzählstränge zu schließen ist. Das hat mich heute morgen verdutzt. Keinen showdown? fragte ich mich. Und es scheint so zu sein… wenn ich einmal vom fünften Teil absehe, der ja noch in Gänze zu schreiben ist. Aber jetzt, nach Lage der Dinge, könnte es sogar September und nicht erst Oktober werden, daß die Rohfassung abgeschlossen sein wird. Dann wäre die Entstehung dieses Romans zur Gänze in Der Dschungel mitprotokolliert worden. Was ein Erfolg z u d e m ist.
(Selbstverständlich: Die Kärrnerarbeit geht dann los:: an die 200 Fußnoten und 500 Notate sind nachträglich in die zu erstellende Erste Fassung einzubauen, bzw. ist nach ihnen der Text noch zu revidieren, bevor dann die Zweite Fassung entsteht. Aber das ist dann imgrunde nur noch Fleiß und vielleicht ein klitzekleines bißchen Talent, mehr nicht. Gut, sehen wir dann.)

Nacht, Leser.